Pierre Peju - Die kleine Kartäuserin/La petite Chartreuse

  • Eine französische Kleinstadt im November, kalter Regen fällt auf den Boulevard. Wie in Zeitlupe sieht der Buchhändler Etienne Vollard das Mädchen im roten Anorak auf seine Kühlerhaube aufschlagen. Ihn trifft keine Schuld, das Kind ist nach der Schule einfach auf die Straße gerannt. Eva überlebt schwerverletzt und liegt wochenlang im Koma, und während ihre Mutter die Besuche im Krankenhaus kaum erträgt, schafft Etienne, was sonst nur ein Vater könnte: Er, der ein kultivierter Sonderling ist und schon lange niemanden mehr im Arm gehalten hat, spricht mit dem bewußtlosen Mädchen, erzählt ihm unermüdlich Geschichten, liest ihm die schönsten Texte vor, die er in seinem kleinen Buchladen »Wort und Sein« finden kann. Nach Wochen erwacht Eva endlich – doch ohne jemals wieder sprechen zu können. Und dann wird sie in ein weit entferntes Sanatorium verlegt …


    Ein ganz ruhiges Buch und man muss sicherlich in der Stimmung sein, um es zu lesen und zu mögen.
    Ich fand's toll: die Beschreibung des eigenbrötlerischen Buchhändlers, der von Kindheit an ohne Freunde war; die Mutter, die selbst so unruhig ist, dass sie mit ihrer Tochter nicht viel anfangen kann; das kleine Mädchen, das so verloren wirkt...


    Insgesamt jedenfalls ein kleines (192 Seiten), feines Buch in diesem Frühjahr: mal rührend, mal deprimierend, mal gänsehauterzeugend.

  • Ich habe "Die kleine Kartäuserin" gestern ausgelesen und bin immer noch ganz benommen. Das Buch ist mir sehr unter die Haut gegangen. Es geht um drei Menschen, die durch einen Autounfall miteinander in Berührung kommen: Ein vernachlässigtes, emotional ausgehungertes Kind, eine überforderte Mutter, die ihrer Tochter nicht annähernd das geben kann, was sie dringend bräuchte und ein einsamer Buchhändler, der sich dem Mädchen behutsam zuwendet, aber auch scheitern muss.


    Ein ähnlich beklemmendes Gefühl hatte ich vor ein paar Monaten nach dem Buch "Die grauen Seelen" von Philippe Claudel. Beides wahrlich keine leichte Kost, aber für mich ganz hervorragende Bücher, was sowohl die wunderschöne Sprache angeht, als auch die Intensität der Gefühle, die beim Lesen ausgelöst werden.


    Liebe Grüße
    Siebenstein

    :montag: Judith Hermann - Daheim


    "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam."
    (Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen)


  • Dieses Forum hat mich neugierig auf "Die kleine Karthäuserin" gemacht ... habe es mir jetzt gekauft, aber noch nicht angefangen (kann/möchte nur ein Buch lesen). Kommt als nächstes an die Reihe ...


    Bin wirklich froh, Euch gefunden zu haben :cheers:


    LG, Steffi :cat:


    Lese gerade: Einer flog übers Kuckucksnest :thumleft:

    "Ein Leben ohne Hund ist möglich, aber sinnlos ..."

    (nach Loriot)

  • Kurzbeschreibung
    Eine französische Kleinstadt im November, kalter Regen fällt auf den Boulevard. Wie in Zeitlupe sieht der Buchhändler Etienne Vollard das Mädchen im roten Anorak auf seine Kühlerhaube aufschlagen. Ihn trifft keine Schuld, das Kind ist nach der Schule einfach auf die Straße gerannt. Eva überlebt schwerverletzt und liegt wochenlang im Koma, und während ihre Mutter die Besuche im Krankenhaus kaum erträgt, schafft Etienne, was sonst nur ein Vater könnte: Er, der ein kultivierter Sonderling ist und schon lange niemanden mehr im Arm gehalten hat, spricht mit dem bewußtlosen Mädchen, erzählt ihm unermüdlich Geschichten, liest ihm die schönsten Texte vor, die er in seinem kleinen Buchladen Wort und Sein finden kann. Nach Wochen erwacht Eva endlich - doch ohne jemals wieder sprechen zu können. Und dann wird sie in ein weit entferntes Sanatorium verlegt.


    Über den Autor
    Pierre Péju, 1950 geboren, ist Dozent für Philosophie, Essayist und Autor mehrerer Biographien, u.a. über Tieck, Chamisso und Bonaventura. „Die kleine Kartäuserin“ ist sein erster Roman, der auf deutsch erscheint; in Frankreich war er einer der größten Bucherfolge der letzten Jahre.


    Meine Meinung:
    Gut erholt und aus dem Urlaub zurückgekehrt, möchte ich euch von einem der vielen in den letzten 3 Wochen gelesenen Bücher berichten.
    "Die kleine Kartäuserin" ist eine beeindruckende Erzählung, die unter die Haut geht. Die Atmosphäre ist durchweg bedrückend, also nichts für Leser, die sich persönlich mit einer Geschichte identifizieren (Depressionsgefahr! ;) )
    Lesern, die "actionreiche" Bücher lieben, würde ich ebenfalls von der Erzählung abraten.
    Aber wer es mag, in eine Geschichte einzutauchen, wer wortgewandte Beschreibungen von Protagonisten und Orten genießen und diese vor seinem geistigen Augen entstehen lassen kann, wird an diesem kleinen Büchlein seine Freude haben.
    Ich fand schon allein die Beschreibung von Etiennes Buchhandlung "Wort und Sein" wunderschön und wünschte, ich hätte mich genau mit diesem Buch dort in eine Ecke zurückziehen können.
    Alles in allem ein trauriges, aber in meinen Augen unbedingt lesenswertes Buch.


    LG,
    Rita

    Liebe Grüße,
    Rita


    ~Ich wäre lieber ein armer Mann in einer Dachkammer voller Bücher als ein König, der nicht lesen mag.~
    Thomas Babington

  • Hallo Rita!


    Danke für diese schöne Rezension!
    Das Buch war ja auch ein Leserundenvorschlag- und hat damals schon mein Interesse entfacht!
    Ich hab es mal auf meine (ohnedies schon elendslange) Wunschliste ganz oben hingesetzt!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • @ Rita, wenn ich dich richtig verstanden habe, ist es ein Buch für Leute, die Bücher à la "Ein Tag mit Herrn Jules" mögen?


    Wenn Ja, dann komme ich wohl nicht drumrum ...



    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Genau, Marie, ich fürchte, du kommst nicht drumrum ;)


    @ Rosalita,
    es freut mich, dass ich dein Interesse noch verstärkt habe und bin auf deine Meinung gespannt.


    LG,
    Rita

    Liebe Grüße,
    Rita


    ~Ich wäre lieber ein armer Mann in einer Dachkammer voller Bücher als ein König, der nicht lesen mag.~
    Thomas Babington

  • Zitat


    Original von Rita
    "Die kleine Kartäuserin" ist eine beeindruckende Erzählung, die unter die Haut geht. Die Atmosphäre ist durchweg bedrückend, also nichts für Leser, die sich persönlich mit einer Geschichte identifizieren (Depressionsgefahr! Zwinkern )
    Lesern, die "actionreiche" Bücher lieben, würde ich ebenfalls von der Erzählung abraten.
    Aber wer es mag, in eine Geschichte einzutauchen, wer wortgewandte Beschreibungen von Protagonisten und Orten genießen und diese vor seinem geistigen Augen entstehen lassen kann, wird an diesem kleinen Büchlein seine Freude haben.


    Rita hat die passenden Worte gefunden, denen ich mich nur anschließen kann.
    Darüber hinaus möchte ich anmerken, dass der innere Monolog von Eva, Therese und Vollard den größten Teil der ersten Kapitel einnimmt. So lernt man die Protagonisten natürlich sehr ausführlich kennen.


    Thereses Verhalten zu ihrer Tochter ist sehr ungewöhnlich und ich fragte mich, was sie in ihre Depression getrieben hat.


    Vollard quält sich nach dem Unfall mit Selbstbeschuldigungen, Ängsten und der Sorge um das kleine Mädchen.


    Ich hätte niemals erwartet, in diesem Buch eine so fundierte Kritik an der Lesegesellschaft zu finden. Diees Thema im Buch hat mich überrascht. Erstaunlicherweise passt diese Hommage an das geschriebene Wort in die Geschichte (anders als bei dem "Papierhaus").


    Zwei Anmerkungen bleiben noch:


    1. Ich hätte mir gewünscht, noch mehr über Thereses Vergangenheit zu erfahren.


    2. Es war schade, dass zwar die Bücher aus denen zitiert wurde, am Schluss aufgelistet werden, diese aber in alphabetischer Reihenfolge sortiert sind. Ich hätte gern gewusst, welches Zitat welchem Autoren zuzuordnen ist.

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • "Die kleine Kartäuserin" ist ein sehr vielschichtiges Buch.
    Zum einen eine Liebeserklärung an die Literatur,die gleichzeitig auch eine Warnung vor dem Missbrauch derselben,zur Realitätsflucht,ist.
    Zum anderen ein teils skuriller Roman,der seine Protagonisten,in ihrem tiefsten Inneren und in vielen ungewöhnlichen Perspektiven darstellt.
    Es ist ein trauriges Buch,die Schicksale der Figuren sind alle in sich tragisch.Das führt sie auch irgendwie zusammen.
    Da ist zum einen der Buchhändler Vollard,der massige,rothaarige Hüne,mit seiner schrecklichen Kindheit,der sein Leben lang vor sich selbst nur noch in die Welt der Bücher flüchten kann und sich in diesem Zustand eingerichtet hat.Durch den Unfall mit der "kleinen Kartäuserin" wird im seine Lage jedoch bewusst.Seine innerer Schmerz und seine unterdrückten Gefühle kommen in ihm hoch.Er versucht davor zu fliehen,doch er hat diesen Weg beschritten und es gibt kein zurück mehr.Immer wieder zieht es ihn zu der kleinen Eva und somit zu seiner Auseinandersetzung mit sich selbst hin.
    Dann ist da das kleine verlorene Mädchen Eva und seine psychisch kranke Mutter,die ebenfalls ständig auf der Flucht vor sich ist.Diese Flucht äussert sich bei ihr jedoch räumlich,sie kann nicht lange an einem Ort sein,nur in der Bewegung,wird sie "unsichtbar" und kann sich verlieren.Eva ist ihr Anker in einem geregelten Leben,doch sie schafft es mehr schlecht als recht ihrer Rolle als Mutter gerecht zu werden,all das ist unwirklich für sie.Nach Evas Unfall spitzt sich die Lage zu.


    Péju lässt viel von seinem eigenen Leben in diese Geschichte fliessen,er selbst stammt ja aus einer Buchhändlerfamilie und dieses "Insiderwissen" kann man auch in jeder Zeile spüren.
    Auch die Studentenunruhen,die im Buch der Erzähler erlebt,hat er selbst erfahren und eingearbeitet.
    Sein Stil ist ausgefeilt,Stilmittel werden effektvoll angewandt und zudem doch sehr emotional.
    "Die kleine Kartäuserin" ist insgesamt ein sehr gelungenes Werk.

  • Mir ist dieses Buch sehr nahe gegangen! Vollard und sein Schicksal werden dermaßen authentisch dargestellt, dass ich nicht umhin kam, mir immer wieder zu überlegen, wie ich wohl in dieser Situation reagieren würde. Ebenso das Schicksal derv überforderten Mutter, die ihr Kind vernachlässigt, weil sie eben mit ihrem eigenen Leben nicht klar kommt. Die Vorwürfe, die sich die Beteiligten machen, die Ausreden, die sie erfinden die Versuche, das Geschehene ungeschehen zu machen,..... ein Buch das mich sehr nachdenklich machte und mich och lange nach der Lektüre beschäftigte.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Eine gewaltige Portion zu viel an Sentimentalität!


    Für mich gibt es bei diesem Werk zwei Faktoren, warum das Buch zum Kassenschlager wurde: Rührseligkeit und Literaturverliebtheit. Beides Faktoren die zur gewollten Vermarktung und hohen Absatz führen.


    Der Buchhändler Vollard überfährt an einem tristen Novembertag ein kleines Mädchen mit rotem Anorak. Er sah bei diesem Aufprall ihre erschrockenen Augen, aber er hatte überhaupt keine Chance diesen Unfall zu verhindern. Eva lief ihn direkt und frontal in seinem alten Lieferwagen hinein, die Möglichkeit noch rechtzeitig zu bremsen war dem Buchhändler versagt. Diese Situation wird nun im ersten Teil aus drei verschiedenen Perspektiven heraus beschrieben: aus Vollards Sicht, aus der des Mädchens und aus den Augen der Mutter. Damit baut Péju sehr viele Emotionen auf, was für einige Leser schon leicht in Gefühlsduselei abfällt.


    Im nächsten Teil wird nun Vollard aus der Betrachtung eines Unbekannten beschrieben. Der Protagonist ist ein Literaturliebhaber. Seit seiner frühen Kindheit steckt er jede freie Minute seine Nase in ein Buch. Vollard ist ein Waisenkind, und natürlich auch der absolute Außenseiter. Er wird von seinen Klassenkameraden getritzt und als Fußabtreter benutzt, er wechselt häufig die Schulen, studiert Literatur und wird schließlich Buchhändler.
    Der große Traum eines jeden Lesers erfüllt sich im Grunde genommen mit Vollard, wäre da nicht die Einzelgänger-Komponente. Aber vielleicht ist gerade diese Rolle jedem Leser ein wenig eigen. Hier wird der Leser ganz stark an das Buch gebunden.


    Der dritte Teil, um nicht alles verraten zu wollen, endet unendlich rührselig, hier drückt der Autor bewusst so richtig auf die Tränendrüse. Für mich ist dies nicht mehr realistisch, sondern nur noch abschreckend, so viel Konstruktion und Gefühlsseligkeit im negativen Sinne möchte ich einfach nicht lesen.


    Pierre Péju wurde 1950 geboren, er ist Dozent für Philosophie, Essayist und Autor. Er schrieb Biographien über Tieck, Chamisso und Bonaventura, „Die kleine Kartäuserin“ ist sein erster Roman.

  • Ich habe "Die kleine Kartäuserin" gestern in der Wühlkiste eines Papier-Discounters gefunden, mit reduziertem Preis und habe mich sofort an die Buchbesprechung in diesem Forum erinnert.
    @ Rita
    Danke für den Hinweis, dass der Inhalt dieses Romans beklemmend ist. Wenn man nämlich nur den Klappentext liest, fällt einem das höchstens aufgrund des Plots auf. Aber da hätte ich auf Anhieb gesagt: ziemlich abgehoben-idealistische Handlung, dass ein Buchhändler so viel Zeit "hat", dass er am Krankenlager eines fremden Mädchens sitzt und ihr endlos erzählt (falls ich jetzt die Handlung, die ich gestern nur recht flüchtig aufnahm, nun richtig wiedergebe).
    Mich hat aber dann am allermeisten der schillernd-altrosa Buchdeckel abgeschreckt. Es war also eine andere Ausgabe als jene, die hier für die Rezension angegeben wurde.