Achtundsechzig Jahre ist er alt, der Protagonist in Sten Nadolnys neuem Roman, auf den seine Leser viele Jahre warten mussten, Genauso alt wie Nadolny in dem Jahr war, als er dieses Buch schrieb. Ob darin auch persönliche Erfahrungen mit eingeflossen sind, weiß ich nicht. Ich vermute es aber.
Es wird auch für ihn von großem Reiz gewesen sein, zusammen mit seiner Hauptfigur auf eine Zeitreise zu gehen. Denn diesen zuletzt von mir bei Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“ genossenen literarischen Topos ergreift Nadolny, um seine Hauptfigur sein Leben Revue passieren zu lassen.
Wilhelm Weitling ist Richter a.D. und lebt in Berlin. Der Chiemsee war für ihn (so wie für Nadolny) sein ganzes Leben ein gern besuchter Ort, wo er auch in seinem Ruhestand sich oft aufhält. Als er eines Tages trotz deutlicher Zeichen, die auf ein Unwetter hindeuten, mit einem kleinen, auf dem Chiemsee häufig genutzten Boot hinausfährt, gerät er in einen Sturm und kommt nicht mehr rechtzeitig ans Ufer zurück. Er verunglückt schwer, wird aber gerettet. Doch in genau diesem Moment sieht er sich 50 Jahre in seinem Leben zurückversetzt, als der jugendliche Willy mit einem ähnlichen Boot einen ähnlichen Unfall hatte.
Nach dem ersten Schock über diese von seinem Großvater so genannte „Sommerfrische“ ( der hatte in seiner Jugend einmal ähnliches erlebt) begleitet der pensionierte Richter sein jugendliches Alter Ego auf den weiteren Stationen seines Lebens. Neugierig staunt er, aber er versucht auch immer wieder, ohne ihn jemals wirklich zu erreichen, ihn scharf zu kritisieren.
Und immer klarer stellt sich ihm die Frage: wer war er damals? Wie ist aus ihm der pensionierte Richter geworden, der er heute ist? Ist er das überhaupt, oder hat er nicht ein ganz anderes Leben geführt? Wird er jemals zu seiner alten Existenz zurückfinden, seine Frau wieder treffen?
Und was geschieht mit seinem Glauben, zu dem er zuletzt zurückgefunden hatte?
Es ist eine wunderbare und sprachlich perfekte philosophische Lebensreise, voller literarischer, kulturhistorischer und theologischer Anspielungen. Ein Buch über die Bedeutung von Erinnerung und darüber, wie wir uns bis ins Alter mit unserer jeweiligen Geschichte immer wieder neu erfinden (müssen).
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Buchdetails
Titel: Weitlings Sommerfrische
Sten Nadolny (Autor)
Verlag: Piper Taschenbuch
Format: Taschenbuch
Seitenzahl: 224
ISBN: 9783492303071
Termin: Mai 2013
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