Hallgrímur Helgason - Rokland

  • Nach dem Impuls durch die Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr hatte auch ich mich unter den isländischen Autoren nach Lesenswertem umgesehen. Wobei natürlich ein Klappentext wie der von Helgasons Rokland nicht wirkungslos an mir vorbeigehen konnte:


    Zitat

    „Diese Verwahrlosung, die das Unbeweibtsein beim Mann auslöst, ist schon bemerkenswert. Aber womöglich war sie von der Natur so eingerichtet.“
    Krókur hat genauso viele Frisiersalons wie weibliche Einwohner. Aber selbst die schöne Briefträgerin verweigert sich Böddi. Er hält es in seinem isländischen Kaff nicht mehr aus: Immerhin hat er in Berlin Nietzsche und Hölderlin studiert.
    Nach einem missglückten Klassenausflug fliegt er als Lehrer von der Schule, schläft mit der Tochter des Rektors und setzt seinen Kampf gegen die Verblödung seiner Heimat im Internet fort. Schließlich wird der isländische Don Quijote auch noch vor die eigene Tür gesetzt. Genug Gründe, um die Revolution auszurufen.


    Ganz logisch, dass es so ein Klappentext bei mir sofort in das dunkelste Blau meiner WL geschafft hat, und ein lieber Bücherfreund hier aus dem BT hat mir zu Weihnachten diesen Wunsch erfüllt. Im Januar habe ich das Buch gelesen und der Impakt auf mich war so heftig, dass ich gar nicht recht wusste, wie ich es denn nun bewerten sollte.
    Jetzt, ein paar Wochen später, kann ich sagen, dass ich mich derartig gern an diese Lektüre zurückerinnere, dass ich es am liebsten ganz vielen Leuten mit einer dringenden Leseempfehlung in die Hand drücken möchte.



    Aber der Reihe nach:


    Böðvar Halldór Steingrímsson, genannt Böddi, ist ein intellektueller und gleichzeitig fast Abscheu erweckender verwahrloster Isländer, der nach langen Jahren in Deutschland mit seiner Mutter in deren Haus in einer isländischen Kleinstadt lebt, nämlich im Rokland-Haus, von dem der Roman seinen Namen erhielt. Böddi verachtet den Großteil seiner Landsleute, die (wie ein ziemlich großer Teil der restlichen Weltbevölkerung) der Verblödung durch Konsumabhängigkeit und Fernsehsucht anheimgefallen sind. Als verkannter großer Denker Islands, für den er sich hält, kann er es nicht lassen, dieser gesellschaftlichen Dekadenz aktiv entgegenwirken zu wollen: zum einen mit recht radikalen pädagogischen Maßnahmen, deretwegen er prompt seine Stellung als Lehrer verliert; zum anderen mit seinem Blog im Internet, den er aber nicht nur zum Aufzeigen von gesellschaftlichen Missständen nutzt, sondern auch um seine ganz persönliche verbale Rache an denen zu nehmen, die ihm seiner Meinung nach in irgendeiner Weise Unrecht getan haben.


    Der Autor schickt seinen Protagonisten Böddi in die unmöglichsten schrägen Situationen, die in der Natur ihrer Sache mehr als platt wirken könnten, wäre da nicht der durchaus geniale Hang Helgasons zu Skurrilitäten und zu beißendem Sarkasmus, die mich besonders in der ersten Hälfte von Rokland oft genug zum lauten Auflachen gebracht haben.
    Im Laufe der Lektüre muss Böddi gravierende Verluste hinnehmen, sowohl in wirtschaftlicher als auch in emotionaler Hinsicht von Personen, zu denen er, wenn auch unfreiwillig, eine Beziehung aufgebaut hat (auch hier ganz auf die skurrile Böðvarsche Art – vom Feinsten); wobei Böddi sich mehr oder weniger von seinen adversen Lebensumständen treiben lässt.


    Irgendwann jedoch sammelt sich die revolutionäre Energie in Böddi und verwandelt ihn in einen aktiven Revoluzzer gegen den eklatanten Missstand der Bevölkerungsverblödung, woraufhin er plötzlich einen konkreten Plan zur Gegenmaßnahme entwickelt. Er vergleicht sich selbst mit Nietzsches Zarathustra; ein gelungener Anklang an diese Figur, wie mir scheint.

    Auch die zweite Hälfte von Rokland entbehrt nicht der schrägen und skurrilen Details, die eines wahren Böddi-Charakters angemessen und würdig sind.
    Doch das Grundanliegen des Autors, nämlich genau diese gesellschaftliche Verblödung, tritt mit fortschreitenden Kapiteln immer deutlicher, ernster und verzweifelter in der Figur unseres Helden Böddi zutage. Dass die Ausführung seines Plans bei einer Person wie Böddi sich in dramatisch-drastischen Ereignissen verschärft und alles andere als positiv enden kann, wird dem Leser ziemlich schnell klar, was der literarischen Dramatik jedoch keinen Abbruch tut.


    Der Protagonist brachte mich immer wieder zum Staunen mit dem gedanklichen Reichtum, den er „auf Lager hat“. Kleine gedankliche Streifen, die sich durch hohe Luzidität charakterisieren und durch den heruntergekommenen Wust seines Daseins ziehen; denen außerdem eine Poesie innewohnt, die zwischen all der literarischen Schräge auf ganz besondere Weise hervortritt, z.b. Gedanken um die Fähigkeit, mit einer simplen kurzen Berührung der Haut eines Menschen Leben und Tod unterscheiden zu können; oder die gedankliche Hinführung zu Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens, das am Ende des mit „Dornröschen“ betitelten Kapitels 15 abgedruckt ist – eine zugegebenermaßen seltsame Hinführung zum Gedicht, die mich jedoch in diesen paar Zeilen Lyrik eine Bedeutung hat sehen lassen, die ich ohne Böddi wahrscheinlich gar nicht erkannt hätte.


    Seit der Lektüre von Glavinics Kameramörder habe ich eine Schwäche für das Thema unmäßigen und kritiklosen Medienkonsums entwickelt, ein Thema, das, wie ich glaube, kein Gefälligkeitsgeschreibsel duldet, mit dem ein Autor für gewöhnlich all solche Leser zufriedenstellt, die auf leicht verdauliche Themen, noch dazu auf möglichst gefällige Art verarbeitet, bestehen.


    Hallgrímur Helgason ist genau der Mann für so ein Thema: Kompromissbereitschaft scheint ihm nicht zu liegen; der Leser wird durch das raue literarische Rokland (übersetzt: Sturmland) gebeutelt, das den zerklüfteten Klippen Islands sicherlich in nichts nachsteht. Rokland lässt sich weder schnell noch leicht lesen, es ist alles andere als ein Wohlfühlbuch. Diese Lektüre hat mich Arbeit gekostet, das gebe ich gerne zu. Aber wer davor zurückschreckt, der lässt sich ein Buch entgehen, das durch genau diesen Mut zur Kompromisslosigkeit, durch die Größe der enthaltenen Nachricht und nicht zuletzt durch die unvergleichlich skurrile und geniale sprachliche Ausarbeitung die Mühen der Lektüre vielfach belohnt.
    Sicherlich ist Rokland kein Buch für Leser, die sich von ihrer gewohnten Kost nur ungern wegbewegen. Schade jedoch, denn dieses Buch bietet die Erfahrung, dass man auch weniger leichte Literatur in vollen Zügen genießen kann (Helgason wird durchgehend sehr deutlich in seiner Intention. Man braucht als Leser nicht lange herumzuraten, was er eigentlich sagen will, Zweifel kommen da meiner Meinung nach gar nicht erst nicht auf).


    Ich würde gerne von viel mehr Details und Facetten in Böddis Dasein berichten, z.B. wie ihn die Erkenntnis einer Vaterschaft mit voller Wucht und den dazugehörigen Gedanken trifft. Oder von seiner zarten und vergeblichen Verehrung für eines der feenhaftesten weiblichen Wesen, die seine verlorene Kleinstadt hervorgebracht hat. Die literarische Anlehnung hierbei an Cervantes Don Quijote ist in diesem Aspekt sowie im vergeblichen Kampf gegen den Giganten der gesellschaftlichen Verblödung treffend witzig umgesetzt (und ich bin versucht zu sagen „schön“, aber bei Rokland funktioniert dieses Adjektiv per definitionem nicht). Es gibt viele Punkte in diesem Buch, die mich so begeistert haben, dass ich am liebsten das ganze Buch hier abtippen würde.

    Eigentlich könnte man Böddis Humor und Schicksal in Rokland mit einem kleinen Zitat aus dem Buch zusammenfassen, als Böddi sich in seinen Wunschträumen nach großem Ruhm als den dritten Mann einer Freundschaft bedeutender Männer sieht: Goethe, Schiller und natürlich Böðvar Halldór Steingrímsson, wie er sich mit ihnen in den Straßen von Weimar sieht (am Ende von Kapitel 30 „Messer und Stahl“, Seite 337):


    Zitat

    >>Was halten Sie eigentlich von unserem jungen Freund Böðvar hier? << fragte der Erstgenannte (Goethe) und wandte ein wenig den Kopf, ohne den schüchternen Isländer aber direkt anzusehen.
    >>Er ist wie mein Wallenstein. Er unterliegt nicht, weil er ein Aufrührer ist, sondern er revoltiert, weil er unterliegt<<, antwortete Schiller.
    >>Ach so<<, sagte Goethe.



    Zum Abschluss der Aspekt der isländischen Landschaften in Rokland: wer auf ergreifende Beschreibungen wilder und zerklüfteter Klippen hofft, sollte die Hoffnung lieber gleich hier und jetzt aufgeben. Der Leser bekommt nämlich eher Formulierungen geboten in der Art der Beschreibung Krókurs, Böddis Wohnort (Kapitel 18 „Ein Prophet auf Landsendi“, Seite 204):


    Zitat

    >>Im Spätwinter … wurde der Ort so gut wie unsichtbar. Eine kleine Invasionstruppe, die von See her landen wollte, würde ihn an einem solchen Morgen kaum finden. Das einzige, was daraus hervorragte, war der Kirchturm mit Kreuz und Spitze, eine internationale Landebahnmarkierung für den Heiligen Geist, der nach Böddis Überzeugung allerdings den Linienverkehr mit diesem Ort vor langer Zeit eingestellt hatte.<<


    Rokland in wenigen Worten zu rezensieren und dabei auch nur halbwegs seine komplexe Genialität deutlich zu machen, erscheint mir fast unmöglich. Vielleicht in etwa so?: Es tut unheimlich gut, so ein enorm gutes Buch wie Hallgrímur Helgasons Rokland gelesen zu haben. 8-[




    Zum Autor:
    Hallgrímur Helgason, 1959 in Reykjavík geboren, studierte Malerei in Reykjavík und und arbeitet seit 1982 als Autor und bildender Künstler in seiner Heimatstadt. Von ihm sind bisher vier Romane, zwei Bühnenstücke und ein Gedichtband erschienen, außerdem zeichnet er eine Comic-Serie für eine isländische Zeitung.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

    Einmal editiert, zuletzt von Hypocritia ()

  • Die TB-Ausgabe wird meine Buchhandlung dann hoffentlich auf Lager haben, anders als das HC. Nachdem schon 3 weitere Bücher Helgasons bei mir subben, muss dieses wahrscheinlich auch her.

    "Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler" (Philippe Dijan)


    Tauschgnom