Angelika Klüssendorf - Das Mädchen

  • Inhalt:
    Angelika Klüssendorf erzählt von einem jungen starken Mädchen, das sich herausarbeitet aus allem, was sie umgibt und niederhält: die tyrannische Mutter, die autoritären Lehrer, der bürokratische Staatsapparat.
    Am Anfang scheint alles schon zu Ende zu sein: Der Vater trinkt und taucht nur sporadisch auf, die Mutter lässt ihre Wut an den Kindern aus, die Klassenkameraden meiden das Mädchen, der jüngere Bruder kapselt sich völlig ab. Und doch gibt es eine Kraft, die das Mädchen trägt. Die Bilder aus »Brehms Tierleben«, die sie bewundert, der Traum vom kleinen Haus mit Garten auf dem Lande, Grimms Märchen. Und immer wieder Menschen, die ihr etwas bedeuten und die sie halten. Eines hat sie gelernt: Man muss sich holen, was man braucht. Auch wenn sie mehrfach beim Ladendiebstahl erwischt und schließlich ins Heim gesteckt wird, kann sie sich auch dort auf die neue Lage einstellen. Und das Kinderheim wird auf überraschende Weise zu einem Refugium, wo Kindheit erstmals gelebt werden kann.
    Mit ihrer klaren, knappen, präzisen Prosa, großer Lakonie und trockenem Humor versetzt Angelika Klüssendorf den Leser in eine Welt, die das Kindsein kaum zulässt. Atemlos folgt man einer Heranwachsenden, die nichts hat, worauf sie sich verlassen kann, und trotzdem den Lebenswillen nicht verliert – kein bemitleidenswertes Opfer, sondern ein starker, abgründiger Charakter. Ein literarisches Meisterwerk!
    (Quelle: Verlagsseite)


    Die Autorin:
    Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute lebt sie in Berlin. Sie veröffentlichte unter anderem die Erzählungen »Sehnsüchte« und »Anfall von Glück«, den Roman »Alle leben so«, den Erzählungsband »Aus allen Himmeln« und zuletzt den Erzählungsband »Amateure«.
    (Quelle: Verlagsseite)



    192 Seiten
    Meine Meinung:
    In ihrem Roman "Das Mädchen" beschreibt Angelika Klüssendorf eine trostlose Kindheit, die man so eigentlich nicht als Kindheit bezeichnen kann.
    Der Roman beginnt mit "Scheiße". Das Mädchen und ihr Bruder sind in der Wohnung eingesperrt, die Gemeinschaftstoilette befindet sich im Treppenhaus. Die Eimer quellen über und sie versuchen, auf sich aufmerksam zu machen.
    Wenn der Vater betrunken ist, schlägt er die ebenfalls trinkende Mutter, die ihren Frust an ihren Kindern auslässt und diese schlägt oder drangsaliert. Dabei ist es egal, ob die Kinder gelogen haben oder die Wahrheit sagen - jeder Anlass ist der Mutter recht.
    Sie lässt sich Schikanen einfallen, z.B. muss der jüngere Bruder Alex mit ausgestreckten Armen je 1 Kissen hochhalten.
    Die Kinder verhalten sich vorsichtig in ihrer Nähe, das Mädchen lotet stets die jeweilige Stimmung aus, Alex entwickelt Ticks. Nie können die Kinder sicher sein, wie mit ihnen umgegangen wird, die Laune der Mutter schlägt schnell um.
    Ab und an wird das Mädchen in den Keller gesperrt, wo sie in "Brehms Tierleben" liest. Überhaupt liest sie gerne.
    In der Schule ist das Mädchen eine Außenseiterin,wird von ihren Mitschülern "Rippchen" genannt. Doch sie ist zäh, gibt nicht auf. Der Leser merkt schnell, dass das Mädchen einen Überlebenswillen hat, das es so schnell nicht aufgeben wird, egal wie schlimm seine Situation ist.
    Sie haut ab, landet in einem Heim, wo es ebenfalls nicht sehr angenehm ist; doch dort kann sie endlich Kind sein.
    Das Thema DDR wird nur am Rande erwähnt, wie z.B. in dem Heim, wo das Mädchen zum Heimleiter zitiert wird und er ihr sagt, " ihm sei zu Ohren gekommen, dass sie sich am sozialistischen Eigentum vergriffen habe".
    Klüssendorf erzählt eindringlich und distanziert und nie anklagend, jammernd und damit ein bedrückendes, aber lesenswertes Buch geschrieben.
    Der Roman stand auf der shortlist zum Deutschen Buchpreis 2011.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Danke, @ Conor, dass Du das Buch vorgestellt hast! Es interessiert mich sehr, und ich hoffe, dass ich es bald lesen kann, obwohl es ein sehr "ungemütliches" Buch werden wird. Von den Buchbesprechungen und Kommentaren, die ich bisher gelesen hatte, war es für mich eigentlich der Favorit für den Deutschen Buchpreis, leider ist daraus nichts geworden. ich werde mich hier wieder melden, sobald ich es gelesen habe!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Fürchterlich, aber grandios, unbequem u. ungemütlich, das auch - ich habe das Buch auch gerade gelesen, auf einen Rutsch. Das war bei 182 Seiten gut zu schaffen, ich wollte es nicht aus der Hand legen.
    Eine entsetzliche, traurige Kindheit und keiner fühlt sich wirklich verantwortlich. Das Leben später im Heim ist auch nicht die Krönung. Rührend ihre Sehnsucht nach dem kleinen Elvis, doch auch das wird bestraft. Sie lernt daraus: "Man muß sich holen, was man braucht."
    Nur das Ende hängt ein bißchen in der Luft oder man denkt alleine weiter.......
    Von mir gibt es :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: Auf jeden Fall lesenswert! :thumleft:


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Tatiana de Rosnay, Bumerang

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Danke für den guten Hinweis, Conor!
    Das Interview klärt doch einiges z.B. das Ende. Es handelt sich nämlich um eine Trilogie. Wie es dem Mädchen weiter ergeht, erfahren wir also im nächsten Band. Ich hoffe, dass darin auch die beiden Brüder vorkommen. Ihr Verbleiben bei diesem Monster von Mutter bereitet mir nämlich Kopfzerbrechen.
    Angelika Klüssendorfs Antwort, ob sie nun das Mädchen sei, ist nicht so ganz klar oder?


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Tatiana de Rosnay, Bumerang

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Am Anfang fliegt Scheiße aus dem Fenster. Sie landet auf dem Bürgersteig und auf dem Strohhut einer Passantin, der Briefträger kann sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Das zwölfjährige Mädchen, dessen Geschichte in diesem wunderbaren und bewegenden Buch erzählt wird, wirft die Scheiße aus dem Fenster einer Wohnung im dritten Stock, um auf sich aufmerksam machen, um zu zeigen, dass es sie noch gibt. Denn sie und ihr sechsjähriger Bruder Alex sind seit Tagen in der Wohnung eingeschlossen. Da sie die auf halber Treppe befindliche Toilette nicht erreichen können, verrichten sie
    ihre Notdurft in einen Eimer. Irgendwann kommt die Mutter wieder nach Hause, doch das ändert nichts.


    Denn die Geschichte der Kindheit und der Jugend dieses Mädchens, die Angelika Klüssendorf da mit durchaus autobiographischen Bezügen erzählt, ist traurig und furchtbar. Während er sich von der knappen und sehr präzisen Prosa Angelika Klüssendorfs immer mehr angezogen fühlt, wird der Leser von einer Katastrophe in die andere geführt. Denn mit jeder beschriebenen Episode aus dem Leben des Mädchens wird es schlimmer.


    Die Mutter des Mädchens arbeitet in einem Mitropa-Restaurant und ist auf eine Weise asozial und brutal, dass einen an manchen Stellen beim Lesen die nackte Wut packt. Doch das Mädchen ist stark, niemals ruft sie um Hilfe. Sie findet Trost in der Lektüre von Dumas’ „Der Graf von Monte Christo“, ein Buch, das sie einmal, um es ganz für sich behalten zu können, vollständig in mehrere Hefte abschreibt. Ihr bisheriges, von Prügel, Alkohol und fremden Männern im Bett der zunehmend verwahrlosenden Mutter hat sie hart gemacht. Sie lügt, sie stiehlt, schwänzt die Schule, und später, als sie vom Jugendamt in ein Heim gebracht wird, verprügelt sie auf brutale Weise wehrlose Kinder.


    Die Geschichte des Mädchens spielt in der DDR und zeigt, welches hässliche Gesicht dieser Staat auch hatte, welche Asozialität auch durch exzessiven Alkoholkonsum sich dort an den unteren Rändern einer Klassengesellschaft, die keine sein durfte, breit gemacht hatte. Doch diesen Teil der DDR zu zeigen, ist gar nicht das wesentliche Anliegen einer Autorin, die mit nüchternen Worten und ganz genau sich in die gequälten Seelen ihrer Figuren einfühlend, deren Ausweglosigkeit beschreibt.


    Doch „Das Mädchen“ sucht immer wieder Auswege, sie flieht aus dem Heim, wird wieder zurückgebracht, sie gibt auf ihre eigene Weise nicht auf. Mit dem Wort „Hoffnung“ wäre nicht ausreichend beschrieben, was sie treibt und nicht ruhen lässt. Es ist ein ihr selbst wohl erst später bewusst werdender Prozess der Selbstfindung mitten in einer absolut hoffnungslosen Existenz. Später im Heim ist es die Literatur, in der sie Halt und Trost findet. Regelrecht süchtig liest sie Bücher von Hemingway, Zola und Balzac.


    Man spürt schon bald, dass dieses Mädchen an dem, was ihr da widerfährt, an ihrem fruchtbaren Leben nicht zerbrechen wird. Man spürt, dass sie überleben wird.


    Angelika Klüssendorfs Roman ist eine bewegende und in seinem Ansatz sehr radikale Coming- of- Age-Geschichte, sprachlich auf höchstem Niveau und deshalb verdientermaßen auf der Short-List für den Deutschen Buchpreis 2011. Ein Buch, das einen mit Spannung auf Klüssendorfs nächstes warten lässt.

  • Dann holen wir auch diesen Fred nach über fünfeinhalb Jahren mal wieder hoch:


    Ja, ein Buch, in der DDR angesiedelt. Das ist nicht primär, doch wird dem aufmerksamen Leser immer wieder klar, sei es durch örtliche Hinweise wie die Molly (in Bad Doberan) oder dem Hotel Atlantik an der Ostseeküste, Dresden und seine Gemäldegalerie, die Mitropa als Arbeitsplatz der Mutter, ihre teils wechselnden « westlichen » Partner, die Musiklandschaft zwischen Schöbel und Beatlemania, der LPG etc...
    Doch als Beschreibung von sozialem Außenseitertum muss man wohl davon ausgehen, dass dieses Buch auch woanders hätte angesiedelt sein können. Hier aber es geht nicht um eine « ehrbare Armut » (eigentlich prima, dass die Autorin Kurzschlüsse vermeidet?), wie bei Freundin Elvira, sondern um ein totales Abdriften jedweder Barrieren.


    Auf das Mädchen zutreffende Begriffe wären für mich zäh, sich durchbeißend, widerbortstig, sich durchboxend uä. Das ist sicherlich bewunderungswert und vielleicht die einzigste Art, eben nicht aufzugeben. Doch sollte man darüber vergessen, dass sie als « ehemaliges » Opfer einer wirklich unmöglichen Mutter nicht auch selber in Gefahr läuft, genauso zu handeln und « Täterin » zu werden? Selbst wenn sie in ihrem Innern quasi sich des Besseren bewusst ist ? Sie wird ebenso die « Kissenprobe » auf eine Schwache im Umfeld anwenden. Sie hänselt dann auch, spielt sich auf etc. Gleichzeitig gibt es jene bemerkenswete Feststellung, dass das Mädchen wünscht, « sich nicht mehr wehren zu müssen ».


    Man ist fast überrascht, dass der Erzählzeitraum letztlich circa fünf Jahre umfaßt zwischen ihrem 12. und 17. Lebensjahr.


    Im Umkehrschluß darf man sich bangend fragen, was der schrecklichen Mutter wohl noch anderes all passiert sein mag, was sie eben zu dem gemacht hat, wie und was sie ist. Zur selben Zeit : sind wir nur Produkte ? Haben wir einen eigenen Willen ? Diese Fragen tauchen für mich auf…


    Ich finde den Erzählton sehr nüchtern, fast distanziert. Der Präsenz wird durchgezogen und beibehalten. Und manchmal ist der Inhalt an der Schmerzens- bzw Ekelgrenze. Nein, keine Suche nach Mitleidheischendem. Dennoch : welcher Widerwillen, welche Wut kommt in einem hoch. Sicherlich kein Wohlfühlroman, sondern harter Tobak. Also es wird Zeit, dass ich langsam wieder mal was « Helleres » lese...