Andreas Maier, Das Haus


  • In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen 2006 , die bei Suhrkamp unter dem Titel "Ich" veröffentlicht wurden, hatte der hessische Schriftsteller Andreas Maier schon einem breiteren Publikum Rechenschaft gegeben über die Hintergründe seines Schreibens:


    "Ich bin nur ein Mensch auf der Suche nach Worten, die längst schon gefunden sind, die im Matthäusevangelium schon alle dastehen, in perfekten logischen Sequenzen, schärfer, als Wittgenstein es je gekonnt hätte, eine erschöpfende Analyse dessen, warum wir falsch sind und warum wir dadurch schuldig werden vor allem und vor jedem, nämlich bloß kraft unseres wahrheitsfernen Tuns. Eine literarische Form dafür zu finden ist sehr schwer, ich glaube, man kann keine Form dafür finden, dass wir falsch sind, keine ernste, denn eine Form, die sich vom Einverständnis des Lesers verabschiedet, ist keine Form, sondern für den Leser eine Zumutung, wie ja auch das Matthäusevangelium. Das größte philosophische Werk des Abendlandes. Das uns nichts sagt als bloß: Seid nicht. Das uns sagt: Wenn ihr aufhört, zu sein, dann seid ihr. Meine Damen und Herren, wenn wir uns im Matthäusevangelium wieder finden, dann immer nur auf der Seite der Hohepriester, immer auf der Seite der Kleingläubigen, der Rechthaber, der Schriftgelehrten und Sophisten. Also auf Seiten derer, die sich verteidigen, die verteidigen, was sie haben, als sei das richtig, das ist unser tägliches Brot, die Selbstverteidigung, aber dieses Brot hat uns Gott nicht gegeben, und übrigens auch die Philosophie nicht, und die Literatur auch nicht. Und Sie begreifen vielleicht gar nicht, was das ist. Da Sie alles, was Sie haben und tun und wollen und erlangen, für natürlich und gut halten, und wenn Sie kurz nachdenken würden, aber im Ernst nachdenken, kehrten Sie um, aber das werden Sie nicht tun."


    Die unter dem Titel "Onkel J. Heimatkunde" vorgelegten gesammelten Kolumnen von Andreas Maier waren ein treffendes Beispiel dafür. Mit Spannung habe ich deshalb den ersten Band einer von ihm angekündigten, noch nicht begrenzten Romanreihe (man spricht von 10 Bänden) über seine Heimat, die Wetterau erwartet. Im Roman "Das Zimmer", vom autobiographischen Ich-Erzähler geschrieben, begegnet uns jener Onkel J. wieder. Sein Zimmer, in das sehr viel später der zu Lebzeiten des Onkels noch kleine Andreas Maier einziehen wird, sein Leben und seine Philosophie werden erzählt. Dazu nimmt Maier einen Tag aus dem Leben des Onkel und schildert seinen Ablauf vom frühen Aufstehen noch in der halben Nacht, seiner Fahrt nach Frankfurt, wo er arbeitet, seinen Diensten für die Familie nach seiner Rückkehr am Nachmittag und vor allen Dinge den Aufenthalt in seinem geliebten Forsthaus Winterstein, wo er seinen Schoppen trinkt. Onkel J. besitzt einen nazibraunen VW Variant, den er von seinem Schwager bekommen hat. Dieses Auto ist sein Ein und Alles, ermöglicht ihm die Momente von Freiheit, für die die lebt.


    Maier schreibt (und deutet auch weitere Folgen seiner "Ortsumgehung" an):


    "Ich bin bislang nie auf den Gedanken gekommen, über meinen geburtsbehinderten Onkel J. zu schreiben. Über ihn und sein Zimmer. Über das Haus und die Straße. Und über meine Familie. Und unsere Grabsteine. Und die Wetterau, die die ganze Welt ist. Die Wetterau, die für die meisten Menschen nach einer Autobahnraststätte benannt ist, A 5, Raststätte Wetterau. Und die heute in eine Ortsumgehungsstraße verwandelt wird. Die Wetterau ist eigentlich eine Ortsumgehungsstraße mit angeschlossener Raststätte. Wenn ich das sage, lachen sie. Und es war doch einmal meine Heimat. Meine Heimat, eine Straße, Und nun schreibe ich eine Ortsumgehung, während sie draußen meine Heimat ins Einstmals planieren, und ich beginne mit meinem Onkel in seinem Zimmer. Das ist der Anfang, aus dem sich alles ableitet."


    Das Buch hat den Rezensenten, der unweit der Wetterau seine ersten drei Jahrzehnte verbracht und sie gut kennt, nachhaltig beeindruckt und bewegt. Jener vielversprechende Beginn einer traurig- verrückten Familiensaga, die mehr ist als das, eine Buchprojekt, das eine Reflexion sei will über Zeit und Zivilisation und, vergleiche das Eingangszitat aus Maiers Poetikvorlesung, die Würde des Menschen und wie sie erhalten werden kann.


    Damals schrieb ich zu dem Projekt: „Man wird abwarten müssen, ob Andreas Maier das hohe literarische Niveau über das ganze Romanprojekt über wird halten können. Das vorliegende Buch jedenfalls zeigt, dass er viel mehr ist als ein "Heimatdichter". Maier ist eine der wichtigsten Stimmen in der gegenwärtigen deutschen Literatur. Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass "Das Zimmer" für den Deutschen Buchpreis 2010 nominiert worden ist.“

    Nun, ein Jahr später folgt der nächste Teil seiner „Ortsumgehung“. In „Das Haus“ beschreibt er seine Kindheit. Er ist in einer gut situierten Familie aufgewachsen, in der er aber als Spätentwickler sich dauernd einsam fühlt:
    „Im Grund habe ich von den Jahren vor der Schule vor allem on Erinnerung, wie ich dort unten im kleinen Bastelraum saß, allein mit mir und aufgegangen in einer Tätigkeit, die mich völlig aufhob. Ich war aus der Familie ausgeklinkt und lebte so lautlos und zufrieden vor mich hin wie am Anfang bei meiner Urgroßmutter, als noch alles
    einfach und problemlos gewesen sein soll. Es war das wiedergefundene Paradies.“

    Und an anderer Stelle des faszinierenden Romans knüpft er an diese Stelle an, und verbindet es mit seiner heutigen Existenz als Schriftsteller und seinem großen und doch so einfachen und schlichten Projekt:
    „Bis heute kommt es mir vor, als habe damals mein Kopf begonnen, mit eine Geschichte zu erzählen, die Geschichte meiner Welt oder der Welt schlechthin. Vielleicht erzählten mir diese Geschichten auch meine Augen, meine Retina, vielleicht waren es meine überstrapazierten Nerven oder der liebe Gott, keine Ahnung. Vielleicht war es einfach die Welt, die mir die Welt erzählte. Seitdem ist mir immer dieser Gedanke geblieben, dass ich nach wie vor daliege und dass es noch immer damals ist, noch vor der Grundschulzeit und eigentlich noch zur Zeit meiner Urgroßmutter, und dass dennoch alles bereits da und komplett vorhanden ist, da ich im Zimmer meines Onkels sitze und dieses schreibe, das Zimmer, das Haus und alles weitere, die ganze Ortsumgehung, während sie draußen ihre ‚Ortsumgehung’ bauen und meine Herkunft und alles, wovon ich schreibe, Zug um Zug ins Einstmals planieren. Und dass ich in die mir kaum mehr vorstellbare Einfachheit und Einheitlichkeit der damaligen Welt meiner allerersten Jahre zurückkommen muss, um von dort aus alles weitere aufzubauen, das Haus, meine Kindheit darin, die Schulzeit, meine Familie, meine Umgebung, die anderen Menschen, auch das Draußen, den Ort um mich herum, die Wetterau, meine ganze Herkunft und schließlich die ganze Welt bis zum lieben Gott. Eine Einfachheit, die mein geburtsbehinderter Onkel J. zeit seines Lebens vielleicht nie verloren hatte.“

    Ein Buch, das mich gefangen genommen hat von der ersten bis zur letzten Seite. Auch deshalb, weil es nahtlos anschließt an die beiden Romane „Onkel J. Heimatkunde“ und „Das Zimmer“. Es ist die Fortsetzung einer mit diesen beiden Büchern begonnenen und noch lange nicht abgeschlossenentraurig- verrückten Familiensaga, die mehr ist: eine Reflexion über Zeit und Zivilisation.

    Eines steht für mich heute schon fest. Ich werde dieses Romanprojekt verfolgen bis zu seinem Ende, und hoffe, dass es von der Kritik in Zukunft mehr Anerkennung erfährt.