Sorj Chalandon - Die Legende unserer Väter / La légende de nos pères

  • Klappentext:
    Marcel Frémaux schreibt Auftragsbiographien. Lupuline, die Tochter des über 80 Jahre alten Tescelin Beuzaboc, bittet ihn, die Lebensgeschichte ihres Vaters niederzuschreiben und seine Erlebnisse in der Résistance festzuhalten. Mehrmals treffen sich die beiden Männer, Marcel notiert genau Tescelins Schilderungen. Sind Tescelins Berichte aber wahr? Bei Marcel wachsen die Zweifel. Er beginnt zu recherchieren und konfrontiert bald den alten Mann mit seinem Verdacht, dass dessen Erinnerungen erfunden sind. (von der Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    Sorj Chalandon war Journalist bei der Zeitung "Libération". Seine Reportagen über Nordirland und den Barbie-Prozess wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane "Le petit Bonzi" (2005), "Une promesse" (2006, ausgezeichnet mit dem Prix Médicis) und "Mon traître" (2008 ). Sein vierter Roman "La légende de nos pères" (2009) ist sein erstes Buch in deutscher Übersetzung. Der folgende Roman "Retour à Killybegs" (2011) wurde mit dem Grand Prix du roman de l'Académie francaise 2011 ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt 2011 nominiert. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeines:
    Originaltitel: La légende de nos pères
    Erschienen 2009 bei Éditions Grasset et Fasquelles
    Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große
    24 Kapitel auf 197 Seiten, die Kapitel mit * - Abtrennung in Abschnitte unterteilt.
    Geschrieben in der Ich-Perspektive von Marcel Frémaux in chronologischer Reihenfolge von November 2002 bis Oktober 2003.


    Inhalt:
    Nachdem er seine Journalisten-Tätigkeit aufgegeben hat, schaltet Marcel Frémaux Anzeigen in Zeitungen und Wochenblättern, um seine Dienste als Biograph anzubieten: Er verfasst nach intensiven Gesprächen mit zumeist älteren Menschen deren Erinnerungen, lässt sie drucken und binden.
    Bei der Beerdigung seines Vaters fällt ihm ein Unbekannter mit seiner Tochter auf, die er beide bereits bei Beerdigungen anderer Resistance-Kämpfer zuvor gesehen hatte. Die Frau, die immer rote Schuhe trägt, heißt Lupuline; sie wendet sich eines Tages an Marcel, damit er die Geschichte ihres Vaters Tescelin Beuzaboc aufschreibt, die sie als Kind sehr beeindruckt hatte. Doch zuerst muss sie ihren Vater von ihrer Idee überzeugen und ihn überreden, sich mit Marcel zu treffen. Es gelingt, und Marcel macht sich an die Arbeit.


    Eigene Meinung / Beurteilung:
    Bisher füllte Marcel die Auftragsbiographien für seine Kunden mit dem, was sie ihm erzählten. Ob jedes Wort den Tatsachen entsprach, kümmerte ihn nicht, Hauptsache, dass sie mit ihren Erinnerungen in Buchform zufrieden waren.
    Diesmal ist es anders; Marcels versucht, die Erzählungen des Résistance-Kämpfers Tescelin Beuzaboc anhand von alten Zeitungsartikeln und historischen Büchern zu verifizieren, denn zum ersten Mal fühlt er eine persönliche Verbundenheit mit dem Schicksal eines Kunden: Marcels verstorbener Vater war als Angehöriger einer Resistance-Gruppe von den Deutschen aufgegriffen und interniert worden. Als Kind hatte Marcel auf die Berichte des Vaters gleichgültig reagiert; heute bereut er dies und ist neidisch auf seinen älteren Bruder, der aufmerksamer war. Doch sein Bruder ist inzwischen auch tot, so dass er von ihm nichts mehr über das Leben des Vaters erfahren kann. Zunächst scheint es, als könne Beuzaboc eine Spur zu Marcels Vater legen. Sofern er nicht lügt.
    Schnell ist klar: Beuzaboc erfindet seine Geschichten. Doch warum? Will er nur seine Vergangenheit schönen? Und was wird Marcel mit den Phantasien machen? Er könnte den alten Mann entlarven. Oder eine fiktive Biographie schreiben.


    Über weite Strecken gleicht das Buch einem Zwei-Personen-Stück mit Beuzabocs Wohnstube im heißen Sommer 2003 als Bühne. Kein Lüftchen regt sich in dem dunklen Zimmer, den Männern tropft der Schweiß von der Stirn, ihre Kleider kleben am Leib. Die innere Anspannung beider durchdringt die schwülheiße Luft. Zeitweise können sie nicht miteinander umgehen, aber auch nicht ohne einander weitermachen. Bis sie sich nicht mehr wie Biograph und Kunde gegenüberstehen, sondern eine Schicksalsgemeinschaft bilden, zusammengeschweißt durch ihre Vergangenheit. Ob sie sich sympathisch sind, spielt eine untergeordnete Rolle.


    Doch auch die dritte Person, Lupuline, ist für beide Männer bedeutsam. Nicht nur, weil sie ihren Vater und Marcel zusammenbringt. Einerseits ist sie die Ursache für Tescelins Erzählungen, andererseits hält sie Marcel einen Spiegel vor: So wie sie hätte er seinem Vater zuhören, dessen Worte bewahren müssen. Sich auf Beuzabocs Biographie einzulassen, war anfangs nur eine Ersatzhandlung, dem schlechten Gewissen entsprungen. Statt die wahre Biographie eines Résistance-Kämpfers zu schreiben, plagt er sich nun mit halb Wahrem, halb Erdichtetem.


    Mit großem Gespür für die Untertöne schildert der Autor die – nicht nur durch das unerträgliche Wetter – erhitzte Atmosphäre zwischen Marcel und Tescelin, die langsame, anfangs unmerkliche Veränderung der Beziehung, bis am Ende, nachdem das Buch gedruckt ist, eine Art Rollentausch geschieht.


    Für dieses Buch spreche ich eine klare Lese-Empfehlung aus; interessiert man sich für die französische Geschichte, speziell die des 2. Weltkriegs, erfährt man Details über das Wirken der Widerstandsbewegung. Abgesehen davon thematisiert es den Umgang mit und den Respekt vor der Vergangenheit – der eigenen und der fremden.


    Fazit:
    Ein ungewöhnlicher, fesselnd erzählter Roman.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Sorj Chalandon - Die Legende unserer Väter“ zu „Sorj Chalandon - Die Legende unserer Väter / La légende de nos pères“ geändert.