Téa Obreht - Die Tigerfrau / The Tiger's Wife

  • Klappentext:
    Natalia arbeitet in einem Waisenhaus irgendwo in Südosteuropa, als sie vom rätselhaften Tod ihres geliebten Großvaters erfährt. Nach Erklärungen suchend, erinnert sich die junge Ärztin an jene Geschichten aus seinem Leben, die sich um zwei seltsame, fatale Gestalten drehen – die Tigerfrau, eine schöne Taubstumme in seinem Heimatdorf, die einen geflüchteten Tiger pflegte; und einen charmanten, obskuren Mann, der nicht sterben kann. Während Natalia auf den Spuren des Großvaters durch idyllische und kriegsverwüstete Landschaften reist, werden ihr diese Figuren immer gegenwärtiger. Bald entspinnt sich ein ganzer Kosmos an Mythen und Gestalten, und Natalia begreift, welche Wahrheit über die Lebensrätsel ihrer Familie und ihre versehrte Heimat in ihnen steckt …


    Sprachgewaltig, mit unvergesslichen Figuren und einer erzählerischen Virtuosität, die an Gabriel García Márquez erinnert, entwirft Téa Obreht das schmerzlich-schöne Bild einer zwischen gestern und heute gefangenen, mythengläubigen Welt. «Time» schrieb über «Die Tigerfrau»: «Liebe, Legende und Tod werden hier so wundervoll geschildert, dass jeder andere Roman in diesem Jahr Gefahr läuft, an der unheimlichen Schönheit dieses Buches gemessen zu werden. Seit Zadie Smith debütierte kein junger Autor mit solcher Kraft und Eleganz.»
    (Quelle: Verlagsseite)


    Über die Autorin:
    Téa Obreht, geboren 1985 in Belgrad, lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA. Dort veröffentlichte sie erste Erzählungen u.a. im "New Yorker", in "Harper‘s" und der "New York Times". Ihr Debütroman "Die Tigerfrau" (2011), der in den USA und England zu einem sensationellen Überraschungserfolg wurde, erscheint in mehr als dreißig Sprachen. Im Sommer 2011 erhielt Téa Obreht den Orange Prize for Fiction, im Herbst wurde "Die Tigerfrau" für den National Book Award nominiert.
    (Quelle: Verlagsseite)


    Aufbau/Allgemeines:
    Originaltitel: The Tiger's Wife
    Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
    13 Kapitel auf 416 Seiten


    Inhalt:
    Die junge Ärztin Natalia arbeitet als Ärztin in einem Waisenhaus auf dem Balkan, als sie von dem Tod ihres Großvaters erfährt, zu dem sie eine innige Beziehung pflegte. Er starb auf Reisen, weit entfernt von daheim in einem Krankenhaus in Zdrevkow.
    Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerung an den Großvater ist der regelmäßige gemeinsame Spaziergang zum Zoo. Den Tiger haben sie immer besucht. Doch mit 13 Jahren wurde ihr dieser Spaziergang lästig; anderes, wie Musik von Johnny Cash und Bob Dylan hören, ist in den Vordergrund gerückt. Bei Kriegsausbruch wurde der Zoo geschlossen und somit fand ein Kindheitsritual sein Ende.
    Natalia begibt sich auf Spurensuche und erinnert sich an zwei Geschichten, die man kennen muss, um ihren Großvater zu verstehen. In diesen Geschichten kommen zwei mysteriöse Gestalten vor: die taubstumme Tigerfrau, die in seinem Heimatdorf lebte und der Mann, der nicht sterben kann.
    Ihm begegnete der Großvater mehrfach im Leben. Gavran Gailé, so heißt der Unsterbliche, hat eine Aufgabe: er kündigt den Menschen ihren baldigen Tod an. Natalias Großvater glaubt nicht an Gavrans Unsterblichkeit; dieser will es ihm beweisen und bietet eine Wette an. Als Pfand muss der Großvater sein Dschungelbuch, das ihm viel bedeutet, anbieten.
    Natalia werden die mythischen Geschichten immer vertrauter, in denen die Liebe und der Tod thematisiert werden. Aberglaube spielt ebenfalls eine Rolle in diesem Roman.


    Meinung:
    Der Roman "Die Tigerfrau" ist angefüllt mit wunderbaren Szenen, die auch surreale Momente beinhalten. So begegnen z.B. der Großvater und Natalia eines Tages einem Elefanten auf der Straße.
    Die Geschichte verfolgt keine lineare Handlung, sondern wechselt die Zeit- und Erzählebene. Die Geschichten sind ineinander verschachtelt. Erzählt wird aus Natalias Perspektive. Nur wenn der Großvater eine Geschichte erzählt, wechselt die Erzählperspektive. Eingeführt wird die Geschichte durch einen kursiven Satz.
    Allen Charakteren versucht die Autorin gerecht zu werden und deren Handlungsweisen zu erklären. So wird z.B. die Geschichte von Luka erzählt, um sein späteres Verhalten gegenüber seiner Ehefrau zu erklären. Das Leben ist kompliziert, Verhalten und Denken der Menschen nicht geradlinig; Dorfklatsch kann einen Menschen schnell zu einem Außenseiter abstempeln und Aberglaube kann das Denken und Handeln der Menschen beeinflussen. Der Tod scheint ein durchgängiges Thema zu sein.


    Fazit:
    Mit diesem Debütroman ist Téa Obreht eine wunderbare, farbenprächtige Geschichte gelungen. Ich hoffe auf weitere Romane von ihr.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Ich sah das Buch vor einigen Tagen in unserer Bibliothek und dachte an eine Rezi in irgendeiner Zeitung. Dann legte ich das Buch einstweilen beiseite. Nun, mit Deinen Anmerkungen werde ich es das nächste Mal wohl mitnehmen!


    Danke für die Rezi!

  • Wow, das hört sich toll an - davon hatte ich noch gar nichts gehört.

  • Klingt super, danke für die schöne Rezi!
    Ich bin heute schon auf das Buch aufmerksam geworden, weil es bei Facebook von Thalia empfohlen wurde.
    Aber eine Büchertreffler-Meinung ist natürlich immer nochmal viel mehr wert. :)

    „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.”
    Heinrich Heine
    "Nichts ist unmöglich, allein unserem beschränkten Geist erscheinen manche Dinge unbegreiflich."
    Marc Levy


    :study: in 2015: 18 Bücher, 6868 Seiten
    :study: in 2014: 2 Bücher, 771 Seiten 8-[
    :study: in 2013: 13 Bücher, 5079 Seiten
    :study: in 2012: 39 Bücher, 14318 Seiten
    :study: in 2011: 25 Bücher, 9255 Seiten

  • "Alles, was nötig ist, um meinen Großvater zu verstehen, liegt zwischen zwei Geschichten: der von der Tigerfrau und der von dem Mann, der nicht sterben konnte." (S. 43)


    Natalia Stépanovic ist eine junge Ärztin und gerade in humanitärer Mission in einem Waisenhaus im Südosten Europas im Einsatz, als sie durch einen Anruf ihrer Großmutter vom Tod des Großvaters erfährt. Natalia wusste von seiner Krebserkrankung, trotzdem kam sein Tod für sie überraschend, so wie der Tod eines geliebten Menschen immer zu früh kommt. So gehen ihre Gedanken immer wieder zurück zu der gemeinsam verbrachten Zeit, dabei tauchen immer wieder die geheimnisumwitterten Geschichten vom Mann, der nicht sterben konnte und der Tigerfrau in ihrem Kopf auf, die ihr der Großvater einst erzählte.


    Eine Weile habe ich wegen der angekündigten fantastischen und mystischen Elemente gezögert, bevor ich zu diesem Buch griff. Aber dieses Zögern war vollkommen überflüssig. Téa Obreht legt mit „Die Tigerfrau“ ein beachtliches Romandebüt vor. Sie schafft es, dem Leser eine geheimnisvolle Welt zu eröffnen, in der Mythen zur Tradition gehören und diese fest im Leben der Menschen verankert ist. Obwohl Natalia, ihre Hauptfigur, eine moderne, gebildete junge Frau ist, hat auch sie tief in ihrem Herzen Platz für die alten Geschichten des Großvaters, aus dessen Leben die Autorin Episoden heraufbeschwört. Dieses Buch lebt von den Gegensätzen, Tradition und modernes Leben, Krieg und Hoffnung, Leben und Tod, die durch den Großvater eng miteinander verbunden sind. Dieser Roman, den ich für mich in die Liste meiner „Wohlfühlbücher“ aufgenommen habe, ist sprachgewaltig und kraftvoll erzählt, trotzdem voller Poesie und tiefer philosophischer Gedanken. Immer wieder schweifen beim Lesen die Gedanken ab und folgen den in der Geschichte verwendeten Metaphern. Téa Obreht hat es geschafft mit ihren Worten Bilder zu malen, die in meinem Kopf lebendig wurden. Die von ihr geschaffenen Figuren sind voller Leben. In ihrer Erzählung bewegt sie sich auf verschiedenen Zeitebenen, das macht die Geschichte so besonders reizvoll. Ich wage nach meiner ersten Lektüre dieses Buches zu behaupten, dies ist einer dieser Romane, die mit jedem Lesen besser werden. Man wird immer wieder neue Details erkennen, denen man zuvor nicht die Bedeutung beigemessen hat. Die Magie des Buches wird den Leser immer mehr in seinen Bann ziehen.
    „Die Tigerfrau“ ist ein Roman von Leben und Tod, eine Familiengeschichte, eine Liebesgeschichte – kurz, ein wunderbares, psychologisch ausgefeiltes, reifes Werk einer jungen Autorin.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Hmm, um dieses Buch schleiche ich schon seit einer Weile herum und bin auch wegen der von dir, liebe Karthause, angesprochenen "Mystik" hin- und hergerissen. Alles, was so in die fantastische oder mystische Richtung geht, ist nicht so "meins". Dass DU diesem Roman nun 5 Sterne gegeben hast und so begeistert bist, lässt mich nun noch einmal in mich gehen :wink:

    Liebe Grüße,
    Rita


    ~Ich wäre lieber ein armer Mann in einer Dachkammer voller Bücher als ein König, der nicht lesen mag.~
    Thomas Babington

  • Rita
    In diesem Roman gibt es fantastisch-mystische Elemente, die sich ganz lapidar damit erklären lassen, dass zwischen Himmel und Erde Dinge geschehen, für die es keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Am ehesten kann man es vielleicht mit "Das Geisterhaus" Isabel Allende vergleichen. In Gedanken bin ich immer wieder bei dem Buch. Die Autorin ist 1985 geboren und hat ein wirklich "erwachsenes " Buch geschrieben, aus dem schon viel Lebensweisheit spricht.

  • Ich danke Conor und Karthause für die gelungenen Rezis! Ich kann da nichts mehr hinzufügen; es ist alles gesagt, was ich beim Lesen empfunden habe. Dieses wunderbare Buch kann ich allen nur ans Herz legen.

  • Inhalt

    Vierzig Tage nach dem Tod eines Menschen soll sein Hab und Gut nicht angerührt werden, damit seine Seele auf ihrer Reise nicht gestört wird. Natalias Großmutter kann von ihrem verstorbenen Mann noch nicht Abschied nehmen, weil das Krankenhaus, in dem er starb, seine Uhr und seine Brille nicht herausgegeben hat. Enkelin Natalia, Ärztin wie ihr Großvater, nutzt eine Impfaktion für Kriegswaisen außerhalb der Landesgrenzen, um selbst den Tod ihres Großvaters zu verarbeiten und vielleicht seinen Besitz dort aufzutreiben. Zwölf Jahre nach demn Krieg müssen die Menschen dort im Osten noch immer mit Landminen rechnen. Natalia und ihr Großvater waren eng miteinander verbunden, ihre gemeinsamen Besuche im Zoo und das Vorlesen aus dem Dschungelbuch bleiben eine unvergessliche Erinnerung an ihre Kindheit.


    Die Erzählungen von Natalias Großvater aus seiner Kindheit bilden einen der Rahmen, die diese Geschichte zusammenhält; der Tod einen zweiten und die Verbindung zwischen der Figur des Shir Khan im Kinderbuch und einem Tiger, den der Großvater als Kind gesehen zu haben glaubt, einen weiteren Rahmen. Zugleich vermittelt die Erinnerung an die im Krieg unversorgten Zootiere, die sich selbst auf Nahrungssuche begeben, viel eindringlicher, was Krieg bedeutet als manch andere Ankdote.


    Die Impfaktion, die Natalia mit einer Kollegin durchführt, konfrontiert mich als Leser mit den Folgen des Krieges und mit einem tief verwurzeltem Aberglauben, der sich um den Tod rankt. Die Geschichte vom Mann, der nicht sterben konnte und zum Wiedergänger wurde, hörte Natalia zuerst vom Großvater. Das Dschungelbuch war damals sein Wetteinsatz gegenüber dem Tod. Im Weinberg, den die junge Ärztin nun aus dem Fenster ihrer Privat-Unterkunft sieht, kann sie beobachten, wie eine Gruppe von Menschen nach einem Toten gräbt, der wegen des Krieges noch keine endgültige Ruhestätte gefunden hat. Die Grabenden im Weinberg hoffen, von ihren Krankheiten geheilt zu werden, nachdem der Tote seine Ruhe gefunden hat.


    Téa Obrehts preisgekrönter Erstling lässt sich nur mit dem Wissen um den Jugoslawienkrieg verstehen. Für Natalia sind in ihrer Kindheit Andeutungen, dass der Großvater von der falschen Seite stammt, zunächst unverständlich. Als Jugendliche erlebt sie, wie ihr Opa als älterer Arzt wegen seiner falschen Nationalität Berufsverbot erhält. In einer Schattenwelt behandelt er weiter seine ehemaligen Patienten, bis von ihnen fast keiner mehr lebt. Natalia hat den Krieg und seine Profiteuere, Schmuggler und Plünderer als Ausnahmezustand erlebt. Kinder nutzten den Krieg als Ausrede, um ihren Pflichten auszuweichen. Nur äußerlich geht das Leben für ihre Generation nun weiter, die latente Wut auf den Krieg ist noch immer zu spüren. Natalias Berufswahl erfolgt aus dem Pflichtgefühl, für ihr Land Besonderes leisten zu müssen.


    Fazit

    Die Biografie des Großvaters hat mich in diesem Roman besonders angesprochen und ebenso wie Téa Obreht dem regionalen Aberglauben nachspürt, den ich mir als Anlass für Konflikte zwischen Volksgruppen sehr gut vorstellen kann. Dass dieses Buch beim ersten Lesen noch längst nicht alle seine Handlungsebenen preisgibt, sollte Sie ermuntern, sich auf diese ungewöhnliche Geschichte einzulassen.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:


    (8.5.2012)

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: --

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow