Annie Ernaux – Das andere Mädchen / L'autre fille

  • Kurzmeinung

    Marie
    Leben, weil eine andere - die Schwester - starb. Wie lässt sich damit leben?
  • Kurzmeinung

    Marie
    Leben, weil eine andere - die Schwester - starb. Wie lässt sich damit leben?
  • Original : Französisch, 2011


    INHALT :
    Eines Sonntagnachmittages erfährt die zehnjährige Annie beim zufälligen Aufschnappen eines Gespräches, dass sie nicht Einzelkind ist. Vor ihrer Geburt verloren ihre Eltern eine erste Tochter durch die Diphterie, die in den 30iger Jahren wütete. Niemals mehr danach wird sie auch nur ein einziges Wort über diese ihre unbekannte Schwester hören, von der die nur eine schlechte Kopie zu sein scheint. Plötzlich erscheint ihre Rolle in der Familie in ganz anderem Licht. Rolle und Familiengeheimnis, über die sie nie wird sprechen können mit ihren eigenen Eltern.


    60 Jahre später erlaubt es dieser an ihre Schwester gerichtete Brief sich an ihre Vorgängerin zu erinnern und sogar die Ursprünge ihrer Berufung als Schriftstellerin dort auszumachen.


    BEMERKUNGEN :
    Das ist schon harter Tobak : mit zehn Jahren beiläufig zu erlauschen, dass es da eine Schwester vor der eigenen Geburt gab. Mehr noch : diese wäre die « nettere und fromme » gewesen, gestorben in purer Selbsthingabe – so die kindliche Vorstellung – wie die kleine Therese von Lisieux, deren Bild so offensichtlich im Wohnzimmer thront und die große, kleine Heilige Frankreichs ist. Wie kann das nicht das eigene Bild erschüttern und, in Erweiterung dessen, auch die Wahrnehmung der Eltern ? Diese werden bis zu ihrem Tode, Jahrzehnte später, nie vor Annie erwähnen, dass es vor ihr also Ginette gab.


    Verdankt man also sein eigenes Leben hier dem Tode einer anderen, nahezu Unbekannten?


    Dieser Brief an die tote, ältere Schwester erschien in Frankreich in einer Reihe von Werken unter dem Titel : Welchen Brief haben Sie nie geschrieben und abgesandt ? Steht für die nun an die siebzigjährige Annie Ernaux alles schon seit Jahren fest, oder erlaubte es ihr dieses Projekt, einem Familiengeheimnis nachzugehen und sich selbst dabei auf die Spur zu kommen ?


    Fast distanziert, aber dennoch nicht ohne innere Wucht, dabei präzise, erzählt die Autorin nicht nur ein Kapitel aus einer fernen Vergangenheit, sondern auch etwas Formendes, ein Urerlebnis in der eigenen Entwicklung. Diese wollte oft gerne Auflehnung und Provokation sein angesichts der Ungeheuerlichkeit einer solchen elterlichen Unterlassung. Doch letztlich erkennt Ernaux in diesem Drama auch einen/den Auslöser für das eigene Schreiben. In diesen Seiten arbeitet sie sichtlich an sich und kommt nach und nach den eigenen Wunden, aber auch denen der Eltern, auf die Spur.


    Ein kleines Werk von 77 Seiten, das eventuell auch auf Französisch zugänglich sein könnte. Gerade erst erschienen mag es vielleicht noch den Weg zu einer deutschen Fassung einschlagen ?


    Beeindruckend !


    (Ich zögerte, das Buch unter "Biographie" einzuordnen. Doch die Briefform und das Ausschnittartige lassen mich anders wählen.)


    AUTORIN :
    Annie Ernaux, geborene Duchesne im September 1940 in Lillebonne/Normandie, ist eine französische Schriftstellerin und ursprünglich Lehrerin von Beruf. Sie verbringt ihre Jugend in einem bescheidenen Milieu in Yvetot/Normandie. Ihre Eltern waren zunächst Arbeiter, dann Ladenbesitzer. Annie Ernaux studiert in Rouen und unterrichtete später in Annecy und Pontoise. 1974 wird ein erstes Werk von ihr veröffentlicht. Es folgen über die Jahre viele Werke, die schnell insbesondere autobiographisches Material verarbeiten, wie z.B. Ihre Kindheit im Café und Laden ihrer Eltern, ein Brief an ihre verstorbene Schwester, ihre Ehe, ihre Sexualität, die Alzheimererkrankung ihrer Mutter, eine Abtreibung etc...


    Sie erhielt für verschiedene Werke Preise wie den Renaudot (1984), den Preis Marguerite Duras und François Mauriac (2008) ua.


    Quelle und mehr: http://fr.wikipedia.org/wiki/Annie_Ernaux


    Hier : http://www.amazon.de/s/ref=ntt…field-author=Annie+Ernaux einige ihrer auf Deutsch erschiennen Werke.



    Broché: 77 pages

  • Auch hier prompte Reaktion des Verlages, denn das Buch kommt schon Anfang der Woche raus! Bitte an einen Moderator, Squirrel , K.-G. Beck-Ewe , auch hier den Fredtitel zu erweitern! Danke!


    Ein Sonntag im August 1950, die kleine Annie spielt draußen im Garten, ihre Mutter steht am Zaun und plaudert mit der Nachbarin. Eine folgenreiche Plauderei, denn so erfährt Annie, dass ihre Eltern vor ihrer Geburt bereits eine Tochter hatten, die sechsjährig an Diphtherie gestorben war. Über diese Schwester wird Annie von ihren Eltern niemals wieder ein Wort hören und sie wird ihrerseits niemals nach der Verstorbenen fragen.

    Doch auch dieses dauerhafte Beschweigen formt eine Geschichte und verleiht der toten Schwester – dem anderen Mädchen – eine Gestalt. Und es prägt Annies Persönlichkeit und Charakter, die Identität der Nachgeborenen.

    Vier oder fünf Fotografien, das Grabmal, einige wenige Gegenstände, ein paar Murmeln – darüber versucht Annie Ernaux Jahrzehnte später dem Leben ihrer ungekannten Schwester schreibend auf die Spur zu kommen.


    Annie Ernaux hat einen Brief an ihre Schwester geschrieben, die sie nicht hat kennenlernen können – einen Brief von überwältigender Klarheit und zarter Traurigkeit, über Trennendes und Gemeinsames, über Kindheit und Geschichte und über Schicksalsschläge, die eine Familie auf immer verändern.

    (Produktbeschreibung bei amaz.)

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Annie Ernaux – L'autre fille“ zu „Annie Ernaux – Das andere Mädchen / L'autre fille“ geändert.
  • Auf Vorschlag von tom leo aus dem 4,5-Sterne-Thread hier eingefügt!


    Annie Ernaux schreibt einen Brief an ihre Schwester, deren Tod - sie starb mit nur 6 Jahren an Diphtherie, vor der Geburt der Autorin - in der Familie verschwiegen wird und von dem die Autorin eher durch Zufall erfährt. Und ihn dann auch verschweigt und tabuisiert.

    Mir hat es gefallen, wie sich Annie Ernaux an diese familiäre Leerstelle annähert. Und wie sie erkennt, dass sie nur geboren wurde, weil ihre Schwester quasi den Platz freigemacht hatte; ohne den Tod der Schwester hätte es keine Annie gegeben. Die tote Schwester scheint auch ein sanfteres, fügsameres Naturell gehabt zu haben, weil die Mutter erwähnt, sie sei lieber gewesen als "die da". Dieses abfällige "die da", mit dem die Autorin gemeint ist, könnte zu Neid, Eifersucht, Hass und dergleichen führen, aber Annie Ernaux geht überaus reflektiert an diese Zurücksetzung heran und versucht nachzufühlen, wieso die Eltern den Tod der Schwester ihr Leben lang tabuisieren. Annie Ernaux selber leitet aus für sich aus dem Tod der Schwester eine Verpflichtung ab: zu schreiben.

    Ein interessantes kleines Buch.

    Für die paar Seiten aber entschieden zu teuer.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Als Annie zehn Jahre alt ist, erfährt sie durch eine beiläufige Bemerkung, die ihre Mutter zur Nachbarin macht, dass sie nicht die einzige Tochter ihrer Eltern ist. Vor ihrer Geburt gab es bereits eine andere Tochter, die an Diphterie gestorben ist. Über dieses Mädchen verlieren die Eltern in ihrer Gegenwart jedoch nie ein Wort. Für Annie ist es so, als ob es das andere Mädchen nie gegeben hat.


    Trotzdem war sie da und hat auch Spuren hinterlassen. wenn auch wenige. Ein paar Fotografien, einige Dinge und ein Grab, mehr sind ihr nicht von der unbekannten Schwester geblieben. Annie Ernaux entschließt sich, einen Brief an die unbekannte Schwester zu schreiben und ihr von dem Leben zu erzählen, dass sie selbst führt und das die andere nie gehabt hat.


    Wie muss man sich fühlen, wenn man so ein Geheimnis entdeckt und niemanden hat, mit dem man darüber sprechen kann oder wagt, darüber zu sprechen? Der Brief ist voller Zuneigung an die Tote, der sie erzählt, wie das Leben ohne sie weitergegangen ist. Wie sich plötzlich Dinge ineinandergefügt haben, als sie erfahren hat, dass sie eine ältere Schwester hat.


    Mit den Eltern hat sie nie über ihre Schwester gesprochen. So hat sie nie erfahren, ob sie nur ein Ersatz für die Tote war. Wie geht man mit der Bemerkung der Mutter um, dass die andere "viel lieber als die da"? Fühlt man sich zurückgesetzt oder versteht man nun, warum sich die Eltern auf eine bestimmte Art einem gegenüber verhalten haben? Diese Fragen kann ihr niemand beantworten, am wenigsten die tote Schwester. Trotzdem erzählt sie ihr alles, was sie bedrückt hat, vielleicht gerade, weil sie keine Antwort bekommen wird. Oder vielleicht auch, weil sie wider besseres Wissen auf eine Antwort hofft.


    Ein Buch, das nachdenklich macht. Aber auch ein Buch, das mich nach dem Lesen noch lange beschäftigt hat.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Die Autorin steht schon lange auf meiner Liste noch zu entdeckender Schriftsteller.

    Ich habe vor zwei Jahren von ihr "Das Ereignis" gelesen. Das Buch hatte mich sehr beeindruckt und der Nobelpreis hat mir die Autorin wieder in Erinnerung gerufen. Sie erzählt keine einfachen Geschichten, aber ich kann sie dir nur ans Herz legen.

  • Über die Existenz einer älteren Schwester, hat Annie als zehnjähriges Mädchen durch einen Zufall erfahren, da sie ungewollt Ihre Mutter beim Plaudern mit der Nachbarin, belauscht hat. Was das Mädchen zu hören bekommt, hinterlässt bei einem Kind unweigerlich ein Trauma. Das verstorbene Kind sei der Mutters Meinung nach, besser als dieses gewesen "Sie (die Anni) ist nicht so lieb wie sie..." Was resultiert aus so einem unbedacht gesagtem Satz für ein junges Mädchen? Wie etwickelt es sich in Angesicht der harten Worte, die ihr Denken beherrschen?


    Als Erwachsene geht die Autorin in einem Brief an das verstorbene Kind, ihren Gefühlen und Gedanken nach. Ihre Art darüber nachzudenken und die Bedeutung dessen für sich herauszukristallisieren, erlebte ich als distanziert, was ich bei so einer Problematik, die einen auf keinen Fall in Wirklichkeit und Realität kalt lässt, als problematisch empfinde. Die Thematik der Auseinandersetzung mit sich selbt und mit dem verstorbenen Kind, wo man davon ausgeht, dass man nur aus dem Tod des anderen ein Recht auf Leben erhalten hat, ist mehr als dramatisch. Das hätte ich gerne bei dieser Erzählung gefühlt. Doch dem war nicht so. Vermutlich zu kurz, zu nüchtern.


    Doch die intensive Sprache der Autorin ist mir aufgefallen. Nur in dem Gesamtbild, kann ich mich den Lobeshymnen nicht anschließen. Liegt womöglich auch u.a. daran, dass es sich dabei um eine Erzählung, die wirklich viel zu kurz ist, handelt. Da habe ich meine Probleme mit, da ich mir in der Regel einen ausführlichen Roman zum Thema wünsche.

    2024: Bücher: 90/Seiten: 39 866

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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