Die wundersamen Irrfahrten des William Lithgow - Hrsg: Roger Willemsen

  • The Rare Adventures and Painful Peregrinations of William Lithgow
    aus dem engl. von Georg Deggerich, herausgegeben (und bearbeitet) von Roger Willemsen
    Fischer TB des Originals aus dem Mare Verlag April 2011, 361 Seiten


    Inhalt:


    Als im Jahre 1603 der 21-jährige schottische Schneiderjunge William Lithgow unter dem Fenster seiner Liebsten singt, schneiden ihm ihre Brüder beide Ohren ab. Da entschließt sich der junge Mann, in den Orient aufzubrechen, wo unter dem Turban der Verlust von zwei Ohren nicht
    auffällt. Meist zu Fuß bereist er weite Teile der Welt. Seine insgesamt drei "leidvollen Wanderungen" führen ihn quer durch Europa und bis nach Arabien, Ägypten, Abessinien, und so wird er einer der ersten Augenzeugen in unbekannten Weltregionen, ein detailscharf berichtender, oft unfreiwillig amüsanter Erzähler, dem vor allem eines abgeht: die Gabe zu reisen. Folglich ist sein Reisebericht einmalig nicht nur durch den Farbenreichtum und den Radius seiner Schilderungen, sondern vor allem durch den Eigensinn dieses Mannes, den nicht die Lust, sondern der Widerwille vorantrieb.
    [Mare Verlagstext]


    Eigene Betrachtungen
    Uff, was für ein Buch.
    In der englischen Welt längst ein Klassiker des Reisens und des unfreiwilligen Humors. Unfreiwillig, weil der ach-so bierernste tapfere Schneider aufklärerisch daherkommen mag, aber dabei jedes erdenkliche Vorurteil und jedes Ressentiment sucht, findet, bestätigt und schürt. Er ist ein Misanthrop, ein überheblicher und besserwisserischer Schlechtmacher, auf den eigenen Vorteil bedacht und sich bei aller behaupteter Ehrenhaftigkeit nicht zu schade, auch mal Leichen um ihre Habseeligkeiten zu fleddern.

    William Lithgow, Schneider aus Schottland, war einer der großen Reisenden seiner Zeit. Neben mehreren kleineren Reisen unternahm er zwischen 1609 und 1621 drei große Reisen, die ihn auf drei Kontinente – Europa, Asien, Afrika - rund ums Mittelmeer führten. Auf seiner ersten und längsten Reise wandert er über Italien, dann mit dem Schiff durchs Adraitische Meer nach Konstantinopel (jetzt Istanbul) ins heilige Land, besucht Jerusalem, Bethlehem und andere heilige Stätte, weiter nach
    Damaskus und Ägypten
    , wo ihm immerhin die Grösse der Pyramiden und die Ressourcen, die ihr Bau erforderte, beeindrucken. Auf seiner zweiten Reise zieht es ihn in die Maghreb Länder Nordafrikas, nach Algir, Fez und Tuni und auf einen unseeligen, beinahe tödlich endenden Treck tief in die Wüste. Seine dritte Reise endet in Spanien, wo er durch eine Intrige beinahe der verhassten katholischen Inquisition zum Opfer fällt und gezeichnet von monatelanger schwerer Folter für immer zurückkehrt nach Großbritannien.


    Lithgow ist ein genauer Beobachter, die Beschreibung von Landschaften und Orten sind präzise und detailreich. Fast akribisch werden Stadtmaße und Häuseranzahl notiert, Bauwerke und Ruinen beschrieben, geschichtliche Hintergründe benannt. Allerdings sehr selektiv. Unbeeindruckt widmet er der Akropolis in Athen grad mal einen Halbsatz, auch die Alhambra wird kurz mal erwähnt, man war halt da. Dieses Da-gewesen-sein prägt die Reisebeschreibung. Lithgow ist eine Art sehr früher Tourist, er geht – im Wortsinn, den größten Teil des Landwegs geht er zu Fuß – dorthin, wo Touristen auch heute noch hingehen, eben weil man, wenn man schon mal in der Nähe ist, dort auch gewesen sein muss. Und er kauft, auch hier ganz Vorläufer des heutigen Touristen, Souvenirs, lässt sich unzählige Urkunden und Dokumente ausstellen, die belegen sollen, dass er da und dort
    gewesen ist. Hingelaufen, angeguckt, abgehakt. Stets beklagt er sich über habgierige Einheimische und über die wuchernden
    Eintrittspreise und Gebühren, die ihm allerorts abgeknöpft werden und führt penibelst seine Ausgaben auf, ohne auch nur ein Wort über seine eigenen Einkünfte
    zu verlieren (vielleicht sind die ja auch nicht ehrenhafter als die aller anderen).


    Hier liegt der Reiz, der die Beschreibung seiner Abenteuer auch heute noch ausmacht. Lithgow liefert Pauschalurteile am laufenden Band. Und seine Urteile sind vor allem eins: bitterböse. Als Anglikaner sind ihm die Papisten Feindbild, keine Gelegenheit wird ausgelassen, die katholische Kirche und deren Würdenträger zu geißeln. Alles diesseits des Christentums ist eh´ barbarisch, bestenfalls exotisch.


    Lithgow gibt sich puritanisch, gleichwohl: sexuelle Ausschweifungen und Unkeuschheit interessieren ihn schon. Unter dem Deckmantel der Anprangerung ergeht er sich durchaus in Beschreibungen von sexuellen Praktiken. Und wieder ganz pauschal unterstellt er ganzen Städten oder gar Volksgruppen, Anhänger ‚abnormer’ Laster zu sein.


    Köstlichkeiten:
    In Genf hört er von der bevorstehenden Hinrichtung eines Pfarrers, der drei Frauen und deren Töchter schwängerte. Auch da will er dabei sein, nimmt dafür extra den Umweg nach Dijon in Kauf. „So viel zur Keuschheit der katholischen Priester, die zwar nicht
    heiraten dürfen, dafür aber allen erdenklichen Abscheulichkeiten, besonders der Sodomie, frönen, und dies nach Lust und Laune und mit schöner Regelmäßigkeit
    .“


    "Von Konstantinopel kann ich wohl sagen: Eine bemalte Hure, mit der Maske der Sünde bedeckt, von außen verlockend, von innen verfault und verdreckt."


    Seine vermeintlich historischen "Erläuterungen" über die Entstehung des Islam lesen sich dann so: "Kaum hatte er (Mohammed) die neu geschaffene Lehre im Koran niedergelegt, begann er mit der Verbreitung seiner abscheulichen Blasphemien, behauptete, Christus sei weder der Sohn des Allmächtigen noch der erwartete Messias, leugnete die Dreifaltigkeit, und dergleichen Gotteslästerungen mehr."


    Abschliessende Bemerkung:
    Man kann sich über diese 400 Jahre alten Reiseerzählungen ob ihrer unverschämten Subjektivität und Borniertheit des Erzählers aufregen, aber dennoch erfährt man viel interessantes, hintergründiges und - ja! - Neues.


    Anfang des 17. Jahrhunderts tobt dem Grunde nach ein Konfessionskrieg der Christen gegen die Mosleme und das gigantische Osmanisch-Türkische Reich dominiert beinahe den gesamten Mittelmeerraum. Piraten - von denen Lithgow nicht nur einmal überfallen wird - machen die Küstenbereiche unsicher und plündern, morden und versklaven, was ihnen vor den Bug gerät. Überhaupt Sklaven, Christen versklaven Muslime und umgekehrt, Frauen werden in beinahe allen Kulturen bestenfalls wie "bessere" Sklaven, eher schlechter behandelt. Und dennoch blüht der Handel und der Kommerz. Überall und vor allem im Heiligen Land werden Händlern, Karawannen und Reisenden erquickliche Schutzgelder, Zölle und Eintrittsgelder abgeknöpft, da spielen Rasse, Religion und Ansinnen dann beinahe keine Rolle mehr.


    Eine vertrackte und gefährliche Welt ist das - kaum weniger unübersichtlich und komplex als die heutige. Und das ist die Stärke dieser Reisebeschreibungen, mit den unglaublichen "Köstlichkeiten" des Autors als Sahnehäubchen versehen.


    *****

    Ausführliche
    Infos zum Buch mit einer schönen Video-Werbung von Willemsen auf der Seite des Verlages:
    http://lithgow.mare.de/

    Es gibt keine grössere Einsamkeit als die des Samurai. Es sei denn die des Tigers im Dschungel

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