Patricia Highsmith - Ediths Tagebuch /Edith's Diary

  • Inhalt (aus der amazon.de-Redaktion):


    "Ein amerikanischer Albtraum" könnte man dieses Buch überschreiben -- banal in seiner Alltäglichkeit, entsetzlich in seiner Konsequenz. Und in einem Maße spannend, die eine reine Zusammenfassung der Handlung nie vermitteln kann.
    Zu Anfang ist noch alles nett und viel versprechend: Edith Howland, junge Mutter und engagierte Journalistin, zieht mit ihrem liebevollen Mann in eine ländliche Gegend. Dort sucht sie das richtige Umfeld für ihren zehnjährigen Sohn, dort hofft sie, ihren Traum von einer eigenen kleinen Zeitung verwirklichen zu können. In ihrem neuen Haus mit Garten fühlt sie sich wohl, und auch gleich gesinnte Nachbarn und Freunde finden sich bald.


    Nur von Cliffie sind die jungen Eltern enttäuscht. Ihr Sohn entspricht so gar nicht ihren Erwartungen, er ist träge und unehrlich. Auch mit George ist er ihnen keine Hilfe, dem bettlägerigen Onkel, den sie bei sich aufgenommen haben.


    Ergänzende Inhaltsangabe von mir:


    Nach einigen Jahren verliebt sich Ediths Ehemann Brett in seine Sekretärin und verlässt die Familie, um in New York eine neue Familie zu gründen. Obwohl er bereit ist, Exfrau und Sohn mit Geld zu unterstützen, wird klar, dass er froh ist, sich von seinem mißratenen Sohn lossagen zu können. Ganz nebenbei kann er auch die Sorge um SEINEN Großonkel George an Edith übergeben, die mit der Pflege des halsstarrigen Mannes und ihrem neuen Teilzeitjob überfordert ist, aber nicht fähig ist, George zu dem Umzug in ein Pflegeheim zu überreden, geschweige denn Brett an
    seine Verantwortung für den Verwandten zu erinnern.
    Brett sieht nur den finanziellen Aspekt der Pflege, den er bereitwillig abdecken wird. Über die Gefühle und Bedürfnisse seiner Exfrau kann er bequem hinwegsehen.
    Und so lebt Edith allein mit zwei Männern im Haus die sie in keinster Weise stüzen und ihr keine Entscheidungen abnehmen.


    In ihrem Unglück beginnt sie in ihrem Tagebuch ein glücklicheres Leben zu ersinnen. Brett und George hält sie fast komplett aus ihrem "Zweitleben" hinaus, und Cliffie ist der erfolgreiche Sohn, den sich jede Mutter erhofft und auf den sie Stolz sein kann.


    Ebenso wie ihr Haus mit der Zeit verfällt und verwahrlost (in all den Jahren nimmt sie lediglich Malerarbeiten an der Hausfassade vor), verschlechtert sich ihr Zustand. Nach außen wahrt sie das Gesicht und erzeugt die Illusion von einem normalen Alltag, doch innerlich brodelt es...


    Eine Stelle im Buch erscheint mir sehr prägnant:


    Zitat

    Seine Mutter schien überhaupt oft Tagträumen nachzuhängen, obgleich Cliffie zugeben musste, dass sie den Haushalt gut versorgte. Und mit ihren Artikeln gab sie sich so viel Mühe, schlug Einzelheiten in allen möglichen Büchern nach, und meistens kam nichts dabei heraus. Seine Mutter kämpfte eine verlorene Schlacht, weil sie versuchte, gegen die Mehrheit zu kämpfen. Die Mehrheit schlug nichtmal zurück, sie blieb einfach gleichgültig.


    Erst sehr spät werden Freunde und Brett aktiv....



    Meine Meinung:


    "Ediths Tagebuch" ist erst das zweite Buch von Patricia Highsmith, das ich gelesen habe. Eigentlich gehört es nicht in den Krimithread, doch hier vermutet man wahrscheinlich ihre Romane.


    Ich war sehr überrascht von dem Buch. Es beginnt wie eine idyllische Familiengeschichte, einzige Enttäuschung der Familie ist der gefühlskalte Cliffie. Erst nach ca. 120 Seiten beginnt man den Abgrund in der Beziehung der Protagonisten zu entdecken.


    Neben der eigentlichen Handlung wird immer wieder Bezug auf die politischen Ereignisse der Zeit genommen. Es hat mir sehr geholfen gerade zuvor eine Biografie über John F. Kennedy gelesen zu haben, so erschlossen sich mir einige der Zusammenhänge aus den 60er Jahren besser (z.B. das Friedenscorps von dem Edith als Karriereeinstieg ihres Sohnes träumt). Über die 70er Jahre weiß ich leider zu wenig Bescheid, um dort jede Anspielung in seinen Zusammenhang zur Geschichte setzen zu können. :scratch:


    Nichtsdestotrotz ein sehr bewegendes Buch!
    Obwohl mir die generell fehlende Bereitschaft Ediths, für ihr Glück zu kämpfen (weil "das Leben sowieso ohne Sinn ist" und der Kampf so "unsauber" ist), nicht verständlich ist, trifft man doch immer wieder auf Gefühlsregungen und Handlungen von ihr, die nachvollziehbar sind.


    Es ließen sich noch Seiten über dieses Buch schreiben, doch das würde den Rahmen bei weitem sprengen, deshalb möchte ich lediglich noch sagen, dass ich dieses Buch sehr empfehlenswert finde, auch wenn einem bei jedem Satz durch den Kopf geht: "Was kann der armen Frau denn jetzt noch passieren?"
    ...und man kann sicher sein, dass ihr Leid immer wieder einen neuen Höhepunkt findet! :pale:

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • @ Fezzig, schön, dass du das Buch vorgestellt hast.


    Ich habe es vor ein paar Jahren gelesen, und es gefiel mir sehr, wobei, wenn mein Gedächtnis noch funktioniert, für mich eine Frage wichtig war: Ist Edith so, weil ihr all das passiert, oder passiert es ihr, weil sie so ist?


    @ bonprix: Jede Wette, dass das Buch genau deinen Geschmack trifft (den ich inzwischen ganz gut zu kennen glaube :wink: )


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Freut mich, dass meine Rezension Anklang findet. :)


    Marie:


    Genau die Frage über Ursache und Wirkung habe ich mir auch gestellt. Sie an dieser Stelle zu erörtern, fand ich dann aber doch unpassend, insbesondere da mein Beitrag schon so lang ist.


    Da meine Gedanken evtl. Spoiler sind, werde ich sie mit verstecktem Text schreiben:



    Mich faszinieren Geschichten wie diese! :pl:

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
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  • @ Fezzig, im Grunde ist die Frage müßig wie die Frage, ob das Ei oder die Henne zuerst da war, denn es hätte ihr ja nichts genutzt, das zu wissen.



    M.E. sehr realistisch. Kennt man doch: Wenn man in der Tretmühle steckt, sieht man keine Möglichkeit zum Aussteigen. Erst wenn man sich eine Sache quasi von außen ansieht, entdeckt man einen Ausweg. Nur kann man sich ja das eigene Leben nicht von außen ansehen.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • ### Inhalt ###
    1954-1969 in New York und später in Brunswick Corner in Pennsylvania auf dem Land, zwei Autofahrstunden von NY entfernt, das sind grob Ort und Zeitraum des Geschehens, in das uns Patricia Highsmith in ihrem Roman "Ediths Tagebuch" mitnimmt. Es geht um das Ehepaar Brett und Edith Howland nebst Sohn Cliffie. Beide, Brett und Edith sind tätige Journalisten. Als ihr Sohn Cliffie zehn wird, beschließen sie nach Brunswick Corner aufs Land zu ziehen, da dies laut Brett eine bessere Umgebung für ein heranwachsendes Kind ist. Sie leben sich ein und finden Freunde. Sorgen macht dem Ehepaar ihr Sohn. Er entwickelt sich zu einem Taugenichts, der die Schule nicht schafft. Das Vater-Sohn-Verhältnis kühlt sich stark ab. Und dann noch Onkel George, der irgendwann anfängt bei der Familie zu wohnen und um den sich jetzt Edith täglich kümmern muss, da er bereits um die 80 ist. Dann der Eklat: Brett trennt sich von Edith und heiratet eine Jüngere. Edith flüchtet sich in ihr Tagebuch und erfindet ihre eigene Welt.


    ### Meinung ###
    Als Leser den Abstieg einer geschiedenen Ehefrau aus den 50er 60ern zu beobachten macht mich betroffen, aber lässt mich auch mit dem Kopf schütteln. Edith lässt alles mit sich geschehen, ihren Ärger und ihre Wut schluckt sie immer wieder herunter. Ihr Stolz hält sie davon ab sich zu wehren oder Hilfe anzunehmen. Sie versucht ja, ein normales erfülltes Leben zu führen, schreibt Artikel für die von ihr und Brett gegründete Zeitung und auch Kurzgeschichten. Außerdem widmet sich sie mit Freude der Bildhauerei. Aber das Leben lässt sie nicht in Ruhe. Und da passieren in meinen Augen etwas zu viele konstruierte Fehlschläge, die sie in den Abgrund reißen: Sie verliert ihren Nachmittagsjob aus Gründen, sie verliert auf einmal Zähne, Cliffie will auch nichts zum Haushalt beisteuern, obwohl er es könnte und es sogar vorhatte und alle vergessen ihren 54 Geburtstag ... Das Ende des Romans bildet dann nochmal einen dramatischen Höhepunkt, bei dem sich all die angestaute Wut in Edith tragisch entlädt.


    ### Fazit ###
    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:
    Das tragische Ende einer Frau, die sich weit mehr vom Leben erhofft hat als eine scheiternde Ehe und einen mißratenen Sohn.

    Der ideale Tag wird nie kommen. Der ideale Tag ist heute, wenn wir ihn dazu machen. -- Horaz


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  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Patricia Highsmith - Ediths Tagebuch“ zu „Patricia Highsmith - Ediths Tagebuch /Edith's Diary“ geändert.
  • Nichtsdestotrotz ein sehr bewegendes Buch!
    Obwohl mir die generell fehlende Bereitschaft Ediths, für ihr Glück zu kämpfen (weil "das Leben sowieso ohne Sinn ist" und der Kampf so "unsauber" ist), nicht verständlich ist, trifft man doch immer wieder auf Gefühlsregungen und Handlungen von ihr, die nachvollziehbar sind.

    Wie so häufig hatte Fezzig hier eine sehr treffende Rezension geschrieben. Mir gefiel die Beschreibung des zusammenbrechenden Familienlebens, insbesondere der Kontrast zu Ediths Träumerei in ihrem Tagebuch und den eher im Hintergrund dargestellten Entwicklung der amerikanischen Politik. Erstaunlicherweise ist Edith hier ein aktiver, politischer Mensch, rebelliert mit ihren Essays gegen das Bürgertum - wo sie doch in ihrem Privatleben so passiv ist, bis hin zur Selbstaufgabe. Dieses Ausbleiben sympathischer Personen (von Tante Melanie mal abgesehen), war teilweise anstrengend zu lesen. Zu gerne hätte ich Edith durchgeschüttelt, damit sie "aufwacht" und ihr Leben in die Hand nimmt.

    Und ich verstehe, wenn andere Leser den "grossen Knall" vermissen, eine Wendung, einen Höhepunkt, in dem Edith den Onkel ins Pflegeheim verfrachtet, den Sohn auf die Strasse setzt, oder was auch immer.

    Insofern ist es eine ruhige Geschichte, vielleicht dadurch auch realitätsnaher, und ich möchte mir nicht vorstellen, wieviele Menschen aus falschem Pflichtbewusstsein feststecken, sich ein besseres Leben wünschen und Jahrzehnte im Alltagstrott unzufrieden die Zeit durchbringen.

    Sicherlich kein Krimi - wer das erwartet wird enttäuscht sein - aber ein Drama, lesenswert und sicherlich auch heute noch aktuell.