Eshkol Nevo - Vier Häuser und eine Sehnsucht / Arba'a batim ve ga' agua


  • Dieses Romandebüt des 1971 in Jerusalem geborenen Eshkol Nevo erregte nicht ohne Grund nach seinem Erscheinen in Israel sowohl bei der Kritik als auch bei den Lesern erhebliches Aufsehen. Nevo erzählt die Geschichte und den Alltag einiger Menschen und es gelingt ihm, mit diesen wenigen, sicher nicht repräsentativen Figuren, ein Gesellschaftsbild en miniature zu malen; das Bild einer zerrissenen Gesellschaft, die um ihr Überleben kämpft. Sie sieht sich mit traumatischen und sich der Gegenwart permanent in den Weg stellenden Vergangenheiten konfrontiert, und ist dennoch von einer Sehnsucht durchzogen, die die Menschen am Leben hält und sie die Hoffnung nicht verlieren lässt.


    Eshkol Nevo platziert die Geschichte um den für die israelische Gesellschaft traumatischen Attentatstod von Premierminister Rabin am 5. November 1995. Mit diesem Mann und mit seiner Politik verbanden sich für Israelis und Palästinenser Hoffnungen darauf, dass endlich das gespannte Verhältnis zwischen ihnen entschärft würde, nachdem auch viele Kriege seit 1948 keine wirkliche Lösung gebracht hatten. Nun, nach seinem Tod scheinen diese Hoffnungen jäh zerstoben.
    Der Ort, in dem Nevos Figuren leben, heißt Castel und ist ein Vorort von Jerusalem. Da ist das eine Haus, ein Haus mit Geschichte, wie wir später sehen werden; es wird bewohnt auf der einen Seite von Mosche und Sima, und auf der anderen Seite von dem Studentenpaar Noa und Amir. In der Wand, die die zwei Wohnungen voneinander trennt, ist ein kleines Loch, damit man von beiden Seiten an den wichtigen Hebel für das warme Wasser herankommt. So sind die Wohnungen akustisch miteinander verbunden, was die beiden Paare am Leben des jeweils anderen notgedrungen teilhaben lässt und manches Mal zu delikaten Situationen führt.


    Über Mosche und Sima wohnen deren Eltern, aus Kurdistan stammende Juden, die noch sehr ihrer ehemaligen Heimat und den dortigen Sprach- und Lebensgewohnheiten verbunden sind.


    Nevo beschreibt auf eine faszinierende und sehr einfühlsame Weise die Beziehungen dieser Paare: ihre innerpartnerschaftlichen Probleme und ihre unterschiedlichen Begegnungen miteinander. Sima und Noa freunden sich an und erzählen sich viel voneinander. Dabei erfahren wir, dass Mosche zu Simas Leidwesen immer frommer wird und die gemeinsame Tochter unbedingt in einen orthodoxen Kindergarten bringen will. War Noas und Amirs Beziehung zu Beginn noch geprägt von heftiger Leidenschaft, erlebt vor allem Noa das erste Zusammenleben mit einem Mann als beengend und will ausbrechen.


    Im Nachbarhaus gegenüber wohnt eine Familie, deren Sohn Gidi im Libanon gefallen ist und in der sich alles um dieses furchtbare Unglück dreht. Gidis kleiner Bruder Jotam freundet sich mit Amir an, der für den Jungen väterliche Gefühle entwickelt.


    Und da ist noch Ssadeq, ein älterer Palästinenser, der auf einer Baustelle im Viertel arbeitet und einen Schlüssel zu Mosches und Simas Haus besitzt. Denn vor 1948 gehörte es seiner Familie, und er muss für seine alte Mutter unbedingt etwas aus dem Haus holen.


    Nevo schildert die Ereignisse mit einer Sprache von eigentümlicher Schönheit, geprägt von großem Respekt vor seinen Figuren und ihren jeweiligen Leiden und ihren Sehnsüchten.
    Neben den Figuren, die abwechselnd in der Ich-Form sprechen, gibt es eine Erzählerstimme, die uns- im Rhythmus fünfhebiger Trochäen- durch wesentliche Teile des Buches führt. Diese von Anne Birkenhauer genial ins Deutsche übertragenen Verse, sind ein wahrer Lesegenuss.


    Und so lässt EshkolNevo mit nur wenigen Stimmen ein Klangbild entstehen, das uns ein jüdisch-palästinensisches Universum zeigt, voller Leiden, Nöten, aber auch voller Leidenschaft und Sehnsucht.


    Mit diesem sehr empfehlenswerten Buch hat sich eine neue Stimme aus Israel gemeldet, von der man hoffentlich noch mehr hören wird.

  • Noa und Amir, Mitte 20, sie angehende Fotografin, er Psychologiestudent, wagen das Experiment Zusammenleben und ziehen in eine kleine Mietwohnung in einer Siedlung unweit von Tel Aviv. Schnell merken sie, dass der gemeinsame Alltag seine Tücken hat. Sie fühlt sich eingeengt und fürchtet, ihre Kreativität einzubüßen, weil es ihr an persönlichem Freiraum fehlt, während er immer stärker an seiner Eignung für sein gewähltes Fachgebiet zu zweifeln beginnt und es wehtut, dass sich Noa immer wieder von ihm zurückzieht.


    Ihre Vermieter, Mosche und Sima, sind nur unwesentlich älter, aber schon ein gesetztes Ehepaar mit zwei kleinen Kindern. Sima liebt ihre Kinder, wünscht sich insgeheim aber manchmal auch mehr Freiheit und Ungebundenheit und ist überdies ziemlich genervt von Mosches strenggläubiger Verwandtschaft, die für sie immer nur Kritik übrig hat. Mosche sitzt zwischen den Stühlen, einerseits will er zu seiner Frau halten, spürt aber auch die Ansprüche seiner Herkunftsfamilie und ist hin- und hergerissen zwischen seiner Erziehung im Glauben und seinem viel weltlicher orientierten Leben mit Sima und den Kindern.


    In der Nachbarschaft lebt Jotam, dessen Bruder kürzlich bei einem Einsatz getötet wurde. Seine Eltern können den Verlust nicht verwinden und haben sich durch ihre sehr unterschiedliche Art zu trauern auseinandergelebt - der Vater vergräbt sich in Arbeit, die Mutter baut indessen zu Hause für den Toten einen Gedenkschrein und kann den Alltag nicht mehr bewältigen. Jotam kapselt sich von seinen Mitschülern ab und streift ziellos umher, wirkt mürrisch und wird verhaltensauffällig und will doch eigentlich nur verstanden und getröstet werden.


    Der Palästinenser Ssadeq arbeitet ein paar Häuser weiter auf der Baustelle, als ihm nach und nach aufgeht, dass er die Gegend kennt - er ist dort aufgewachsen, bevor der Staat Israel gegründet wurde und seine Familie ihr Haus verlor.


    Rund um das Haus von Mosche und Sima spielt sich die Handlung dieses faszinierenden Buches ab. Fast könnte man sagen, das Haus sei ein wichtiger Protagonist in dem Roman, der sich unter anderem damit beschäftigt, was ein Haus, ein Zuhause, ein Heim für seine Bewohner bedeutet und wie sehr wir ein geliebtes Zuhause auch noch Jahrzehnte später im Herzen tragen können.


    Es geht aber um noch mehr als nur das physische Zuhause: Wie kann Zusammenleben funktionieren? (Als Yitzhak Rabin erschossen wird, dringt auch das politische und gesellschaftliche Gewicht dieser Frage in die Handlung hinein - gerade in Israel nicht unwesentlich.) Was braucht es, um sich geborgen und heimisch zu fühlen? Kann man immer Kompromisse finden, die für beide Seiten taugen? Was, wenn Liebe allein nicht ausreicht, um einen gemeinsamen Alltag dauerhaft zu bewältigen?


    Mit viel Einfühlungsvermögen lässt uns Eshkol Nevo in die Welten seiner Protagonisten eintauchen. Dabei ist nicht gekennzeichnet, wer gerade erzählt, so dass der Einstieg zunächst ein wenig verworren wirkt (zumal manche Passagen auch in einer besonders poetischen Sprache, fast gedichtartig, verfasst sind, was mich anfangs leicht befremdet hat). Doch hat man sich erst einmal eingelesen und orientiert, entwickelt das Buch einen regelrechten Sog mit all den Fragen, die es aufwirft und all den so oft ungesagt bleibenden Dingen, die hier mit manchmal fast schmerzhafter Klarheit und Ehrlichkeit angesprochen werden. Hier ist nichts nur schwarz oder weiß, Nevo ist ein Meister der Zwischentöne und der Widersprüchlichkeiten, aus denen das Leben nun einmal besteht, und weiß sie wunderbar zu formulieren.


    Eine Empfehlung!

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Eshkol Nevo, Vier Häuser und eine Sehnsucht“ zu „Eshkol Nevo - Vier Häuser und eine Sehnsucht“ geändert.
  • Squirrel

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