Jessica Durlacher, Der Sohn

  • In ihrem jüngsten Roman bewegt sich die Schriftstellerin Jessica Durlacher zwischen verschiedenen Genres. Zum einen geht es um die Aufarbeitung auch eigener Familiengeschichte, den Holocaust, das Überleben und den Zweiten Weltkrieg. Eingebettet hat sie die Handlung in eine Familiengeschichte, die sich zu einer Tragödie auszuweiten droht. Und das alles erzählt sie wie ein Thriller, durch den man, von Seite zu Seite mehr, atemlos sich hindurch liest bis zu einem zwar schon vorher geahnten, dann aber doch völlig überraschenden Ende, in dem die Opfer keine Opfer mehr bleiben.


    Ihre Hauptfigur Sara Silverstein ist vom Schicksal gebeutelt. Zunächst verliert sie ihren geliebten Vater, der der Schutz und Schirm der ganzen Familie war. Kurz nach dessen Tod wird sie beim Joggen von einem Mann angegriffen und entgeht nur knapp einer Vergewaltigung. Und nur kurze Zeit später stehen eines Tages mitten in der Nacht maskierte Einbrecher mit ihrer 13-jährigen Tochter in ihrem Schlafzimmer. Und dann kommt noch dazu, dass sich Mitch, Saras Sohn, unbedingt zu den Marines, einer Elite-Einheit der US-Army melden will und dies auch gut begründen kann.


    Voller Unheil kommt das zu Beginn des Buches daher. Sara fühlt sich und ihre Familie bedroht. Der Schutz des Vaters ist weg, aber seine Vergangenheit noch anwesend. Wie hängen all diese Geschehnisse zusammen? Und was hat die Entscheidung von Mitch mit der Vergangenheit seines Großvaters zu tun?
    In einem Interview sagt Jessica Durlacher: „Worum es mir in ‚Der Sohn’ ging, das ist dieses Gefühl der Ohnmacht, wenn einem etwas Schreckliches zustößt und man seine Rachegefühle an andere delegieren muss. Wie kanalisiert man seine Wut? Saras Familie – ihr Vater hat das Konzentrationslager überlebt- ist viel Schreckliches widerfahren. Als sie herausfindet, was ihrer Tochter angetan wurde, ist das Maß voll. Zuviel ist zuviel und genug ist genug. Die andere Wange hinzuhalten kommt nicht in Frage, wenn dem eigenen Kind etwas angetan wird – und wenn man einen Sohn hat , der sich vorgenommen hat, die Welt zu beschützen.“


    Nach wie vor ist auch im neuen Buch Jessica Durlachers der Zweite Weltkrieg ein unterschwelliger Dreh- und Angelpunkt ihrer schriftstellerischen Existenz. Zwar wusste sie schon früh, dass ihr Vater in Auschwitz gewesen war, dessen Eltern dort umgekommen waren, aber erst als der Vater in hohem Alter von diesen Erfahrungen in Büchern zu berichten begann, kam er ihr näher.


    Der Vater Saras hat mit dem Vater Durlachers einiges gemeinsam. Und doch versucht sie dessen Erfahrungen des Kriegs zu verstehen, indem sie von Ereignissen erzählt, die die Menschen aus ihrem Alltag kennen. Im eigenen Haus überfallen zu werden, oder mitten in der Nacht von der Gestapo abgeholt zu werden – die Folgen für die Psyche der Menschen sind ähnlich, sagt sie.


    Und dem geht sie nach in einem spannenden Buch, das einen nicht loslässt, und in dem die Menschen, die zu Opfern gemacht wurden, den Spieß umdrehen. Ein mitreißender Roman über die Schrecken des Krieges und über die Angst, die Menschen zu verlieren, die man am meisten liebt.

  • Den Roman habe ich vor kurzem gelesen; es ist spannend und flüssig geschrieben - aber: je länger ich über den Roman nachgedacht habe, umso fragwürdiger empfand ich diesen.
    Er behandelt Themen wie Rache, Ohnmacht, Vergeltung, Selbstjustiz - vielleicht zu "große" ( und auch zuviele?) Themen für einen "einfachen" Unterhaltungsroman, der sich dann noch in einen Krimi verwandelt.


    Zitat

    von Winfried Stanzick:
    In einem Interview sagt Jessica Durlacher: „Worum es mir in ‚Der Sohn’ ging, das ist dieses Gefühl der Ohnmacht, wenn einem etwas Schreckliches zustößt und man seine Rachegefühle an andere delegieren muss. Wie kanalisiert man seine Wut? Saras Familie – ihr Vater hat das Konzentrationslager überlebt- ist viel Schreckliches widerfahren. Als sie herausfindet, was ihrer Tochter angetan wurde, ist das Maß voll. Zuviel ist zuviel und genug ist genug. Die andere Wange hinzuhalten kommt nicht in Frage, wenn dem eigenen Kind etwas angetan wird – und wenn man einen Sohn hat , der sich vorgenommen hat, die Welt zu beschützen.“


    Für mich liest sich der Roman so, dass Durlacher die Selbstjustiz befürwortet - und Selbstjustiz sollte keine Option sein; da muss es andere Wege geben, zum Beispiel über die Justiz. In einem modernen Rechtssystem passen Blutrache und Selbstjustiz, zumal ungestraft, nicht.
    In diesem Interview heißt es:

    Zitat

    Welt Online : Der Sohn der Erzählerin ist ein Held, weil er eine alte historische Rechnung begleicht, also Rache nimmt.
    Durlacher : Ich würde eher sagen, er hilft der Gerechtigkeit zum Sieg, wenn auch mit einer gewissen Verspätung.


    Im Deutschen heißt der Roman "Der Sohn", im Holländischen jedoch "Der Held", nachzulesen im o.g. Interview.


    Als unglaubwürdig erweist sich m. E. die Entwicklung von Saras Verhalten gegenüber Mitch's Beitritt zu den Marines - am Ende völlig entgegengesetzt gegenüber dem anfänglichen Denken.
    Ich muss zugeben, dass ich mich doch etwas über den Roman geärgert habe, je mehr ich darüber nachgedacht habe.

  • Für mich liest sich der Roman so, dass Durlacher die Selbstjustiz befürwortet - und Selbstjustiz sollte keine Option sein; da muss es andere Wege geben, zum Beispiel über die Justiz. In einem modernen Rechtssystem passen Blutrache und Selbstjustiz, zumal ungestraft, nicht.

    Zugegebenermaßen hatte mich bereits vorher der Roman nicht sonderlich angesprochen, aber ich bedanke mich mal für diese Meinung, denn ich selbst habe auch immer so meine Probleme, wenn es um Selbstjustiz geht. So weiß ich jetzt wenigstens, dass das Buch definitiv nichts für mich sein wird.


    Im Deutschen heißt der Roman "Der Sohn", im Holländischen jedoch "Der Held", nachzulesen im o.g. Interview.

    Hm, muss man sich jetzt fragen, warum im Deutschen das Buch nicht "Der Held" heißt? :-k Weil man sich in unserem Land empören würde, wenn ein Buch , das Selbstjustiz zum Inhalt hat, auch noch einen praktisch glorifizierenden Titel trüge?
    Warum geht dann im Holländischen dieser Titel ohne Probleme durch? Interessanter Aspekt ...

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Ich habe das Buch gerade eben gelesen. Es liest sich flüssig, fesselnd und spannend, beginnt als Familienroman und wird dann immer mehr zum Krimi.
    Conors heftige Reaktion hat mich sehr nachdenklich gemacht. Selbstjustiz ist in einem modernen Rechtsstaat tatsächlich nicht möglich. Wir würden im Chaos versinken. Dennoch ist bei mir die Angst und Ohnmacht so intensiv angekommen, das "Tier", wie Sara den Angreifer nennt, so brutal und boshaft dargestellt, dass sich bei mir auch Sympathie und Duldung einschleichen. In Gedanken wohlgemerkt, denn um zur Waffe zu greifen, gehört enorm viel Mut und Überwindung wie man bei Sara sehen kann. Ich befinde mich somit in einem Zwiespalt. Wie reagiert man, wenn die eigene Familie so massiv bedroht wird?
    Zumindest würde ich der Polizei jegliche Unterstützung geben. Sara und ihre Familie dagegen behalten manches für sich, teils um die anderen zu schonen, teils aus Scham.


    Hm, muss man sich jetzt fragen, warum im Deutschen das Buch nicht "Der Held" heißt? Weil man sich in unserem Land empören würde, wenn ein Buch , das Selbstjustiz zum Inhalt hat, auch noch einen praktisch glorifizierenden Titel trüge?
    Warum geht dann im Holländischen dieser Titel ohne Probleme durch? Interessanter Aspekt ...


    Also in der Regel machen sich Verlage wenig Gedanken um den Titel, wie ich jetzt schon öfters feststellen mußte. Doch bei diesem Buch steckt mit Sicherheit Vorsicht und Kalkül dahinter. "Held" wäre provozierend gewesen. Warum akzeptieren das die Holländer? Da kann ich nur spekulieren, eine exakte Antwort weiß ich nicht.
    Eines sei aber klar gestellt, der Sohn ist kein Held. Und eigentlich bin ich der Meinung, dass man für seine Taten einstehen muß.
    "Der Sohn" ist auf jeden Fall ein Buch, das unterhält, über das man aber auch streiten und diskutieren kann. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.