Tor Åge Bringsværd - Das Frühstück der Langschläferin

  • Der erste Satz
    Jedesmal, wenn ich mich hinsetze, um eine neue Geschichte zu schreiben oder etwas, von dem ich hoffe, es könnte der Beginn eines
    Buches werden, denke ich: Werde ich diesmal anfangen mit Nebelschwaden, die über die Heide treiben, und einem Reiter mit wehendem Umhang auf dem Weg zu einem blassen, gespenstischen Schloß auf der Spitze von Pappmaché-Felsen, und der Donner rollt, und die Blitze zerreißen den Himmel wie der schreckliche Dreizack des Satans?


    Inhalt


    Felix Bartholdy macht sich bewußt, daß er niemals alle Bücher wird lesen können, die er besitzt, nicht mal die, die er noch kaufen wird
    oder gerade gekauft hat. Natürlich hat er eben gerade wieder welche gekauft. Diese Tatsache macht ihn bald irre, und er bricht zusammen.
    Zwei mitleidige Damen lesen ihn auf und nehmen ihn mit nach Hause. Dort setzt sich Bartholdy aufs Dach und beschließt, alle Namen, Fakten und Worte aus seinem Kopf zu tilgen, indem er endlose Zahlen niederschreibt. Je näher er seinem Ziel kommt, desto fadenscheiniger wird die Realität.


    Eindruck


    Dieser Buch ist so postmodern-ausgeflippt wie es nur geht, vollgestopft mit popkulturellen Anspielungen von „King Kong“ bis „Star
    Trek“.

    • Ein finnischer Literaturprofessor mit frisch angelachter Gespielin
      in New York kann sich nicht entscheiden, heimzufliegen zu seiner Familie
      in Finnland, oder doch lieber bei seiner Geliebten zu bleiben. Die
      Entscheidungsschwäche wird chronisch, und er schlägt im wörtlichen Sinn
      des Wortes Wurzeln in der Flughafenhalle.
    • In diesem Roman gibt es Gepräche mit dem Tod selbst (und zwar lange
      ehe Terry Pratchett ähnliche Scherze mit Gevatter Tod zu treiben
      begann). Der Tod hat echte Schwierigkeiten mit dem Job. Jeder Mensch hat
      nämlich seinen eigenen, individuellen Sensenmann, der immer in seiner
      Nähe sein muss. Hier hat der Tod nämlich nicht die leiseste Ahnung, wann
      genau er Arbeit bekommt.
    • Der Verfasser hat einen Sandkasten mit einem aus Legosteinen
      erbauten Modell der Stadt New York, in dem er – der auch selbst hier und
      da als Ich-Erzähler im Text vorkommt – seine Figuren als kleine
      Pappschablonen hin- und herbewegt. Der Stadtteil Staten Island ist als
      Handlungsort leider abhandengekommen. Die Katze hat Staten Island
      nämlich kaputtgemacht.
    • (Liste kann nach Belieben verlängert werden.)

    Als Felix Bartholdy sein irrwitziges Vorhaben durchführt, wird er unversehens zu Kaspar Hauser – das war ein Findelkind, das 1828 in
    Deutschland auftauchte, offensichtlich nie Kontakt zu Menschen gehabt hatte, zum Gegenstand der wildesten Spekulationen wurde und schließlich aus rätselhaft gebliebenen Gründen von einem unbekannt gebliebenen Mörder getötet wurde. Der norwegische Autor verknüpft seinen Un-Helden Bartholdy mit Kasper Hauser und läßt ihn sogar zu dessen Mörder werden.
    Da sind die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bereits verwischt, und Bringsværd fängt an, sich mit seinen eigenen literarischen Figuren zu streiten, beipielsweise mit dem Privatdetektiv Hector Protector Wagner, der gern noch literarischer wäre als der Verfasser selbst, und einen Zitate-Krieg anzettelt.
    Manche Figuren weigern sich einfach zu tun, was der Autor mit ihnen anstellt (oder erst noch anstellen will). Mit der bereits erwähnten
    Katze wird das alles in sehr amüsanten Gesprächen diskutiert. Am Ende zerreißt ebendiselbe Katze die sowieso schon fadenscheinige
    Wirklichkeit, und das Buch entpuppt sich als Spiel, das der Autor mit sich selbst gespielt hat, um des Spaßes am Spiel selbst wegen.


    Fazit


    Ein sehr phantasiereicher, bunter Roman, der mehr mit allerlei SF-Verweisen und -Requisiten spielt als daß er selbst ernsthaft SF sein
    will. Wer sich auf solche postmodernen Ironien einlassen kann, wird seinen Spaß haben. Wer stramm von Anfang bis zum Happy End erzählte Abenteuer mag, wird womöglich verwirrt sein.


    Gesamteindruck


    9 von 10 Punkten (für eher experimentierfreudige Leser)
    3 von 10 Punkten (für Anhänger eher traditioneller Texte)

  • Felix Bartholdy macht sich bewußt, daß er niemals alle Bücher wird lesen können, die er besitzt, nicht mal die, die er noch kaufen wird
    oder gerade gekauft hat. Natürlich hat er eben gerade wieder welche gekauft. Diese Tatsache macht ihn bald irre, und er bricht zusammen.

    Oh, Gott! Ich fürchte, in dieser Beschreibung finde ich mich selbst wieder...!
    Nur der allerletzte Nebensatz ist bisher noch ausgeblieben.
    Vielen Dank für deine Rezi!


    :winken:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Tja, cheriechen,


    das ist das Schicksal der Bücherwürmer. Dieser Norweger hat halt ein Buch darüber ... und noch vieles anderes) geschrieben. Falls du auf dem Grund deines SUBs darauf stößt: Nicht zusammenbrechen.
    ;-)


    ntav