Michel Houellebecq - Karte und Gebiet/ La carte et le territoire

  • Jed Martin ist Sohn eines Architekten und einer Selbstmörderin, in guten Verhältnissen aufgewachsen, Absolvent der Ecoles des Beaux-Arts in Paris, und bereits als junger Künstler mit den Fotografien von Michelin-Straßenkarten, die er Satellitenbildern gegenüberstellt, sehr erfolgreich. Den großen Durchbruch feierte er allerdings mit seinen Gemälden, die Porträts von Menschen in ihrer Arbeitswelt zeigen. Bilder vom einfachen Handwerker oder Kellner bis zu Werken mit ebenso klingenden wie sperrigen Namen wie „Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik" ,"Die Beate Uhse AG geht an die Börse" oder "Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf" gelangen zu Weltruhm und erreichen exorbitante Preise am Kunstmarkt.
    Es gelingt ihm, den sehr kontrovers diskutierten und sehr bekannten, aber völlig zurückgezogen lebenden Schriftsteller Michel Houellebecq für die Verfassung eines Vorwortes für den Ausstellungskatalog zu gewinnen. Im Gegenzug soll der Schriftsteller, neben einer Gage von mehreren Hunderttausend Euro, ein Porträt – „Michel Houellebecq, Schriftsteller“ erhalten. Im Zuge der Zusammenarbeit entwickelt sich eine distanzierte Freundschaft zwischen den beiden, die durch einen bestialischen Zwischenfall ein jähes Ende findet.


    Ich möchte vorausschicken, dass es mein erstes Buch von Michel Houellebecq war. Er ist mir natürlich bekannt als „enfant terrible“, als extravaganter, provozierender und in der Tat sehr kontrovers diskutierter Schriftsteller. „Karte und Gebiet“ ist ein sehr gesellschaftskritisches Buch, doch ich fand es weder provokant, noch sexbesessen oder aggressiv. In manchen Buchbesprechungen wurde dieses Buch als „gemäßigt“ oder sogar „weichgespült“ bezeichnet, wie gesagt fehlt mir der Vergleich. Als Einstieg in Houellebecqs Werk halt ich es für nicht sehr geeignet. Zu sehr wird auf die Person des Michel Houellebecq Bezug genommen, der ja in diesem Buch eine tragende Figur spielt und ich kann nicht abschätzen, wie sehr diese Darstellungsweise ironisch, selbstkritisch oder gar arrogant gemeint ist. Ich habe aber schwer das Gefühl, dass Houellebecq seinen Kritikern mit diesem Buch eins auswischen will, hier auf seine eigene Art und Weise Stellung nimmt zu Unterstellungen und Gerüchten rund um seine Person.


    Houellebecq zeichnet eine Vision der nahen Zukunft – wir sehen uns etwa im Jahr 2030. Das Künstlermilieu ist Hauptschauplatz, die Vereinnahmung und Vermarktung der Künstler durch die Medien und durch Agenturen im Blickpunkt. Es fallen viele Namen französischer Künstler, Medienstars und Institutionen mit denen ich nicht viel anfangen konnte. Insider können mit diesen Informationen wohl mehr anfangen. Mit teils wehmütigem, aber immer sehr kritischem Blick wird die Gesellschaft analysiert, der Verlust der Kultur aufgezeigt, der sich nicht nur im Sterben der Kaffeehäuser oder im Überhandnehmen von asiatischen oder russischen Restaurantketten manifestiert. Kinder werden durch Hunde ersetzt, Familienleben, zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaften fallen der Schnelllebigkeit zum Opfer.
    Houellebecqs glasklare Formulierkunst und prägnanter Stil konnten mich überzeugen, und ich möchte auf jeden Fall mehr von ihm lesen. Bei mir subben „Elementarteilchen“ und „Platform“, vielleicht kann mir wer von Euch einen Tipp geben?


    PS: Für dieses Buch erhielt Michel Houellebecq den renommierten "Prix Goncourt"!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Als ich sah, dass Du das Buch liest, wartete ich schon gespannt auf Deine Reaktion. Danke! Es bestätigt - aber Du weißt ja darum - was hier in der Luft hing:



    Ich möchte vorausschicken, dass es mein erstes Buch von Michel Houellebecq war. Er ist mir natürlich bekannt als „enfant terrible“, als extravaganter, provozierender und in der Tat sehr kontrovers diskutierter Schriftsteller. „Karte und Gebiet“ ist ein sehr gesellschaftskritisches Buch, doch ich fand es weder provokant, noch sexbesessen oder aggressiv. In manchen Buchbesprechungen wurde dieses Buch als „gemäßigt“ oder sogar „weichgespült“ bezeichnet, wie gesagt fehlt mir der Vergleich. Als Einstieg in Houellebecqs Werk halt ich es für nicht sehr geeignet.


    Houllebecq hätte, laut einiger zynischer Kritiker, nur so geschrieben, um nach seinen etwas provokanten Büchern nun eine Chance auf den Goncourt zu haben! Geschafft!



    Houellebecqs glasklare Formulierkunst und prägnanter Stil konnten mich überzeugen, und ich möchte auf jeden Fall mehr von ihm lesen. Bei mir subben „Elementarteilchen“ und „Platform“, vielleicht kann mir wer von Euch einen Tipp geben?


    Dass auch Du ihn stilmäßig so gut findest ermuntert mich, es auch mal versuchen. Doch ich denke, dass ich es tatsächlich mit dem hier vorgestellten Buch angehen werde. Die beiden anderen Bücher kenne ich nicht von eigenem Lesen, sind aber sicherlich sehr viel provozierender!

  • Danke Tom, für Deinen Kommentar, mit dem hab ich nämlich gerechnet! 8)
    Du wirst in Deinem Umfeld wahrscheinlich viel öfter mit der Person des Michel Houellebecq konfrontiert sein, deshalb glaube ich, dass es für Dich ein "Einstiegsbuch" sein könnte, zudem Dir möglicherweise auch die vielen Künstler, Ortschaften, Namen zumindest etwas sagen und du auch die eine oder andere Anspielung zuordnen kannst, mit denen ich weniger anfangen konnte; und im Original das Buch vielleicht (noch) einfacher zu lesen sein wird, da in der deutschen Übersetzung nur so mit Fremdwörtern herumgeschmissen wird.


    Ob es das fortschreitende Alter Houellebecqs ist, oder schlicht und ergreifend Berechnung, um den Prix Goncourt zu erlangen, dass er sich so gemäßigt gibt, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall war es für mich eine Leseerfahrung, die mich nun auch auf die anderen Bücher zurückgreifen lässt.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
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  • @ Rosalita,
    von Houellebecq habe ich "Ausweitung der Kampfzone" gelesen. Ein düsteres, schweres Buch, dessen Thema die Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit, der echten menschlichen Kommunikation ist.
    Eher die Analyse der gegenwärtigen Situation als eine erzählte Geschichte. Hier hatte ich schon etwas dazu geschrieben.
    "Elementarteilchen" gehört zu den Büchern, von denen ich seit Jahren hoffe, dass sie mir irgendwann über den Weg laufen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • bin es gerade am lesen und kann nichts derart Provokantes daran finden ... bin schon über die Hälfte ... es ist unterhaltsam und ich bin jedesmal gespannt wie es mit Jed nun weitergeht ... ich denke, es beschreibt die Kunstszene genau wie sie ist, nicht übertrieben ... und ein Privatleben hat Jed auch ;)

  • oh mei, bin ich gelangweilt ... das Buch zieht sich im letzten Fünftel wie Kaugummi



    ich weiss nicht, wie lange ich mit dem Lesen noch brauchen werde ... vermutlich werde ich einige Absätze überspringen müssen, denn ich möchte es doch schon fertig lesen :scratch:

  • Zum Inhalt:


    Jed Martin, ein junger Künstler von unscheinbarer Persönlichkeit, für den in seiner Tätigkeit als Fotograf von Ausschnitten aus Landkarten keine großartige Karriere vorhersehbar scheint, erfährt durch das zufällige Zusammentreffen mit genau der richtigen Person zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort eine praktisch instantane Berühmtheit, verbunden mit dem entsprechenden Geldsegen und einer zu seinem sozialen Status passenden Liebesbeziehung. Dann führen Veränderungen von außen bei Jed zu einer beruflichen Veränderung, nämlich zum Portraitmalen. Die Figur des Autors Michel Houellebecqs selbst tritt ins Buch, und zwar als verdreht-exzentrischer Schriftsteller, der mit einem umfangreichen Vorwort zum Katalog für Jed Martins Ausstellung mit seiner verbalen Auslegung der Schaffensrichtung des Künstlers nicht unbeträchtlich zum gigantischen Erfolg der Exposition beiträgt.
    Mehr möchte ich gar nicht vom Inhalt preisgeben, es soll ja noch etwas übrig bleiben für diejenigen, die Karte und Gebiet selbst lesen möchten.




    Meine Meinung:


    Ein Buch mit einem Inhalt über Kunst und Kunstrichtungen und deren Einflüsse und Auslegungen interessiert mich eigentlich überhaupt nicht, weshalb ich bisher keinerlei Mühe hatte, das Buch sowohl in den Regalen der Buchhandlungen als auch in unserer Stadtbibliothek geflissentlich zu übersehen. Doch ein Preis von €2,95 in der ME-Kiste lässt auch jemanden wie mich nicht kalt, denn ein Schnäppchen wie dieses, also einen Prix Goncourt für weniger als 3€ ( :lechz: ), kann man sich schließlich nicht entgehen lassen (ich bitte darum, bissige oder jegliche anders geartete Rückfragen bezüglich weiblicher „Schnäppchen-Logik“ wegen offensichtlicher Unbeantwortbarkeit nicht zu stellen – Danke für Euer Verständnis :lol: ).


    Für die 400 Seiten habe ich nur eineinhalb Tage gebraucht, weil das Buch sich so leicht lesen ließ, obendrein habe ich es noch außerordentlich gern gelesen. Meiner Auffassung nach geht es in Houellebecqs Karte und Gebiet um Geld, beziehungsweise um das Leben der Leute, die Geld haben, sowie um die Auswirkungen eines fast schon obszönen monetären Polsters in Bezug auf Lebensinhalte und den Sinn des Lebens an sich. Es geht dem Autor auch um den Wandel der Zeiten, wie er vom Menschen provoziert bzw. beeinflusst wird und wie dauerhaft solche Veränderungen eigentlich sein können.

    Nachdem ich eine blasiert-satirische Geschichte über eine Künstlerkarriere mit hochmütigen philosophischen Ausführungen erwartet hatte, war ich erstaunt, wie schlicht diese Geschichte im Grunde genommen zu lesen war. Amüsant fand ich hierbei die erfrischenden verbalen Spitzen gegen die Schicht der Menschheit, die ständig und überall geradezu obsessiv auf ihre eigene Bedeutung aufmerksam machen muss – und zwar dadurch, dass sie sich mit besonders makelloser Schönheit und besonders teuren Automodellen umgibt (wahlweise kann hier der Begriff Automodelle durch diverse aeronautische Transportmittel oder Immobilien ersetzt oder auch nach Belieben komplementiert werden, der Preisklasse ist hierbei nach oben keine Grenze gesetzt), und die sich durch schwindelerregende Wohlstandskennziffern vor dem $-Symbol definiert.
    Houellebecq bringt es fertig, dass ich über ein paar hundert Seiten das sichere Gefühl hatte, nicht allein zu stehen mit meiner Meinung, dass Geld nicht unbedingt glücklich macht und dass solche Menschen durchaus lächerlich wirken können, auch wenn und der Glanz der Brillanten und des hochglanzpolierten Autolacks stets über die Lächerlichkeit hinwegzublenden scheint. Im Grunde trachten wir wohl ausnahmslos alle danach, wenigstens an einem klitzekleinen Stückchen, an einer winzigen Krume dieses, wenn auch schnöden, so doch außerordentlich begehrenswerten immensen Dollar- und Euro-Kontingents zu ergattern. Stil und Inhalt von Karte und Gebiet kamen mir dabei leicht und luftig vor, mit genügend Spielraum für die eigene Interpretation. Auch auf der humorvollen Seite wurde der Autor meiner Meinung nach nie aufdringlich, die Lektüre blieb damit für mich unverkrampft und entspannt.


    In letzter Zeit fällt mir immer öfter auf, dass ich ein Fan von Metafiktion zu sein scheine, wohl weil sie meiner Meinung nach ein gewisses Maß an Humor des Autors und damit zusammenhängend auch einen gewissen Abstand zu seinem Werk erfordert. So ist auch in Karte und Gebiet der Autor darauf bedacht, dem Leser immer wieder den fiktionalen Charakter seiner Geschichte bewusst zu machen: Houellebecq bringt seine eigene Person als Figur in der dritten Person ins Geschehen ein, wobei er dies in einer Weise tut, die mich anfangs stutzig gemacht und dann immer mehr amüsiert und begeistert hat, denn der Autor geht alles andere als zimperlich mit seiner Figur im Buch um.

    Mir hat das Buch insgesamt sehr gut gefallen, gerade weil die Erzählung so viel Leichtigkeit bewahrt, obwohl sie Themen behandelt, bei denen die Menschheit sich für gewöhnlich total verkrampft. Außerdem hat Karte und Gebiet mich wieder mal in meinem ganz persönlichen Knickerargument bestätigt, dass nämlich ein Spießerblick in die ME-Kiste einem Leser womöglich sogar ein größeres Vergnügen bei der Lektüre bescheren kann als dem Protagonisten Jed Martin das Fahren seines protzigen Audis. Deshalb :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: von meiner Seite :) .
    Sollte mir irgendwann wieder ein Houellebecq in die Finger geraten, dann werde ich nicht lange zögern. Karte und Gebiet hat mich außerdem auf die Bücher von Fréderic Beigbeder, der im richtigen Leben genauso wie im Buch mit Michel Houellebecq befreundet ist, neugierig gemacht.


    Der Vollständiigkeit halber gebe ich am besten noch den Titel im Original an: La Carte et le Territoire (endlich mal ein Titel, der eins zu eins ins Deutsche übernommen wurde :thumleft: )


    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

    Einmal editiert, zuletzt von Hypocritia ()

  • ### Inhalt ###

    Jed Martin lebt ihn Paris in einer Bruchbude, in der im Winter immer wieder die Heizung droht auszufallen. Er ist Absolvent einer Pariser Kunsthochschule und Eigenbrödler, der wenig Kontakt zu anderen Menschen hat. Sein Vater ist erfolgreicher Architekt, seine Mutter hat sich vor einigen Jahren aus unerfindlichen Gründen das Leben genommen. Jed hat als angehender Künstler keine klare Vorstellung, in welche Richtung er seine Kunst entwickeln will. In seinem Leben gibt es jedoch immer wieder Themen, die ihn antreiben und denen er sich dann wie ein besessener jahrelang widmet. Zunächst sind es Berufe beziehungsweise die Menschen, die sie ausüben. Er fotografiert sie. Später sind es Michelin Karten von Gegenden in Frankreich, die er abfotografiert. Später malt er Bilder von fiktiven Szenen zwischen berühmten Industriellen. Wir begleiten Jed als Leser vom ziellosen Künstler über seine erfolgreichen Jahre als gefeierter Star, dessen Werke für zig Millionen verkauft werden, bis zu seinem Tod.


    ### Meinung ###

    Erstaunt hat mich die Darstellung der Entwicklung von Jed von einem unbekanntem Künstler hin zu einem gefeierten Star. Dieses abstruse Dreiecks-Wechselspiel zwischen einem Menschen, der über Jahre mit stoischer Konsequenz gleichartige Artefakte produziert ohne so richtig zu wissen, warum. Die Kritiker, die irgendwann anfangen mit haarsträubenden gedanklichen Luftschlössern in die Werke des Künstlers irgendeine gedankliche Tiefe hineininterpretieren und die reichen Industriellen, die diese Werke zu schwindelerregenden Preisen einkaufen. Total witzig ist auch, dass Houellebecq im Roman als er selbst vorkommt und ja quasi über sich selber aus dem Nähkästchen plaudert.


    ### Fazit ###

    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Interessantes Lesevergnügen über die Kunstszene, in der das Leben der Künstler und die Rezeption ihrer Werke seltsam entkoppelt wirken.

    Der ideale Tag wird nie kommen. Der ideale Tag ist heute, wenn wir ihn dazu machen. -- Horaz


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