Henning Mankell, Erinnerung an einen schmutzigen Engel

  • Henning Mankell, Erinnerung an einen schmutzigen Engel, Der Hörverlag 2012, ISBN 978-3-86717-925-6

    Manchmal ist es nur ein kleiner Hinweis, eine Nebenbemerkung, eine flüchtige Beobachtung, die einen Schriftsteller zu seinem nächsten Romanstoff führt. Bei Henning Mankell war es ein Hinweis seines Schriftstellerkollegen und Afrikafreunds Tor Sällström. Er sei in dem alten kolonialen Archiv von Maputo auf bemerkenswerte Dokumente gestoßen, denen er entnommen habe, dass Ende des 19. Jahrhunderts eine Schwedin Besitzerin eines der größten Bordelle der Stadt gewesen sei, die damals noch Lourenco Marques hieß. Sie fand in den Dokumenten Erwähnung, weil die über mehrere Jahre eine bedeutende Steuerzahlerin gewesen ist. Sie sei ebenso plötzlich dort aufgetaucht, wie sie einige Jahre später wieder spurlos verschwunden sie. „Wer war Sie? Woher kam Sie?“ Diesen Fragen ist Henning Mankell weiter gefolgt, hat aber nur wenig mehr herausgefunden, als das, was in den Dokumenten stand. „Meine Geschichte gründet sich also auf das wenige, was wir wissen, und all das, was wir nicht wissen.“

    Und so erzählt er die Geschichte von Hanna Renström, die als älteste von fünf Geschwistern nach dem Tod ihres Vaters ihr Elternhaus in Nordschweden verlässt, weil die Mutter nicht mehr alle allein ernähren kann. Dieser Vater hatte Hanna mit einer Stimme, die gegen Ende seines Lebens nur noch ein Flüstern war, liebevoll einen „schmutzigen Engel“ genannt, Worte, die sie lange begleiten und an die sie sich in der Folgezeit immer wieder erinnern wird.

    Das Buch erzählt nun, wie sich Hanna durchsetzt in einer Gesellschaft, die von Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. Es erzählt davon, wie sie konfrontiert wird, mit einer bespiellosen Unterdrückung der Schwarzen durch die weißen Herren. Wie sie ganz langsam ein Bewusstsein gewinnt von dieser Ungerechtigkeit und auch öffentlich dazu Stellung nimmt.
    In ihrem Einsatz für eine schwarze Frau, die sie kennengelernt hat, begegnet sie eines Tages deren Bruder Moses. Zu ihm entwickelt sie eine zarte Liebesgeschichte, deren Ausgang offen bleibt. Offen bleibt auch, ob das ersehnte, aber eigentlich unmögliche gemeinsame Leben mit Moses der Grund ist für ihr spurloses Verschwinden. Es ist wohl vor allem die Begegnung mit Moses, die langsam eine tiefe Erkenntnis in ihr wachsen lässt:
    „Ich lebe in einer Welt, in der die Weißen ihre Kräfte dabei vergeuden, sich selbst und die Schwarzen zu betrügen, dachte sie. Sie glauben, die schwarzen Menschen hier würden ohne ihre Anwesenheit nicht zurechtkommen und ihr Leben sei weniger wert, weil sie glauben, dass Steine und Bäume Geister beherbergen. Aber die Schwarzen ihrerseits verstehen nicht, wie man einen Sohn Gottes so schlecht behandeln kann, dass man ihn an ein Kreuz nagelt. Sie wundern sich über die Weißen, die hierher kommen und es so eilig haben, dass sie bald der Herzschlag trifft, weil sie die Jagd auf Reichtum und Macht nicht verkraften. Die Weißen lieben das Leben nicht. Sie lieben die Zeit, von der sie immer zu wenig haben.“

    Ich halte diese Reflexionen Hannas für das Zentrum eines Buches, mit dem Henning Mankell nicht nur seinem beeindruckenden Werk einen weiteren Afrikaroman hinzufügt, sondern mit der dem auch in der Gestalt Hannas ein wichtiges Porträt zeichnet einer Frau, die ihrer Zeit weit voraus war.

    Obwohl es ein historischer Roman ist, ist seine Botschaft sehr aktuell. Er beschreibt sehr überzeugend das Verhältnis von Unterdrückern und Unterdrückten als eines von gegenseitiger Angst, die sie beide wie in einem Käfig gefangen hält. Und er zeigt auch hoffnungsvolle Wege, wie die unüberwindlich geglaubten Barrieren zwischen „Uns und den Anderen“ überwunden werden können.

    Aus einer kleinen Notiz in einem historischen Dokument hat Henning Mankell einen großen Roman gemacht, der erzählt von einem ungewöhnlichen Frauenschicksal und den nach wie vor ungelösten Fragen von rassistischer Unterdrückung und menschenfeindlicher Ungerechtigkeit.

    Die hier vorliegende gekürzte Lesung des Schauspielers Axel Milberg wird mit Sicherheit wieder zur großen Zufriedenheit Mankells ausfallen, der am liebsten alle seine Bücher von Milberg gelesen haben möchte.

    Milberg gelingt es ganz hervorragend, den Hintergrund des Romas lebendig werden zu lassen. Er hat schon in anderen Einspielungen ein sehr feines Gespür bewiesen für die subtile Dramatik Henning Mankells. Auch hier gelingt es wieder, die Spannung hochzuhalten bis zum Ende.

    Die Kürzungen sind maßvoll und gelungen und reduzieren nicht das Buch, sondern sie konzentrieren es.


  • Damit es nicht untergeht, hier der Link zu einem Interview mit dem Autor über sein neues Buch (unter 6.8.12 zu finden).

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


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