Adriana Altaras - Titos Brille: Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

  • Klappentext:
    Die Schauspielerin und Regisseurin Adriana Altaras führt ein ganz normales chaotisches und unorthodoxes Leben in Berlin. Mit zwei fußballbegeisterten Söhnen, einem westfälischen Ehemann, der ihre jüdischen Neurosen stoisch erträgt, und mit einem ewig nörgelnden, stets liebeskranken Freund, der alle paar Monate verkündet, endlich auswandern zu wollen. Alles bestens also...
    ...bis ihre Eltern sterben und sie eine Wohnung erbt, die seit 40 Jahren nicht mehr ausgemistet wurde. Fassungslos kämpft sich die Erzählerin durch kuriose Hinterlassenschaften, bewegende Briefe und uralte Fotos. Dabei kommen nicht nur turbulente Familiengeheimnisse ans Tageslicht. Auch die Toten reden von nun an mit und erzählen ihre eigenen Geschichten...
    Mit furiosem Witz und großer Wärme verwebt Adriana Altaras Gegenwart und Vergangenheit. In eindringlichen Episoden erzählt sie von ungleichen Schwestern, von einem Vater, der immer ein Held sein wollte, und von einer Mutter voller Energie und Einsamkeit. Vom Exil, von irrwitzigen jüdischen Festen, von einem geplatzten italienischen Esel und einer Stauballergie, die ihr das deutsche Fernsehen einbrockte – und von den vielen faszinierenden Mosaiksteinen, aus denen sich ein Leben zusammensetzt.
    Eine außergewöhnliche Familiengeschichte, die ihre Spuren quer durch Europa und das bewegte 20. Jahrhundert zieht – um wieder in der Gegenwart anzukommen und eine ebenso kluge wie hellsichtige Zeitdiagnose zu liefern. Unwiderstehlich witzig, anrührend und unvergesslich.
    (von der Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, 1964 Umzug nach Italien, ab 1967 Schulbesuch abwechselnd in Deutschland und Italien. Sie studierte Schauspiel an der Berliner Hochschule der Künste und an der New York University und ist seit 1983 in zahlreichen Filmen für Kino und Fernsehen zu sehen. Seit den 90er-Jahren inszeniert Adriana Altaras zudem regelmäßig an deutschen Schauspiel- und Opernhäusern. Sie ist Mitbegründerin des Off-Theaters Zum Westlichen Stadthirschen, war Mitarbeiterin bei Steven Spielbergs Shoah Foundation und übernahm 2002 die Künstlerische Leitung der Jüdischen Kulturtage in Berlin. Auszeichnungen u.a.: Bundesfilmpreis, Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen (zusammen mit Joachim Król), Silberner Bär für schauspielerische Leistungen (Berlinale 2000). Adriana Altaras lebt in Berlin, hat zwei Söhne und den braunen Gürtel in Karate. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeines:
    272 Seiten
    Erschienen 2011 im Verlag Kiepenheuer und Witsch
    Ich-Erzählung, in die entlang der Chronologie der Gegenwart assoziativ Ereignisse und Menschenschicksale aus der Vergangenheit eingewebt sind.


    Inhalt:
    Die strapaziöse Familie – das sind weniger Ehemann Georg und die Söhne als die über den halben Erdball versprengte Verwandtschaft. Diejenigen, die den Holocaust überlebten, wohnen heute in Deutschland, Israel, Amerika, Kroatien, Italien. Zur Familie gehören auch die Dibbuk, die Geister der Verstorbenen, die sich einmischen, wenn die Tochter nicht der jüdischen Tradition, sondern ihrem eigenen Kopf folgt.
    Nach dem Tod der Eltern macht sich die Autorin halb gezwungen, halb freiwillig auf die Suche nach den Wurzeln, nach der Wahrheit und den Familienlegenden und verbindet dies mit ihrem Beruf und ihrem Alltag als Ehefrau eines westfälischen Katholiken und Mutter zweier Söhne.


    Eigene Meinung / Beurteilung:
    Vom Vater hat sie das Talent geerbt, die eigene Geschichte auszuschmücken, so dass ein Leser / Hörer sich fragt: Erfunden oder tatsächlich passiert? Die Mutter vererbte ihr die Beharrlichkeit, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen und durchzuziehen, auch wenn Steine im Weg liegen und sie im Chaos versinkt. Gepaart mit Familiensinn und zuhause in mindestens vier Sprachen entfaltet Adriana Altaras ihr Leben als Tochter der ersten Generation nach der Judenverfolgung.


    Adrianas Vater musste während der ethnischen Vertreibungen in den 1960er Jahren sein Heimatland Jugoslawien verlassen, obwohl er der Legende zufolge enger Vertrauter von Tito war. Er stirbt 2004 und kurz darauf seine Frau; der Tochter hinterlassen sie ihr Haus, das getreu dem Motto „Wer wegwirft, ist ein Faschist“ eingerichtet und vollgestopft ist. Dass die Tochter unter diesen Umständen die Hinterlassenschaften nicht zum Müllcontainer bringt, liegt auf der Hand.
    Briefe, Fotos und alte amtliche Dokumente fügen sich zu einem Lebensbild, geben Auskunft über das Vergangene, führen zu weiteren Familienmitgliedern und deren Schicksalen und binden Adriana in den historischen und familiären Kontext.


    Immer dann, wenn jüdische Gebote auf deutsche Vorschriften oder Gewohnheiten treffen, ist großes Lamento angesagt (Zeit zwischen Tod und Beerdigung: 24 Stunden – 3 Tage; Feiertage; Beschneidung der Söhne, u.a.). Dieses Lamento betreibt die Autorin mit einer gewissen Koketterie: Mir liegt ja im Prinzip wenig daran, die jüdischen Traditionen und Feierlichkeiten fortzusetzen, aber ich kann es meiner Familie / meiner Religion nicht antun, sie zu ignorieren. Im Zweifelsfall darf ein Dibbuk eingreifen, um sie auf den rechten jüdischen Pfad zu führen.
    (Dieser Gewissenskonflikt und die Klagen über Wollen und Tun lassen sich allerdings alljährlich auch aus dem christlichen Kulturkreis an den opulenten Weihnachtstagen oder den aufwändig vorbereiteten Erstkommunionfeiern hören.)


    Mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Ironie und liebevollem Verständnis beschreibt und karikiert die Autorin nicht nur ihre unzähligen Tanten, Onkel, Cousinen und Freunde, sondern auch ihre eigene Rolle und die speziellen Eigenarten jüdischer Gemeindemitglieder. Dabei verteilt sie ihre Seitenhiebe auch an das gelobte Land Israel und an die unbelehrbaren gutbürgerlichen Antisemiten Deutschlands.


    Die Kenntnis jüdischer Gebräuche und Feste hilft sicher, das Buch in seiner Gesamtheit besser zu verstehen. Das Leben der Eltern regt dazu an, sich mit der jüdischen Geschichte in ehemals Jugoslawien zu beschäftigen.


    Fazit:
    Ein umwerfendes Buch: komisch, spritzig, klug und lehrreich.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Als ihre Eltern kurz hintereinander sterben und sie in deren verwaisten Gießener Wohnung die Hinterlassenschaft eines ganzen Lebens ordnen muss, da, so nehme ich an, ist in der Schauspielerin Adriana Altaras der Entschluss gereift, das Leben und die Lebensgeschichte ihrer Eltern, deren Bedeutung für ihr eigenes Leben sie bisher nur ausschnittweise begriff, aufzuschreiben.


    Eingebettet in ihren Lebensalltag mit einem nichtjüdischen Mann, der schon lange viel Verständnis aufbringt für all die Neurosen der Nachkommen der Holocaust-Überlebenden, ihren Kindern, vielen Freunden und ihrem Beruf als Schauspielerin und Regisseurin erzählt sie das Leben ihrer Eltern.


    Das Sichten der Hinterlassenschaften ihrer Eltern in einer Wohnung, in der vierzig Jahre lang jede Kleinigkeit aufgehoben wurde, vergegenwärtigt Adriana Altaras nicht nur das bewegte Leben des Vaters und der Mutter, sondern konfrontiert die deutsche Jüdin auch mit ihrem eigenen Jüdischsein und einer Zeit in der es lebensgefährlich war, ein Jude zu sein.


    Wie sie diese Geschichte und die damit verbundenen zahllosen Geschichten erzählt, mit Witz und einem bewundernswerten Humor, wie sie ihre eigene jüdische Identität in Deutschland reflektiert, ohne sie permanent vor sich her zu tragen, das ist als Lektüre unterhaltsam. Ich habe viele Bücher von Autorinnen gelesen, die als Kinder von Überlebenden schreibend versuchten, etwas zu bewältigen von der unendlichen Trauer und Last, die die Eltern ihnen quasi vererbten, vor allem dadurch, dass sie schwiegen. Keines aber hat mich so fasziniert, stellenweise begeistert wie diese "Geschichte meiner strapaziösen Familie".


    Da ist der imponierende Vater Jakob, geboren 1918 in Split, der als Medizinstudent in Italien das Dritte Reich überlebte, wobei er den Mut hatte, 40 jüdische Kinder aus Kroatien vor dem Transport in ein Vernichtungslager zu retten. Allein die Geschichte dieses Mannes der Nachwelt zu erhalten, ist das Buch wert gewesen. Nach dem Krieg in der jugoslawischen Parteihierarchie sehr weit aufgestiegen, fiel er 1964 in Ungnade und wurde als Jude aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Über Zürich floh er nach Deutschland, wo er als Arzt, und später als Professor für Radiologie an der Universität eine Lebensstellung erhielt, wo er später ein Verfahren zur Erkennung von Dickdarmerkrankungen entwickelte, das noch heute angewendet wird. In Gießen gründete er eine jüdische Gemeinde und schaffte es, dass sie Synagoge wieder aufgebaut wurde. Sein Traum war es, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland zu werden, und dort mit den Zuständen, die er immer wieder kritisierte, aufzuräumen.


    In seiner zweiten Ehe war er mit Thea Altaras verheiratet, einer Architektin, die für ihre Forschungen und Veröffentlichungen zur jüdischen Architektur in Hessen bekannt wurde. Als Tochter dieses rührigen und unruhigen Paares ist Adriana Altaras aufgewachsen. Doch vieles war auch ihr unbekannt, bis sie nach dem Tod der den Vater um kurze Zeit nur überlebenden Mutter die Giessener Wohnung auflösen muss. Die Fotos vor allem sind es, die sie zurückführen in eine Vergangenheit, die heute noch schmerzt:
    "Ich weiß genau, warum ich keine alten Fotos mag. Geschichten, die nicht einmal im Traum zu verdauen sind."


    Doch sie stellt sich dieser Aufgabe und schreibt alles auf, was sie dabei erlebt. Herausgekommen sind Beobachtungen von inneren und tatsächlichen Reisen durch die Gegenwart und die Vergangenheit, Selbstvergewisserungen einer Jüdin in Deutschland, die die Qualität großer Literatur haben. Denn ihre Sprach- und Erzählkunst ist enorm, der Bogen der Geschichten weit gespannt. Es gelingt ihr, nicht nur in den innerjüdischen Auseinandersetzungen in Deutschland nicht nur zwischen den Zeilen Duftmarken zu setzen, sondern auch dem nichtjüdischen Leser zu vermitteln, wie eine Frau mit dieser Familiengeschichte im Rücken in Deutschland lebt und arbeitet, gerne und bewusst, wie sie immer wieder betont.


    Ein Buch, das auf warmherzige Weise dem Leser etwas vermittelt von der Geschichte einer jüdischen Familie in Deutschland.

  • Hm, ich bin halt wieder mal diejenige, die den positiven Meinungen zu diesem Buch nicht zustimmen kann :lol: .
    Da kommt die gute Frau Altaras bereits auf einer der ersten Seiten ihres Buches daher mit dem Satz: "Meine Tante hat recht. Die Vergangenheit ist jetzt." Dieser Satz scheint die Grundlage zu bilden, um dem Leser sämtliche freiwilligen und Zwangsumsiedelungen jedes einzelnen Familienmitgliedes bis hin in den dritten oder vierten Verwandtschaftsgrad mit allen entsprechenden Umständen plus deren Werdegang zu erzählen. Das kann bei so einer großen Familie schon mal in Unübersichtlichkeit ausarten, und vielleicht hin und wieder in Details, die nicht so furchtbar interessant auf mich gewirkt haben, um es euphemistisch auszudrücken.
    Diese recht kompletten geographischen Lebenswege der zahlreichen Mitglieder von Frau Altaras Familie lockert sie mit kleinen humoristischen Szenchen aus ihrem geplagten eigenen Dasein auf - ihre humoristische Intention ist dabei jedenfalls klar zu erkennen. Immerhin habe ich auch zwei Mal gelacht und ein paar wenige weitere Male geschmunzelt, aber in den allermeisten Fällen war ihr Humor nicht mein Fall: sie nötigt jeder Menge biederer Klischees lahme Pointen ab, darunter der Frauenfeindlichkeit von orthodoxen Rabbinern, den Bedenken vor der Beschneidung des Sohnes etc. Außerdem: Frau Altaras glaubt doch wohl nicht wirklich, dass nur bei Hausratsauflösungen von verstorbenen jüdischen Verwandten ganze Halden von unnützem Kram zutage treten, oder? Und dann der Freund Rafi, der, ob es ihn nun im richtigen Leben von Frau Altaras gegeben haben mag oder nicht, auf jeden Fall ins Buch hinein muss, weil sie an ihm alle anderen jüdischen Klischees und Vorurteile, die sie nicht in ihrem eigenen chaotischen Familienepos unterbringen konnte, anhängen kann. Ich empfinde schon Autoren wie Ehraim Kishon und Oliver Polak nicht gerade als "Bringer" in Sachen Humor (auch das ist wieder sehr euphemistisch ausgedrückt), aber deren Witze erscheinen mir beinahe als "rasant", wenn ich sie mit Frau Altaras übermüdeten Pointen vergleiche.


    Die Stelle, an der sich Frau Altaras für mich dann vollends zur Nicht-Sympathieträgerin gewandelt hat, war ihre gedanklich nicht vorhandene Reflektion zum palästinensisch-israelischen Konflikt: da fliegt sie kurz vor Weihnachten mal rasch ein paar Verwandten in Tel Aviv besuchen, und kurz nach ihrer Rückkehr wird Israel wieder mal von gegnerischen Bombenangriffen heimgesucht. Die einzige Frage, die Frau Altaras hierzu stellt, ist die nach dem Wohlergehen ihrer dortigen Verwandten. Das mag ja wichtig sein, aber von einer Autorin, die ständig in ihrem Buch das wirklich schlimme historische Schicksal einiger ihrer Verwandten in Konzentrationslagern bedauert, die sich ständig über nicht geleistete Restitutionen aufregt, hätte ich schon erwartet, dass sie nicht nur mit "Die Vergangenheit ist jetzt" daherkommt. Meine Güte, Frau Altaras, auch das Jetzt ist Jetzt! Und es soll mir keiner zu erzählen versuchen, dass diese jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern keine Söhne, Töchter, Mütter, Väter, Brüdern oder Schwestern verstümmelt oder ihnen das Leben gekostet haben, und zwar auf beiden Seiten! Zu allem will die Frau eine Meinung haben, und hier interessiert es sie nicht?!
    Genauso hat mich die Autorin enttäuscht, als sie sich hat ausbilden lassen, um Interviews mit überlebenden KZ-Häftlingen zu führen. Ihr Fazit danach: sie haben diese Interviews deprimiert, aber sie hat das auch gebraucht, diese Vergangenheitsaufarbeitung, so für sich selbst. Ich weiß nicht, aber irgendwo hätte ich mir an dieser Stelle ein paar sensible Kommentare zu den interviewten Personen gewünscht, wie sie gewirkt haben, ob Frau Altaras meinte, ihnen auf irgendeine, wenn auch unbedeutende, Weise, durch Zuhören und echtem Interesse geholfen haben zu können. Authentisches Interesse für die interviewten Personen kam bei mir seitens Frau Altaras irgendwie nicht an, eher wieder mal das recht breite Ego von Frau Altaras, das meines Erachtens sowieso zu viele Seiten in ihrem Büchlein einnimmt und sie dominiert.


    Ich mag diese Autorin nicht, und ich werde nichts mehr von ihr lesen.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Hm, ich bin halt wieder mal diejenige, die den positiven Meinungen zu diesem Buch nicht zustimmen kann .

    Du bist nicht allein. :wink: Auch ich kann mich mit Frau Altaras und ihrer Geschichte nicht so recht anfreunden. Zwar aus etwas anderen Gründen, aber der Effekt bleibt das gleiche.


    Fangen wir beim Untertitel "Die Geschichte meiner strapaziösen Familie" an - für mich war lediglich die Autorin strapaziös. Sicherlich hat sie eine nicht ganz so normale 08/15-Kindheit, aber so aufgedreht und überkandidelt, wie sie da durch ihr Buch schreitet, kann ich dieses Adjektiv nur ihr zuschreiben, nicht dem Rest der Familie. Der ist halt einfach wie er ist, aber so anormal von einer deutschen Durchschnittsfamilie kam er mir nun nicht vor, trotz der vorhandenen tragischen Familiengeschichte. Zwischendurch dachte ich einige Male "Deine Familie ist strapaziös? Du hättest meine kennenlernen sollen" :roll: Die einzige, die (wohl mit schriftstellerischer Absicht und vielleicht einer Portion Humor) alle um sich herum strapaziert mit ihrer Art, ist doch wohl die Autorin selbst als Dramaqueen und ihr seltsamer jüdischer Freund. Da bin ich allerdings Hypocritias Meinung - sei Raffi echt oder erfunden, er ist als Klischee-Rolle in diese Geschichte hinein gebaut, mehr nicht.
    Das ganze Getue um die religiösen Rituale und ob ja - ob nein, ging mir auch ziemlich auf den Wecker. Wo bitte ist der Unterschied zu Menschen anderer Religionszugehörigkeit, die sich genauso verhalten? Das alles ist doch schlicht und ergreifend Alltag für Millionen von Menschen, ob Christ, Muslim, Hindu oder Jude - jeder steckt immer wieder mal in der Zwickmühle, ob er sich Konventionen unterwirft oder mal zu seiner persönlichen Meinung steht und seinen Weg geht ohne Rücksicht darauf. Und eine eigene religiöse Überzeugung kann ich der Autorin - zumindest anhand dieses Buchs - nicht abnehmen. Zu sehr stellt sie immer wieder ihr anders gelagertes Verhalten in den Vordergrund.
    Zum anderen scheint sie mir auf einem sehr hohen Niveau zu jammern, denn auch wenn sie immer wieder mit den Augen rollt, so springt sie doch dann ständig einfach in den nächsten Flieger, mal nach Israel, mal in die USA ohne jede Überlegung zum Alltag ihrer Familie oder ob das mal eben das Budget erlaubt u.ä. Auf der einen Seite also dieses nonchalante "ich mach mal eben schnell" und dann z.B. andererseits das Getue über die Bar-Mizwa ihres ältesten Sohns, die vielen Zusagen und die Kosten - unglaubwürdig für mich. [-(


    Und dieses Gefühl von "unglaubwürdig" hatte ich bei so einigen Geschichten - sicherlich sind ein paar mit einem Augenzwinkern erzählt, aber nicht alles. Und der Funke einer ehrlichen Lebensgeschichte kam bei mir nicht an. Ich nehme es der Autorin einfach nicht ab.


    Was mich stilistisch gestört hat ist dieser Kunstgriff der klein geschriebenen Kapitelüberschriften - wozu? Effekthascherei? Eine versteckte Botschaft, die ich nicht verstehe? Keine Ahnung, für mich einfach überflüssig. Die Geschichte soll so wirken, als ob die Autorin einfach so erzählt und anhand der Erbstücke von ihren Eltern die Familiengeschichte aufrollt - da stört so etwas einfach, mich zumindest, denn es passt nicht zum Rest.


    Ihr persönliches Verhalten nach dem Israel-Besuch kann ich der Autorin wiederum nicht derart anlasten wie Hypocritia - ich glaube, wir sollten Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen nicht auf einen ethischen Sockel heben. Sie sind auch nur menschlich und denken von daher eben erst mal nur an die eigenen Leute und der Rest, v.a. Israel, ist weit weg. Zwar hat Hypocritia nicht unrecht mit ihren Bemerkungen zur Diskrepanz zwischen der Familiengeschichte der Autorin und ihrem eigenen Verhalten, aber vielleicht erwarten wir da einfach zu viel.


    Insgesamt hat es bei mir auch nur zu :bewertung1von5::bewertung1von5: gereicht für einen guten Ansatz, aus dem mehr hätte werden können, ein paar witzige Einsichten in Alltagsprobleme (wie die Fristen bei Begräbnissen :wink: ) und einen leicht lesbaren Stil. Aber ich hab das Gefühl, dass Frau Altares beim Film und Theater bleiben sollte.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ihr seid nicht alleine ;-)



    Adriana Altaras ist Schauspielerin, man kennt sie aus den Filmen von Rudolf Thome und Dani Levy. Geboren ist Adriana Altaras in Zagreb, aber aufgewachsen in der Bundesrepublik.

    Und mit der Geschichte von »TITOS BRILLE« hat es Folgendes auf sich: Ihr Vater Jakob kämpfte während des Zweiten Weltkriegs bei Titos Partisanen gegen die Deutschen. Als sich im Jahr 1944 die Partisanen in den kroatischen Bergen verschanzt haben, ging die Brille des Marschalls kaputt. Und Jakob Altaras soll die Brille repariert und die Partisanen den Kampf gewonnen haben. Der Vater wird zum Held, auch in der Familie – bis die Tochter realisiert, dass Tito in der fraglichen Zeit gar keine Brille getragen hat. Das Wort Held fällt in diesem Film noch öfter, wenn auch äußerst süffisant . . .

    Diese Geschichte aus einer »strapaziösen Familie« – wie der Untertitel des »TITOS BRILLE« zugrundeliegenden Buchs lautet – ist so etwas wie ein Paradigma. Es geht um Legenden und Lügen in der Familie, Mythen in der Gesellschaft, die Spuren der Vergangenheit und die Verwerfungen des mordlüsternen 20. Jahrhunderts. In ihrem Buch unternahm Altaras eine Reise zu den Stationen ihres Lebens und ihrer Familie. Leider ist diese Reise in meinen Augen für den Leser oft mühsam. Die Reise erfolgt nicht chronologisch, sondern in Sprüngen. Im einen Moment ist man in Südafrika, im nächsten Moment in Italien und dann wieder in Israel. Dennoch empfand ich vieles auch sehr berührend, beispielsweise als die Autorin schildert, wie ihre Eltern von den Besatzern abtransportiert wurden.