Olga Tokarczuk - Ur und andere Zeiten

  • Kurzmeinung

    Aladin1k1
    Das wenig erbauliche Leben der Menschen in Ur in der Zeit der beiden Weltkriege.
  • Klappentext:

    Zitat

    Das Städtchen Ur befindet sich in einem eigens für seine Bewohner erschaffenen kleinen Kosmos, der von den vier Erzengeln bewacht wird. Gleichzeitig ist dieser Ort in der realen Welt angesiedelt und schildert die Geschichte Ostpolens von 1914 bis heute. Mit Leichtigkeit und subtiler Ironie erzählt Olga Tokarczuk Geschichten aus dem Leben ihrer Figuren: von der zarten, aber unerfüllten Liebe zwischen Genofewa und dem Jungen Eli; vom verarmten Baron, der den Sinn des Lebens in einem kabbalistischen Spiel findet; von Genofewas Mann Michal, der 1919 aus dem Krieg heimkehrt und zum ersten Mal seiner Tochter Misia begegnet. Tokarczuks besondere Kraft liegt in ihrer bildhaften Erzählweise, in der das Träumen und Imaginieren seinen Platz hat.


    Ur und andere Zeiten erzählt die Geschichten zweier Familien, die der Boski und die der Niebieski, das fiktionale Dorf Ur bewohnend.


    Das Buch beginnt mit dem Ersten Weltkrieg und kommt zu einem Ende in den 1980er Jahren. Es beschreibt die Irrungen und Wirrungen dreier Generationen aber es ist mehr als nur eine Familiengeschichte. Es beschreibt die Welt als solches in welches es reflektiv, magisch, historisch aber auch philosophisch ist. Es gibt eine ganze Menge an "Nebenbei"-Geschichten und auch, natürlich, eine ganze Menge anderer Charaktere in dem Buch, deren Schicksal oftmals ein (leicht) verwirrendes Puzzle aus Realität und einem kollektiven Portrait der Polnischen Provinz im vergangenen Jahrhundert ist.


    Es ist auch eine Geschichte über individuelle Personen, mit einem starken feministischen Touch. Ihr Engagement und manchmal beschwerliche Reise durchs Leben ist wirklich und authentisch.


    Izydor der weise Narr; die freundliche Misia; der griesgrämige Pawel, der Gutsherr Popielski der verrückt wird beim Spielen eines kabbalistischen "Spiel des Lebens"; Ukleja der seine Frau Ruta schlägt; der ungestüm-temperamentvolle Boski; Cornspike die in den Wäldern lebt und mit den Männern der Dorftaverne schläft.


    Diese einzelnen Personen sind eigentlich gar keine Personen per se, sondern mehr Urbilder von Menschen. Sie alle erfüllen einen Zweck als symbolische Figuren.


    Ur ist ein Provinznest, ein geschlossener Raum, aber auch eine Metapher für die Welt, der Mittelpunkt des Universums. Es ordnet nicht nur den Raum um sich herum, sondern auch Zeit. Das Dorf Ur wird so zum biblischen Eden. Ein kleiner Mikrokosmos des realen und des mystischen.


    Die Grenzen des Dorfes werden von den vier Erzengeln Michael, Uriel, Raphael und Gabriel bewacht; die tatsächlichen Grenzen vereint mit der unsichtbaren Welt.


    In das provinzielle Leben der Menschen von Ur kommt der Erste und der Zweite Weltkrieg, die Nazi-Besatzung und dann die Sowjetische Besatzung. Unter den Grausamkeiten des Krieges und der Invasion ist aber immer auch ein Hauch von Weichheit und Mystizismus. Als der deutsche Soldat Kurt getötet wird ist das kein grausames Rausreissen aus dem Leben sondern mehr ein gefühlvolles, sanftes Entschwinden.


    Zitat

    Da Gott Kurts Gedanken lesen konnte wie eine Landkarte und sich daran gewöhnt hatte, ihm seine Wünsche zu erfüllen, erlaubte er ihm, für immer in Ur zu bleiben. Er bestimmte ihm eine dieser vereinzelten verirrten Kugeln, von denen es heisst, Gott habe ihren Lauf gelenkt


    Das Dorf Ur ist gleichzeitig realistisch wie es magisch ist. Die Geschichte philosophisch wie sie symbolisch ist. Eine Mischung aus Realität und Fantasie, rationaler Beschreibung und Magie. Eine Story in Geschichte verankert und ebenso voller Wunder.


    Es ist natürlich eine Geschichte der Polnischen Provinz in einem turbulenten Jahrhundert des Krieges und der politischen Veränderungen aber, und das ist ein sehr starkes aber, es ist auch eine (relativ) komplizierte Parabel des menschlichen Schicksals.


    Der Schlüssel dazu ist Mythos. Der Name alleine, Ur, bringt einen zurück in die mythischen Anfänge der Welt. Es ist das geheiligte Zentrum der Welt um das sich der Raum und die Zeit präzise arrangiert in einem bedeutungsvollem Ganzen. Es ist die Geschichte von Genesis.


    Über all dem hinaus ist es eine brilliante Erzählung des menschlichen Lebens und auch Kampfes mit sich selbst, den Umständen, moralischen und religiösen Standards, Geschichte. Eine Story voller Zärtlichkeit für die Welt, trotz aller Grausamkeiten, und für die Menschen die auf ihr leben.


    Nennen wir es ein Märchen für Erwachsene, genau das ist Ur und andere Zeiten nämlich.


    Es ist eine poetische, romantische Mystik in dem Buch, unsentimental und tief berührend, die jedermann anzusprechen scheint. Es hat etwas zu sagen, etwas zu erzählen und eines der Wunder für mich ist daß man dieses Buch auf viele verschiedene Arten lesen kann. Es gibt mehrere Schichten innerhalb des Romans. Jedes Teil, jede Erzählung steht auf eigenen Füßen, während das Buch vor allem als Einheit funktioniert.


    Ich kann durch aus verstehen wenn jemand es mit Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez vergleicht. Beim Lesen selbst hatte ich jedoch nicht diesen Eindruck. Es ist vielleicht der gleiche Ansatz der diese beiden Bücher mit einander verbindet aber Olga Tokarczuk ist dennoch realistischer, mehr mit beiden Füssen auf dem Boden. Ich bezweifle auch stark das die Geschichte als solches an einem anderen Ort funktionieren würde. Es ist tatsächlich sehr polnisch. (Positiv gemeint, damit es nicht zu Missverständnissen kommt.) Die Menschen, die Landschaft. Das kann man nicht so ohne weiteres transferieren aber es ist dennoch oder gerade deswegen auch sehr universell in dem was es zu sagen hat.


    Olga Tokarczuk weiß sehr genau was sie tut und die Charaktere wie der Gutsherr Popielski, Florentynka oder Genowefa sind typische Produkte ihrer ländlichen Umgebung aus einem typischen polnischen Dorf ihrer Zeit. Nicht einmal die seltsamen Dinge die geschehen scheinen fehl am Platz zu sein, sie passen perfekt in die Realität. Es eine sehr fein abgestimmte Mischung.


    Der große Vorteil ist das Fehlen von Wichtigtuerei und Pathos. Metaphern und Symbole sind nicht verschleiert, sie benötigen keine Kenntnisse einer besonderen Art. Alles wird klar und einfach (auch wenn die religiösen und philosophischen Ideen eventuell den einen oder anderen Gedankengang brauchen *schmunzel*).


    Das kleine Dorf Ur, obwohl es nur ein Punkt auf der Karte des Universums ist, ist wirklich der Mittelpunkt der Welt. Der Mittelpunkt ist überall dort, wo wir sind. Wo wir sind, ist die Welt. Und das sagt Olga Tokarczuk wunderschön.


    In kurz: Mein liebstes Buch zu dem ich immer wieder gerne zurückkomme. Falls jemand neugierig geworden ist und bei Amazon reinschaut :wink: Bei der gebundenen Ausgabe ist eine brilliante und oft zitierte Rezension von Ilma Rakusa der Neuen Zürcher Zeitung zu finden. Lesenswert.


    Wunderbar aus dem Polnischen übersetzt von Esther Kinsky, die auch, und das soll nicht unerwähnt bleiben, eine fantastische Schriftstellerin ist.

  • Danke für diese ausführliche, neugierig machende Rezi.


    Diese Autorin zieht mich schon seit langem an, und man hört so viel Gutes von ihren Büchern. Sie gilt als die große, noch relativ junge Schriftstellerin Polens. Ich habe "Unrast" und "Anna In den Katakomben" von ihr auf dem SUB und will sie nun wirklich bald mal von diesem Stapel befreien! Dazu dann mehr später?!

  • Tom Leo, nichts zu danken. Solange mir (noch) jemand zuhört werd ich nicht aufhören über dieses wunderbare Buch zu reden :wink:


    Unrast ist auch auf meinem SUB, dh eigentlich sind es alle ihre Bücher. Ich mag einfach ihren subtilen Humor, ihre Sanftheit. In Ur und andere Zeiten gibt es zB eine Vergewaltigungsszene als Ruta als Mädchen im Zweiten Weltkrieg in ihrem Ungestüm etwas zu nahe an die Frontlinien gerät und von einer Gruppe sich auf der Flucht befindlichen Nazi-Soldaten vergewaltigt wird. Schwer verletzt und bewusstlos wird sie einfach auf der Strasse liegengelassen wo sie nur ein paar Stunden später von einer Gruppe russischer Soldaten gleich nochmals vergewaltigt wird. Keine schöne Szenen wie man sich ohne Weiteres vorstellen kann aber Tokarczuk ist hier nicht grausam oder kalt wie man es eventuell erwarten kann sondern voller Mitgefühl und sehr einfühlsam.


    Tokarczuk ist eine feinfühlige Autorin, aber eben auch voller Phantasie die Genres miteinander verbindet, durch Welten streift und neue erfindet aber auf eines niemals vergisst: Ihr Leser. Sie ist was das betrifft einfach eine Geschichtenerzählerin der altmodischen Art. Ihr Erzählungen haben etwas intuitives, etwas das man mehr mit allen Sinnen spürt und fühlt als tatsächlich, zumindest beim ersten Mal lesen, rein rational begreift.


    Aber wenn man einmal zum nachdenken anfängt über was sie alles schreibt dann hat man durchaus sehr viele Nüsse zu knacken. Das find ich eben auch grad das unglaublich geniale an ihr. Sie ist was das betrifft eine Artistin die mit einer unglaublichen Leichtigkeit sehr viele Bälle in der Luft jongliert ohne das man es wirklich bemerkt. Man muss schon etwas genauer hinsehen um den Trick des "Wie" raus zubekommen, während man es sich auch gemütlich machen und einfach "nur" staunen kann "Was" sie eigentlich macht.


    Bevor mein Geschreibsel hier zu sehr ins Obskure abgleitet: Selber lesen ist immer noch das Beste und das kann ich durchaus mit besten Wissen und Gewissen empfehlen.

  • Um auf das "auf verschiedene Arten" lesen zurückzukommen... man kann das Buch als reine Familiengeschichte über sieben Jahrzehnte sehen und sich am Schicksal der Personen erfreuen und mit ihnen mitleiden. Und es gibt jede Menge an Freude und Trauer, langweilig wird einem dabei sicher nicht.


    Man kann es auch von einem rein historischen Standpunkt aus lesen, dh über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis hin zum Kommunistischen Regime und seiner Herrschaft (welches in einer grandiosen Szene mit Izydor bei einem unfreiwilligen "Interview" mit dem polnischen Geheimdienst sehr parodierend aber auch entlarvend dargestellt wird).


    Oder man sieht die religiösen und philosophischen Ideen über Gott und die Welt. Hier ist es unter anderem christlich was sich schon auf der ersten Seite mit der Erscheinung der vier Erzengel zeigt. Und die Erzählung als solches ist eben durchaus auch voll mit biblischen Andeutungen.


    Es gibt aber auch diese kabbalistische "Spiel des Lebens" in dem Gott seine Aufwartung macht (oder auch nicht, je nach "Welt" in dem sich das "Spiel" gerade befindet) dh auch das Judentum spielt hierin eine Rolle. Damit ist es aber nicht getan, auch Ideen haben ihren Platz die ich in meiner Unwissenheit und grober Fahrlässigkeit nur als buddhistisch bezeichnen kann.


    Seelenwanderung kommt vor; Tiere, Pflanzen aber auch Steine haben Leben in sich, eine Erinnerung. Das grandiose dabei ist das diese verschiedenen religiösen Ideen und Philosophien sich nicht ausschliessen sondern sich ergänzen und eine Einheit bilden.


    Olga Tokarczuk, das wird vorallem klar in ihren Interviews, hat eine sehr spirituelle Sicht auf Dinge. Alles und jeder hat eine Bedeutung und einen Platz in dieser Welt.


    Wenn man all diese verschiedenen, von meiner Seite aus jetzt nur kurz und grob angerissenen, Ideen zu einem großen Ganzen verbindet hat man allerdings den größten Lesegenuß.


    Es ist einfach und komplex zugleich. Einfach weil eben nichts verschleiert wird, komplex dadurch weil es so viele verschiedene Ebenen hat die man erstmal finden und sehen muss, aber eben auch verstehen.


    Der einzige "turn off" ist das Ur und andere Zeiten anscheinend relativ schluddrig verlegt wurde im deutschsprachigen Raum. Bei Amazon (und auch bei anderen online Büchershops) scheint es nur mehr gebraucht erhältlich (oder eben gar nicht) was mir (Überraschung) eigentlich unverständlich ist. Es gibt auch eine absolut fantastische Übersetzung ins Englische von Antonia Lloyd-Jones als Primeval and other times die von dem in Prag ansässigen und sehr sympathischen Leuten von Twisted Spoon Press herausgebracht wurde.


    Beide Übersetzungen gelesen und für gut befunden :D

  • Das Buch hat mir unglaublich gut gefallen, mein bisheriges Jahreshighlight, ich würde sogar sagen, das Highlight der letzten beiden Jahre (2018 war es „Lincoln im Bardo“).


    Trotz des vielleicht „anstrengend“ klingenden Inhalts, ist der Roman sehr unterhaltsam geschrieben. Die Einteilung in relativ kurze Kapitel ermöglicht es, sich die Lesezeit einzuteilen, ohne dass man bei Wiederaufnahme der Handlung das Gefühl hat, den roten Faden verloren zu haben.


    Neben der Geschichte mehrerer Einwohner und Familien aus dem Dorf Ur zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg geht es (wie in „Der Gesang der Fledermäuse“ derselben Autorin) um die Natur und um Zustände zwischen Realität und Fantasie bzw. Mystik.
    Viele Personen sterben und befinden sich danach u. U. nicht in dem Zustand, den man allgemein unter „Tod“ versteht. Auch Orte in der Umgebung von Ur sind nicht immer das, was sie scheinen. Des Öfteren kommt Gott zu Wort oder wird zitiert und auch er/sie/es wirkt eher menschlich als göttlich.


    Olga Tokarczuk erzählt in einer bodenständigen, rustikalen und auch warmen Sprache. Ich würde es „volksnah“ nennen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb mich ihre Erzählung an eine Sage (oder Legende) erinnert.


    Erwähnte ich bereits, dass ich begeistert bin:wink:?

  • Viele Personen sterben und befinden sich danach u. U. nicht in dem Zustand, den man allgemein unter „Tod“ versteht.

    :lol: Das hast du schön formuliert. :lol:

    :study: I. L. Callis - Doch das Messer sieht man nicht

    :study: Nadia Murad - Ich bin eure Stimme

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • ### Inhalt ###

    In einem Land zwischen Realität und Fiktion, in Ur, einem Landstrich in Polen, spielt die Handlung dieses Romans. Über mehrere Generationen hinweg vom Anfang bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit mitten durch die Zeit der Weltkriege erfahren wir als Leser vom Leben und Wirken seiner Einwohner. Dazu gehört ein Freiherr, eine Müllersfamilie, ein Wasserwesen, was vorher ein Mensch war und keine Ruhe findet, ein Wilder, der Menschen überfällt, eine Hure.



    ### Meinung ###

    Die Erzählweise wirkt märchenhaft und damit in seiner Einfachheit eindringlich und kraftvoll. Es entstehen beim Lesen immer Bilder vor dem inneren Auge. Zentrales Motiv scheint mir die hermetische Abgeschlossenheit von Ur nach außen zu sein. Oftmals nehmen sich die Einwohner von Ur vor, ihr Land zu verlassen, aber eine magische Grenze scheint sie davon abzuhalten. Große Ereignisse wie die beiden Weltkriege werden aus Sicht der Einwohner aus unbekannten Gründen geführt und verursachen nur Unverständnis und Leid. Beim Lesen legt sich ein Schleier der Trauer aufs Gemüt, der Vergeblichkeit allen menschlichen Handelns, welches hauptsächlich aus Geburt, Erwachsenwerden, der dringenden Suche nach einem Partner, Hochzeit, Kindern, Arbeit, Arbeit, Arbeit, Verlassenwerden und Tod besteht. Unerfüllte Liebeswünsche, Bestrafung für harmlose Hobbies durch staatliche Willkür, Einlieferung ins Heim, einsamer Tod ist eine andere Variante. Die moderne Enkelin der Müllersfamilie kommt Jahre später und besucht ihren ergrauten Vater, ein Relikt der Vergangenheit, der auch gar nichts mehr von seiner Enkelin wissen will und nur noch sterben will, sodass er sie ohne Abschied der Tür verweist.



    ### Fazit ###

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    Das Leben der Menschen in Ur, einem fiktiven Landstrich in Polen über ein Dreiviertel-Jahrhundert. Der vergebliche Versuch der Menschen sich in einer Welt aus Geburt, Werden und Tod, in einem unverständlichen Leben voller Schicksalsschläge und Verlusten zurechtzufinden. Insgesamt durch die Schreibweise gut lesbar, aber nichts, was bei mir auf eine Must-Read-Liste gehört und daher empfehlen würde.

    Der ideale Tag wird nie kommen. Der ideale Tag ist heute, wenn wir ihn dazu machen. -- Horaz


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