Riikka Pulkkinen - Wahr

  • Inhalt:
    „Ich muss von meinem Leben erzählen, das wird mir in letzter Zeit immer klarer. Wenn ich es nicht selbst tue, dann erzählt niemand davon“, sagt Elsa Ahlqvist kurz vor ihrem Tod. Was sie erzählt, wird das Leben ihrer Familie verändern, allen voran das ihrer Enkelin Anna. Denn Elsa entscheidet sich für die Wahrheit. Sie berichtet von dem schmerzhaften Ereignis, an dem sie beinahe zerbrochen wäre. Und Anna erkennt, dass sie endlich ihr Leben angehen muss, weil sie allein dafür verantwortlich ist.



    Über den Autor:

    Riikka Pulkkinen, Jahrgang 1980, ist eine der erfolgreichsten jungen Autorinnen Finnlands. Wahr wurde für den wichtigsten finnischen Literaturpreis, den Finlandia-Preis, nominiert. Riikka Pulkkinen lebt in Tampere in Südfinnland.



    Meine Meinung:

    Wahr ist:


    Am Ende eines Lebens kann es für jeden von uns von großer Wichtigkeit sein, ein persönliches Resümee zu ziehen, Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, Vergangenes aufzuarbeiten und eventuell offene Fragen noch rechtzeitig zu beantworten.


    So auch für Elsa, der 70-jährigen Protagonistin aus dem Roman "Wahr" von Riikka Pulkkinen, Elsa ist unheilbar an Krebs erkrankt. Da sie in Würde zuhause im Kreise ihrer Familie sterben möchte, bereiten sich ihr Mann, ihre Tochter und ihre zwei Enkelinnen auf das für alle Betroffenen schmerzhafte Abschiednehmen vor und begleiten Elsa auf ihrem letzten Weg. Neben Angst und Ungewissheit beschäftigt Elsa eines besonders, nämlich ein einschneidendes Ereignis aus lang zurückliegender Zeit, das nicht nur sie, sondern die ganze Familie auf eine harte Probe gestellt hat, deren Folgen bis heute zu spüren sind, über das jedoch nie gesprochen wurde. Elsa bricht das Schweigen und löst damit die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus.


    Riikka Pulkkinen hat eine bewegende, berührende Geschichte geschrieben, die sich nicht erstrangig mit Sterben und Tod beschäftigt, sondern vielmehr mit der Liebe und ihren zahlreichen Facetten. Obwohl das Geheimnis in Elsa's Familie schon recht früh gelüftet wird, verliert das Geschehen im Weiteren nicht an Format und Aussagekraft und vermag durchaus zu fesseln.
    Die junge finnische Autorin versteht es perfekt, ihre Figuren und deren Empfindungen detailliert und glaubwürdig zu schildern. Sie benutzt anschauliche Vergleiche und wendet Zeiten- und Perspektivwechsel an, die die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordern. Eingebettet in eine bildhafte Darstellung von Landschaft, bedeutenden Situationen und gesellschaftlichen Begebenheiten, gelingt es ihr, geschickt Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ziehen und den Kreis am Ende zu schließen.
    Der Roman besticht nicht durch eine temporeiche Handlung, sondern durch seinen bemerkenswerten Sprachstil, der poetisch, beinahe philosophisch Gefühle, menschliche Stärken und Schwächen, Glück und Unglück, Schuld und Unschuld und immer wieder die Höhen und Tiefen der Liebe zum Ausdruck bringt.


    Wenngleich meiner Meinung nach Elsa im Verlauf zu sehr in den Hintergrund tritt und am Schluss klärende Gespräche nur lückenhaft stattfinden, hat mich die Erzählung hauptsächlich durch ihre Wortgewalt gefangen genommen. Dennoch konnte ich das Buch nicht "in einem Rutsch" lesen und musste des Öfteren pausieren, um das Gelesene sacken zu lassen. "Wahr" hat mich traurig und nachdenklich gestimmt, weil die Geschichte von Elsa und ihrer Familie in treffender Weise Realität widergespiegelt, ohne künstlich zu wirken. "Wahr" gibt aber auch Hoffnung, denn: "Liebe ist der einzige Weg, die Welt Wirklichkeit werden zu lassen." (Zit.)



    Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
    Originaltitel: Totta

  • Danke an evelynmartina für ihre ausführliche und absolut treffende Rezension. Ich kann alles genau so unterschreiben und vor allem könnte ich es nicht besser formulieren, deshalb hier nur kurz mein eigenes Fazit.


    Ein tolles Buch! Obwohl der nahende Tod der Hauptfigur Elsa der Aufhänger der Geschichte ist, vergisst man zwischendurch diesen Umstand, weil soviel Spannendes (nein, eher Bewegendes) passiert. Elsa tritt darüber ein wenig in den Hintergrund, was etwas schade ist, aber der Geschichte meines Erachtens auch nicht schadet. Es haben alle Figuren genug erlebt und zu erzählen. Die Zeit- und Perspektivwechsel geben der Geschichte sehr viel Tiefe, die Sprache von Riikka Pulkkinen ist außerordentlich poetisch und zeugt von Reife. Mich erstaunt es, dass die finnische Autorin mit erst etwa 30 Jahren so tiefgründig und klug schreibt. Von ihr können wir sicher noch mehr Schönes erwarten. Ich empfinde das Buch nicht als traurig, sondern - eher im Gegenteil - es stimmt mich froh, wenn die Angehörigen die Chance haben, Abschied nehmen zu können. Das ist längst nicht jedem vergönnt und sterben müssen wir nun alle einmal ...


    Schade, dass das Buch bisher hier im Forum scheinbar nicht so viele Anhänger gefunden hat. Also ich jedenfalls kann die Lektüre nur weiterempfehlen!

  • Die tiefste Form der Liebe


    WAHR
    ist, dass dies ein stilles Buch ist. Wer Spannung erwartet ob des angekündigten Geheimnisses wird enttäuscht sein.


    WAHR
    ist, dass Elsa sterben wird. Sie ist 70 Jahre alt, eine bekannte Psychologin, und es scheint, dass sie alles in ihrem Leben erreicht hat: beruflichen Erfolg und eine Familie. Da sind ihr Mann Martti, ein Maler, ihre Tochter Eleonoora, genannt Ella, eine Ärztin, und ihre Enkelinnen Anna und Maria. Eine heile Welt.


    WAHR
    ist, dass der Schein trügt. Für ihre Freiheit, als Psychologin Erfolg zu haben, hat Elsa bitter bezahlt. Denn ihr Mann verliebt sich in Eeva, die junge Frau, die Ella als Kind über drei Jahre lang betreute.


    WAHR
    ist aber auch, dass Elsa die Kraft zum Verzeihen hat und den Mut, die Vergangenheit zu offenbaren. Deshalb ist sie für mich die beeindruckendste Person dieses Romans.


    '"Mit einer Entschuldigung bittet man darum, so angenommen zu werden, wie man ist, egal was man getan hat. Und einem anderen zu verzeihen, ist die tiefste Form der Liebe, zu der ein Mensch fähig ist.'"


    WAHR
    ist, dass sich die junge Autorin mit sehr viel Reife und Respekt den Themen Liebe, Trauer, Leben und Verlust nähert.


    "'Das Leben, auch ein glückliches, ist in seinem Vollzug immer schlichter als in den Träumen. Aber es wiegt mehr.'"


    WAHR
    ist, dass die Liebe im Mittelpunkt des Geschehens steht. Liebe ist vielschichtig. Es gibt kein richtig oder falsch.


    "Du kannst von mir nicht verlangen, gemäßigt zu lieben. Da könntest du auch gleich verlangen, dass ich mich in einen Stein verwandle.'"


    WAHR
    ist, dass keiner der Romanhelden 'vorgeführt' und verdammt wird, sondern die Empfindungen der einzelnen Personen nachvollziehbar dargestellt sind. Eine Wertung überlässt die Autorin dem Leser.


    WAHR
    ist, dass mir der Wechsel der verschiedenen Erzählzeiten gefallen hat. Eevas Gedanken und Empfindungen lesen wir wie in einem Tagebuch, und auch mit Anna befinden wir uns in der Gegenwart. Dadurch werden gleichfalls die Parallelen zwischen den beiden Frauen offenbart: Beide verlieben sich in verheiratete Männer mit kleinen Töchtern. Beide Männer entscheiden sich für ihre Familien. Beide jungen Frauen leiden sehr darunter.


    WAHR
    ist, dass ich von der feinfühligen Erzählweise und der zarten und wiederum ebenso intensiven Ausdruckskraft, den ruhigen und poetischen Momenten begeistert bin.


    "'Die Beziehungen zwischen Menschen sind wie dichte Wälder. Oder vielleicht sind die Menschen selbst Wälder, in denen sich immer neue Pfade eröffnen. Manche dieser Pfade bleiben nahezu geheim, zeigen sich nur zufällig einem anderen Menschen, der zur richtigen Zeit da sein muss.'"


    'WAHR'
    ist berührend. Kein Buch für einen Abend. Zwischendurch habe ich es aus der Hand gelegt und darüber nachgedacht.


    WAHR
    ist, dass ich sehr froh bin, diesen großartigen Roman gelesen zu haben und ich ihn uneingeschränkt empfehlen kann.


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  • Inhalt

    Es ging alles sehr schnell. Bei der pensionierten, früher beruflich erfolgreichen Psychologin Elsa wird Krebs diagnostiziert. Hoffnung auf Heilung gibt es nicht und Elsa wird zum Sterben nach Hause entlassen. Dass Elsa nun auf die Hilfe anderer angewiesen ist, ist ungewohnt für sie. Bei der Pflege werden ihr Ehemann Martti, Elsas Tochter Eleonoora und die Enkelinnen helfen. Durch die schwere Krankheit rückt die Familie der Patientin gezwungermaßen näher zusammen. Martti bereitet das Sterben seiner Frau große Angst.


    "Doch dann fand er endlich eine Methode, sich selbst zu beruhigen. Er trat ans Fenster, öffnete es weit, schaute in den Himmel und lauschte der Amsel. Die Trauer gesellte sich leise zu ihm, und er ließ sie kommen, schloss Bekanntschaft, wie um sich vorsorglich an sie zu gewöhnen. Er entdeckte sie in der Haltung seiner Hände, in den halb ausgestreckten Armen. Der Trauer musste man Raum geben, man musste sie umarmen. Andernfalls überfiel sie einen als Entsetzen, plötzlich und ohne Vorwarnung, beim Überqueren einer Kreuzung oder im Geschäft vor den Mandarinen und Kartoffeln." (S. 12)


    Enkelin Anna hat offenbar ernste Probleme, die nicht mit dem Sterben ihrer Großmutter zusammenhängen. "In ihrem Leben breitet sich der Kummer wie ein Tintenfleck aus." (S. 32) Anna empfindet eine deutliche Entfremdung zum Großvater, dem sie als Kind sehr nahestand. Anna liebt einen Mann, der Vater eines Kindes ist, und müsste sich im Fall einer Trennung auch von dem Kind trennen. Eleonoora ist Chirurgin, ihre Tochter Maria studiert Medizin. Auf den bevorstehenden Tod ihrer Mutter reagiert Eleonoora extrem, als trauere sie bereits jetzt, bevor Elsa überhaupt gestorben ist. Die Familie Ahlqist verbirgt ein Geheimnis, das sie fest verschnürt hütet. Die Familienkonstellation wirft einige Fragen auf, wie die Medizinerin Eleonoora als betroffene Angehörige mit dem Sterben ihrer Mutter umgehen wird und auch was Elsa ihrer Tochter in der Kindheit für eine Mutter war. Als international hoch geachtete Psychologieprofessorin reiste Elsa oft zu Kongressen und ließ ihre kleine Tochter dann einige Wochen lang mit Martti und einem Kindermädchen zurück. Hat die Wissenschaftlerin, die theoretisch so viel über Beziehungen weiß, ihr Wissen in der Erziehung ihrer Tochter genutzt? In der Geschichte der vier Frauen aus drei Generationen breitet sich zunehmend die Geschichte einer fünften, abwesenden Frau aus, die in der Ich-Form erzählten Erinnerungen des Kindermädchens Eeva. Die bisher verschwiegene Eeva nimmt in der Handlung wachsenden Raum ein, während die Leser noch immer rätseln, was aus Eeva geworden ist.In den 60er Jahren betreute Eeva die kleine Eleonoora als Kindermädchen während Elsa beruflich unterwegs war. Martti zog sich dann jedesmal in sein Atelier zurück und überließ Eeva allein Haushalt und Erziehung. Ella liebt ihre Betreuerin innig und reagiert auf die Liebesbeziehung ihres Vaters zu "ihrer" Eeva mit extremen Gefühlen und Ängsten. Erst nachdem das vierzig Jahre zurückliegende Familiengeheimnis um Eeva gelüftet ist, können Elsa und ihre Familie voneinander Abschied nehmen.


    Fazit

    Rikka Pulkkinen hat mich mit ihrem feinfühlig erzählten Familienroman von der ersten Seite an so gefesselt, dass ich das Buch nicht wieder aus der Hand legen konnte. Die finnische Autorin zeichnet wunderbare Bilder von Kindheitserinnnerungen, idyllischen Sommern an einem finnischen See und von großen Gefühlen. Die Veränderungen, wenn Alte oder Kranke in den Augen ihrer Kinder wieder zu Kindern werden, das Abschiednehmen von der Mutter und speziell Eleonooras Umgang mit dem Tod in ihrem Privatleben beobachtet die Autorin mit großer Sensibilität. Die Charakterisierung der professionellen Helferin Eleonoora von ihrer privaten Seite, ihr Pendeln zwischen dem Wunsch nach Nähe, Rückzug und Kontrolle, zwischen Verletzungen in der Kindheit und dem Verbergen ihrer Gefühle vor der sterbenden Mutter hat mich sehr bewegt.


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