“Raw Blue” ist der 2009 erschienene Debütroman der Australierin Kirsty Eagar. Bisher wurde er nur von Penguin Australia aufgelegt, daher ist es in Deutschland nicht ganz einfach, an das Buch heranzukommen. Ich persönlich habe es auf Fishpond.com bestellt – die Lieferung dauerte etwa 2 bis 3 Wochen. Aber ganz ehrlich: Das Warten hat sich ausgezahlt! (Das Cover und weitere Informationen gibt es hier und hier.)
Handlung:
Die 19-jährige Carly hat ihr altes Leben komplett hinter sich gelassen, ihren Studienplatz, ihre Eltern, ihre Heimatstadt, um an den nördlichen Stränden von Sydney zu leben. Nachts arbeitet sie in der Küche eine Cafés, um sich das nötige Geld zu verdienen, das es ihr ermöglicht, den Tag über zu surfen. Eines Tages trifft Carly am Strand auf Ryan und die beiden beginnen sich einander anzunähern. Doch dann muss Carly ihren gesamten Mut zusammennehmen, um sich dem zu stellen, was ihr geschehen ist. Dem Ereignis, aufgrund dessen sie ihr altes Leben zurückgelassen hat. Kann sie es schaffen, Ryan zu vertrauen oder wird, wie so oft, ihre Vergangenheit auch ihre Gegenwart und Zukunft bestimmen?
Meine Meinung:
Ich habe mich lange vor dieser Rezension gedrückt, aber nicht deshalb, weil mir das Buch nicht gefallen hat. Im Gegenteil: es hat mich berührt, ganz tief in meinem Herzen – und wie soll man ein solches Buch in Worte fassen? Es ist ein außergewöhnliches Buch; ein Buch, das einen noch lange beschäftigt; ein Buch, das man jedem in die Hand drücken möchte. “Lies!”, möchte man sagen, “Lies und lerne, wie es sich anfühlt, wenn von einem Moment auf den anderen das Leben nicht mehr so ist, wie es vorher war. Wenn alles überschattet wird, von diesem einen Moment!” Ich habe in vielen Blogs gelesen, dass angehende Lehrer dieses Buch zu gerne mit ihren Klassen durchnehmen würden und ich finde das eine sehr gute Idee. (Wenn auch vielleicht nur für Jugendliche ab etwa 14 Jahren.)
“Raw Blue” wird aus Carlys Perspektive in der Ich-Form erzählt und bleibt so immer ganz nah an der Protagonistin. Mir persönlich war Carly sofort sympathisch, weil sie mich an mich selbst erinnert. Sie ist eine sehr zurückhaltende junge Frau, voller Ängste, was die anderen wohl von ihr denken oder wie sie ihre Handlungen bewerten. Sie hat nur wenige Freunde, darunter ihre liebenswerte Mitbewohnerin Hannah und den 15-jährigen Danny, den sie beim Surfen kennenlernt und ihm einen Job in dem Café verschafft, in dem sie selbst arbeitet. Diese beiden sind die einzigen, die auch nur ansatzweise Anteil an Carlys Leben nehmen; davon abgesehen hat sie nur eine Liebe: das Surfen. Darum dreht sich alles, darum arbeitet Carly abends in einem Job, den sie nicht liebt, nur um das Geld und die Zeit zu haben, den Tag mit Surfen zu verbringen.
Der Roman hat eine wundervolle bildhafte Sprache, die natürlich zum Großteil um das Thema Surfen und das Meer kreist. Ein kleines Glossar wäre vielleicht hilfreich gewesen, denn ich kann mit den verschiedenen Begriffen aus dem Surfsport nichts anfangen – auf der anderen Seite versteht man den Roman auch ohne diese Ausdrücke zu kennen. Denn aus allen diesen Worten spricht die Liebe Carlys zum Meer und – wie ich gelesen habe – auch die Liebe der Autorin zu diesem Element:
It’ a glitter skin day. The ocean is a vivid emerald colour and the wind ruffles the wave faces so that they shatter the sunlight like glass. Seeing that glittering skin always tightens my throat with joy. It’s stupid, but that’s how I feel: joyous. I forget about the underbelly of things, my secrets, and I feel easy and free. I know that I’m meant to stay on the surface and be happy. Just enjoy being alive.
Als Carly schließlich Ryan kennenlernt, ist auf einmal alles leichter und manches doch so unheimlich schwer. Die beiden nähern sich einander an, doch man hat das Gefühl, dass jedem Schritt nach vorne zwei Rückschritte folgen. Immer wieder wird Carly von dem eingeholt, was sie erlebt hat. Sie hat Angst, sich Ryan zu öffnen, Angst davor, was er von ihr denken könnte, Angst, was dann geschehen könnte, wenn sie sich vollkommen fallen lässt. Wenn Carly immer wieder beschreibt, wie zerissen und verloren sie sich fühlt und wie sehr die Vergangenheit ihr ganzes Tun, ja ihr ganzes Sein bestimmt, dann geht einem das wirklich nahe.
My disgrace, oh God, I want peace from it. This is why people kill themselves, they can’t get away from the things they carry in their heads. Shame isn’t a quiet grey cloud, shame is a drowning man who claws his way on top of you, scratching and tearing your skin, pushing you under the surface.
Trotz allem gibt Ryan Carly nicht auf. Mit dieser Figur ist der Autorin wirklich ein großartiger Charakter gelungen, wie ich finde. Ryan ist selbst nicht perfekt. Er hat eine Weile im Gefängnis gesessen und selbst noch mit seiner Vergangenheit zu kämpfen. Das Surfen verbindet die beiden miteinander und auf diese Weise gelingt es Ryan, nach und nach Teile der Mauer einzureissen, die Carly um sich gebaut hat. Wenn sie sich von ihm zurückzieht, lässt er ihr Zeit, sorgt aber auch dafür, dass sie nicht vor ihm davonläuft. Er erträgt es, wenn sie ungerecht zu ihm ist, weist sie aber auch in ihre Schranken. Die beiden wachsen zu einem großartigen Team heran, bis ihre Beziehung eines Tages in eine Situation gerät, in der es an Carly ist, zu handeln.
Ich will an dieser Stelle nicht verraten, was das Grundthema des Romans ist, was Carly geschehen ist. Im Buch selbst wurde mir das schon in den ersten Kapiteln deutlich und ich denke, jeder, der “Raw Blue” lesen möchte, sollte dies selbst herausfinden. Das Ende hat mir persönlich sehr gut gefallen, weil es nicht verkitscht ist, sondern realistisch bleibt. Aber dennoch bleibt bei diesem Roman eines nicht auf der Strecke: die Hoffnung. Die Hoffnung, dass man egal, was einen geschehen ist, etwas finden kann, das einen am Leben erhält. Die Hoffnung, dass man den Weg zurück ins Licht finden kann, egal wie dunkel es um einen herum sein mag. Und letztlich auch die Hoffnung, dass es Menschen wie Hannah, Danny und Ryan geben wird, die einem helfen werden, diesen Weg zu gehen.
Fazit:
Eine wundervolle, starke Geschichte, die nicht durch Handlung, sondern durch die Emotionen besticht, die sie transportiert.