Gerlind Reinshagen - nachts

  • Gerlind Reinshagen – Nachts


    Einmal verwählt, und schon entwickelt sich aus der Laune des Augenblicks eine Telefonbeziehung zwischen einer jungen Frau und einem älteren Mann, die mehr als zwei Jahre währt, am Anfang von einer beschwingten Leichtigkeit getragen ist, aber sehr schnell obsessive Züge erhält, deren Wirkung sich der Lesen nur schwer entziehen kann.
    Ein vom Leben enttäuschter Landarzt, acht Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg geboren und nach seinen eigenen Worten „etwa im dritten Jahr nach dem Endsieg“ [sic] zu Verstand gekommen, beginnt im Plauderton ein Gespräch mit der jungen Anruferin, die sich wortreich dafür entschuldigt, die falsche Nummer gewählt zu haben.
    Daraus entsteht ein abendliches Telefonritual, bei dem die Frau immer mehr in die Rolle der Zuhörerin gedrängt wird, deren Meinung nicht gefragt ist, da sie ohnehin nur die klischeehaften Vorstellungen des Arztes von der jungen Generation bestätigen soll.
    Dennoch nimmt sie die Rolle an, treibt sogar das Gespräch durch gelegentliche, von feiner Ironie geprägte relativierende Äußerungen voran und ermöglicht es so dem Arzt, ausführlich sein Leben zu beschreiben, das er als einen letztlich vergeblichen Kampf gegen den „Virus der frühen Vergreisung“ sieht, der seine Generation als eine Folge des Krieges befallen hat.
    Liebe ist das nicht, im Gegenteil, als die junge Frau merkt, dass sie den lebensverneinenden Ansichten des Gesprächspartners zu erliegen droht, beendet sie nach zwei Jahren das Ritual mit dem Vorwurf, sie sei noch nie in ihrem Leben so „zerfetzt“ worden.
    Nach längerer Pause setzt sie, für den Mann unerwartet, das Gespräch fort, und diesmal ist sie es, die spricht. Sie beschreibt einen einzigen Frühlingstag mit einer so gesteigerten Wahrnehmungsintensität, dass sogar das Dröhnen der Presslufthämmer auf der Straße als Ausdruck eines alle Sinne beflügelnden vibrierenden Lebens erscheint.
    Erst hier kommt es zum Wendepunkt des Romans . . . , der zugleich das Ende markiert.
    „Nein. Keine Fragen mehr . . .
    Außer . . . eventuell . . . einer noch, einer einzigen, Teresa –
    Gänzlich unerheblich -, ja, das wär die Frage:
    Würden Sie, meine Fernfrau, von so weit her . . . wollen Sie mir ihr Leben erzählen?
    Ich bitte, Teresa, erzähl mir dein Leben.“


    Mir hat an dem Roman sehr gut gefallen, wie es Gerlind Reinshagen (* 1926) in authentischer Weise gelingt, sowohl die Angst eines Mannes angesichts eines entglittenen als auch die Gefühle einer jungen Frau inmitten des pulsierenden Lebens darzustellen.
    Das Buch hat mir auch geholfen, die Hoffnungen, Wünsche und Enttäuschungen der Generation besser zu verstehen, die ihre Kindheit und Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus eingebüßt haben.


    Rainy

  • Hallo rainy,
    vielen Dank für Deine schöne, einfühlsame Buchvorstellung. Ich habe von Gerlind Reinshagen bisher nichts gelesen, Deine Rezension macht mir Lust darauf, sie kennenzulernen.


    Willkommen im Forum und herzliche Grüße von


    :winken: Flojotop (auch einem Newbie)

  • Hallo Flojotop,
    danke für deinen Kommentar, ich glaube schon, dass sich die Lektüre lohnt, auch wenn man sich vielleicht nicht in alle Enttäuschungen des Landarztes hineinversetzen kann.


    Herzliche Grüße
    Rainy

  • Ja ein altes Thema, aber ich kann echt nix dafür. Mir hat das Buch trotzdem gefallen :uups: . Immerhin hats ja eine Frau geschrieben und nicht Philip Roth :lol: