Siegfried Lenz - Die Maske. Erzählungen

  • Klappentext:
    Es ist Sommer geworden. Auf der kleinen Insel in der Elbmündung sind die ersten Feriengäste angekommen, und für den Wirt der Gaststätte Blinkfeuer hat die Saison begonnen. Da peitscht ein Unwetter von der Nordsee über die Insel, und als die Menschen sich wieder an den Strand trauen, liegt dort eine große Kiste, im Sturm über Bord gegangen von einem Schiff der China Shipping Container Lines. Darin befinden sich Masken, bestimmt für das Völkerkundemuseum in Hamburg. Die Menschen probieren die Masken an, sind plötzlich selbst Drache, Tiger oder Puma. Die vermeintliche Maskierung bringt das wahre Gesicht zum Vorschein. Daraus ergeben sich Komplikationen. (von der Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    Siegfried Lenz, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, zählt zu den bedeutenden und meistgelesenen Schriftstellern der Gegenwartsliteratur. Für seine Bücher wurde er mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2009 mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte. Neben zahlreichen Romanen, Erzählungs- und Essaybänden erschienen aus Anlass seines achtzigsten Geburtstags sämtliche Erzählungen in einem Band (Die Erzählungen) sowie die Essaysammlung Selbstversetzung. 2008 veröffentlichte er die Novelle Schweigeminute, 2009 das Stück Die Versuchsperson und Landesbühne, zuletzt Wasserwelten. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeines:
    Fünf thematisch und in der Länge unterschiedliche Erzählungen sind in diesem Buch zusammengefasst:
    1. Rivalen (S. 9-21), 2. Die Maske (S. 23-61), 3. Die Sitzverteilung (S. 63-78 ), 4. Ein Entwurf (S. 79-104), 5. Das Interview (S. 105-123)
    Erschienen 2011


    Inhalt:
    „Eine Geschichte will nicht abbilden, beschreiben, berichten, was sich so oder so ereignete oder hätte ereignen können. Sie kann sich weder Ablenkungen vom Thema leisten noch auf zarte Entwicklungen eingehen. Sie ist nichts weiter als die Spiegelung der Sekunde, in der das Tellereisen zuschnappt: das Ablösen und der Transport der Beute werden dem Leser überlassen“, zitiert der Klappentext der 1970 erschienenen Gesammelten Erzählungen den Autor Siegfried Lenz.
    Auch mit diesem Buch gibt er uns wieder die Gelegenheit, die Beute zu lösen und abzutransportieren.


    Eigene Meinung / Bewertung:
    Gemeinsam ist allen Erzählungen (nur die erste fällt dem Rahmen): Der Ort der Handlung ist am oder auf dem Wasser und die Wahl einer ungewöhnlichen Erzählperspektive.


    1. Rivalen
    „Mir bleibt nichts anderes übrig“, antwortet Detlev, wenn seine Frau Sandra fragt, ob er sie liebt. Nicht gerade der Satz, den Sandra hören will. Kein Wunder, dass sie eifersüchtig auf Antonia mit dem blauen Schal ist, der Detlev jeden Morgen entgegenfiebert und die er stets extra freundlich begrüßt. Auch wenn Antonia nur das Gemälde eines El Greco-Schülers ist, das im Museum hängt, in dem Detlev als Wärter arbeitet. Zu allem Überfluss bringt er Antonia eines Tages mit nach Hause, nächtigt bei ihr im Schuppen, während Sandra allein im Ehebett liegt. Als Detlev Antonia in die Wohnung bringt, greift Sandra sie an.
    Von den fünf Erzählungen ist diese die leichteste, die ein wenig verspielt mit dem Gefühl von Liebe und Eifersucht umgeht. Denn es ist nicht das Gemälde, das Detlev liebt, sondern die Frau, die es zeigt und der er menschliche Regungen zuschreibt („Sie erwartete ihn gewiß schon“, „ Sie sah … herab“, „Sie schien einverstanden zu sein.“) Und wie immer am Ende einer schmerzhaften Dreiecksbeziehung tragen alle Beteiligten ihre Blessuren davon.


    2. Die Maske
    Die titelgebende, im Klappentext dargestellte und mit 40 Seiten längste Geschichte der Sammlung wird erzählt von dem jungen Jan, Enkel des Kneipenwirts der Insel. Unter der Maske eines Drachen, die er ergattert, wagt er, sich seiner Angebeteten, Lene in der Maske einer Wildkatze, zu nähern.
    Wirklich unkenntlich wird niemand hinter seiner Maske; dazu kennt man einander zu gut auf der Insel. Es scheint eher, als färbten die Eigenschaften, die man den Tieren zuschreibt, auf die Träger ab, Mut, Sanftmut, Tapferkeit, Treue, Neugier. Das Versteck hinter der Maske ist aber nur ein kurzes Intermezzo, weil das Museum die Rückgabe fordert. Doch warum zetteln die Männer, die sich als Bär und Frosch gerade verbrüdert haben, eine Prügelei an? Warum wird die Wildkatze abweisend? Und was haben die Leute mit der Veränderung zu tun, die nie eine Maske trugen?
    Der Schriftsteller als Moralist – er braucht keine Bewertungen oder Kommentare abzugeben, weil er seine Geschichte von einem unbedarften Jungen erzählen lässt, der noch nicht gelernt hat, dass sich hinter einem Gesicht andere Gesichter verbergen können.


    3. Die Sitzverteilung
    Kapitän Karsten Klockner soll in einem Festakt für besondere Verdienste geehrt werden. Doch was genau war seine mutige Tat?
    Klockners Geschichte wird von der Person erzählt, die für die Dekoration des Festsaales verantwortlich ist, also von jemandem, der völlig außen vor steht. Sein Bericht folgt den Leuten, deren Namenskärtchen er auf den Stühlen verteilt, dem Steuermann, dem Reedereivertreter, dem blinden Passagier, dem Zeitungsredakteur und anderen.
    Wirkt die Geschichte zunächst wie eine Begebenheit, die sich ein Außenstehender durch Hörensagen und die Beobachtung, wie sich die Gäste des Festaktes begrüßen, zusammenreimt – stilistisch kenntlich durch den Gebrauch von Möglichkeitsformulierungen -, wird sie immer dichter und näher, als sei der Außenstehende zum Augenzeugen geworden. Mit der Pointe trifft die erzählte Geschichte wieder auf die Rahmenerzählung, der Kreis schließt sich.


    4. Ein Entwurf
    Ein namenloser Ich-Erzähler wird im Krankenhaus zu einem Schriftsteller ins Zimmer gelegt und hört mit, als sein Zimmernachbar der Ehefrau den Entwurf zu einer Erzählung vorliest, auf die die Frau sonderbar reagiert.
    Eine doppelt distanzierte Erzählperspektive, die Geschichte gefiltert durch ihren Autor und dessen Zuhörer. Es geht um die Biographie eines jungen Mannes, und sie scheint wahr zu sein, weil sie bei der Ehefrau heftige Gefühle auslöst. Erst die Pointe bringt die Erklärung; gleichzeitig erhält der Titel „Ein Entwurf“ eine komplett neue Bedeutung.
    Durch die Pointe, die beim Lesen fast körperlich schmerzt, ist diese Erzählung die berührendste des Buches.


    5. Das Interview
    Der Ich-Erzähler, ein Zeitungsredakteur, interviewt einen bekannten Regisseur zu dessen neuestem Film; in einer Privatvorführung darf er den Film kurz vor dem Gespräch sehen.
    Die eigentliche Geschichte, die des Films, entfaltet sich im Dialog zwischen Regisseur und Redakteur. Das ständige Eingreifen des Regisseurs, um seinem Interviewpartner Bilder und Einstellungen des Films interpretierend zu erklären, empfinde ich als störend und irritierend.
    Oder will Lenz den Lesern etwa damit sagen: Deutelt nicht so viel an der Literatur herum; seht euch die Bilder / Geschichten in Ruhe an und lasst sie einfach wirken?


    Alle diese Geschichten erscheinen auf eine anheimelnde Art altmodisch: Das Liebespaar verabredet sich ohne Handy, der Schriftsteller schreibt in ein Schulheft, der Redakteur auf einen Notizblock, und der Saaldiener lässt Namenskärtchen drucken. Verstärkt wird der Eindruck durch die Verwendung der deutschen Rechtschreibung vor der ersten Reform, obwohl dieses Faktum vermutlich eine Konsequenz von Lenz’ Unterschrift unter die Frankfurter Erklärung ist.


    Fazit:
    Eine kleine, aber sehr feine Sammlung von Erzählungen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ein Erzählband mit 4 wunderbaren Geschichten!


    Denn außer der letzten Erzählung „Das Interview“, die mich nicht erreichen konnte, weil sie ein wenig zu skurril konstruiert ist und der Lesefluss, der so schön mit den Vorgeschichten rhythmisch dahin floss, komplett verloren ging.


    Doch die anderen Geschichten: „Rivalen“, „Die Maske“, „Die Sitzverteilung“ und „Ein Entwurf“ sind lebendige „Fiktionen“ eines älteren Autors, dessen Zeit und Leben man anhand dieser Erzählungen spüren, ja wahrnehmen kann, so plastisch sind sie transportiert. Sie zeugen von einer vergangenen Zeit (ohne Handy, Laptop und PC), in der Unterhaltung noch eine andere war, und menschliches Beisammensein und Miteinander aus heutiger Sicht, fast fremdartig erscheint. Eine tiefe Sehnsucht klingt immer mit, die allerdings beim Lesen ein wunderbares Gefühl erzeugt.


    Siegfried Lenz, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, zählt zu den bedeutenden und meistgelesenen Schriftsteller der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Für seine Bücher wurde er mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2009. Der Autor lebt seit 1951 in Hamburg.