Roy Jacobsen - Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte / Vidunderbarn

  • Klappentext: Norwegen 1961 - Finn ist zehn Jahre alt und wächst in einer schmucklosen Vorstadt von Oslo auf. Er ist schmächtig, aber vielleicht der klügste Junge seiner Klasse. Von seinem Vater weiß er nur, dass er bei einem Unfall ums Leben kam. Seine Mutter aber führt ihn sicher durchs Leben. Bis die beiden eines Tages einen rätselhaften Untermieter aufnehmen und bald darauf auch Finns Halbschwester Linda. Die Sechsjährige ist die Tochter des toten Vaters und einer dorgensüchtigen Mutter. Ihr Gepäck: ein himmelblauer Koffer und jede Menge emotionaler Sprengstoff. Das dicke, unscheinbare Mädchen wird Finns Leben bald für immer verändern.


    Autor: Roy Jacobsen, geboren 1954 in Oslo, ist einer der meistgelesenen Schriftsteller Norwegens, der sich auch über die Grenzen seiner Heimat hinaus einen Namen gemacht hat. Nachdem sein Werk bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet worden war, schaffte es "Das Dorf der Wunder" - erschoenen im Frühjar 2010 bei Osburg - 2009 unter die besten acht des renommierten International IMPAC Dublin Literary Award.


    Inhalt: Der junge Finn lebt in einer kleinen Wohnung bei Oslo. Der Vater ist gestorben, die Mutter verdient als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft gerade genug für sich und ihren Sohn. Doch für die neuen Tapeten bleibt nichts übrig, also müssen die beiden ihre Prinzipien über Bord werfen und einen Untermieter aufnehmen. Kristian heißt der junge Mann und hat sogar einen Fernseher. Und dann zieht noch eine vierte Person ein: Finns Halbschwester Linda, ein kleines schüchternes Mädchen, dass einige Zeit braucht, sich ihrer neuen Familie zu öffnen, um das Leben der beiden gründloich auf den Kopf zu stellen.


    Meine Meinung: Mit 30 Kapiteln und circa 270 Seiten, sowie die Beziehung zweier Kinder zueinander als Hauptaspekt, scheint das Buch anfangs leichter und weniger anspruchsvoll zu sein, als es tatsächlich ist.
    Protagonist und Ich-Erzähler Finn ist gerade einmal 10 Jahre alt, schwankt in seiner Verhaltensweise allerdings zwischen einem kleinen Kind und einem Erwachsenen. Nicht nur seine rationale Denkweise, sondern auch seine Art zu sprechen und zu handeln sind um einiges vernünftiger, als es für sein Altern angebracht wäre. Allerdings kommt es dann auch zu Situationen, in denen er seiner Mutter in den Arm beißt, weil er wütend auf sie ist. Von ihr wird er ansonsten meistens so behandelt, als wären sie gleichgestellt.
    Linda ist zu Beginn ein schüchternes Kind, sechs Jahre alt, etwas dick. Ihre Mutter ist drogenabhängig und das Mädchen hat bereits einiges erlebt, als sie bei Finn und seiner Mutter im Herbst einzieht. Ihr Halbbruder ist anfangs etwas skeptisch; findet manchmal, dass seine Mutter Linda mehr Aufmerksamkeit schenkt als ihm. Doch mit der Zeit lebt sich Finn in der Rolle als großer Bruder ein, verteidigt sie, hilft ihr. Denn schließlich ist er immer noch ein Kind und merkt manchmal Dinge, die seiner Mutter verborgen bleiben.
    Die Entwicklung zwischen den beiden Kindern ist ein langwieriger Prozess, der sich durch das ganze Buch zieht und von kleinen Momenten lebt, in denen deutlich wird, was Finn seine neue Schwester eigentlich bedeutet und wie er sich für sie einsetzt.


    Besonders gefallen haben mir auch die kleinen Nebenhandlungen, wie zum Beispiel Weihnachten mit der Familie der Mutter, die sich in die Haare kriegt, und schließlich zu einem unfreiwillig komischen Desaster wird. Schließlich ist da noch der Sommer, in dem Finn, Linda und die Mutter auf eine kleine Insel fahren und das Mädchen überraschenderweise schwimmen lernt.


    Probleme hatte ich mit dem Stil des Autors. Aufgrund des Klappentextes hätte ich das Buch jüngeren Lesern empfohlen. Allerdings hielt ich schließlich doch eine sehr anspruchsvolle Lektüre in meinen Händen. Die Sätze in diesem Buch sind sehr lang, gehen über ganze Absätze, sind verschachtelt mit vielen Nebensätzen, dass es manchmal schwer war, die Kernaussage zu begreifen.
    Desweiteren sind auch die Charaktere nicht erwartungsgemäß. Zwar erfüllt die Mutter ihre Rolle meistens, wie es sich für eine Mutter gehört; Finn, Linda und der Untermieter haben im Gegensatz zu vergleichbaren Figuren ihre Eigenarten, was durchaus zu positiven Überraschungen und Wendungen führt, manchmal aber auch zu Verwirrung. Besonders Kristian und seine Rolle habe ich bis zum Ende hin nicht ganz verstanden.
    Dafür ist allerdins die Darstellung vieler Nebencharaktere gelungen. Oft beschreibt die erwachsene Seite von Finn ihre markanten Eigenschaften und Verhaltensweisen mit ihren kleineren und größeren Fehlern, die die Personen sehr real werden lassen, nur nicht unbedingt sympatisch.


    Fazit: Insgesamt ein Buch, dass mir ganz gut gefallen hat, auch wenn ich bis zum Ende mich mit dem Stil nicht anfreunden konnte. Es lebt eben von kurzen Momenten und Situationen, die manchmal dadurch sogar kaputt gemacht werden. Ansonsten empfehle ich das Buch eher für anspruchsvollere Leser und nicht als "zwischendurch"-Lektüre.

    "All we have to decide is what to do with the time that is given to us."

  • Vielen Dank für diese schöne Rezension, Seta!
    Der Roman steht bei mir schon im Regal und will nun bald gelesen werden.
    Von Roy Jacobsen habe ich vor einiger Zeit Das Dorf der Wunder gelesen; dieses Buch hatte mir gut gefallen und mich auf weitere Romane dieses Autoren neugierig gemacht.


    Liebe Grüße

  • Vielen Dank für die Rezension, werde das Buch aus meinem SUB holen, habe es nach einer Buchvorstellung in meinem Buchladen gekauft und irgendwie seitdem immer was anderes in die Hand genommen. Aber bald...

  • Fazit: Insgesamt ein Buch, dass mir ganz gut gefallen hat, auch wenn ich bis zum Ende mich mit dem Stil nicht anfreunden konnte.

    Ich zitiere jetzt mal Dein Fazit liebe @Seta, denn mir ging es mit dem Buch genauso und auch ich kann nicht sagen, dass es gerade wegen dem Erzählstil für kurzweilige Lektüre geeignet ist. Die Geschichte, bei der man als Leser schon sehr aufpassen muss, ist wunderschön, aber oft genug werden genau Deine beschriebenen kurzen Momente und Situationen in der Handlung kaputt gemacht und bis man als Leser den vollen Umfang begreift ist auch das Buch schon zu Ende.
    Von mir gibt es :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

  • Das Original ist unter dem Titel "Vidunderbarn" erschienen

    Wie kommt man nur auf den Titel: Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte - wenn der Originaltitel Wunderkind lautet???

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Inhalt:

    Juri Gagarin war das Idol des Jahrzentst. Jacobsons Icherzähler Finn wächst in Norwegen in den 60ern bei seiner allein erziehenden Mutter auf. Der Vater hat ein zweites Mal geheiratet, so dass die erste Frau zu ihrem großen Kummer keine Witwenrente erhält. Sie arbeitet als Schuhverkäuferin und macht keine großen Worte darum, dass das Geld oft hinten und vorn nicht reicht. "Das ist nichts für uns" werden Dinge genannt, die sich Mutter und Sohn nicht leisten können. Besonders innige Momente erleben beide, wenn die Mutter "uns" abends vorliest. Aufgabe des Sohnes ist es, die Mutter von Aufregungen zu verschonen und ein guter Schüler zu sein. Das Projekt Untermieter, das die Haushaltskasse stützen soll, bringt Kristian Joergensen samt seinem Fernsehapparat in die kleine Gemeinschaft. Zur gleichen Zeit nimmt die Mutter, wieder ohne große Worte, Linda, die Tochter ihres verstorbenen Exmannes auf. Lindas Mutter muss sich einer Entziehungskur unterziehen. Aus Finns Einzelbett wird einfach ein Doppelbett, in dem nun Linda schläft. Das kleine Mädchen spricht nicht sehr viel und spielt auch nicht. Finns Freunde stellen kritische Fragen über Linda, während die Mutter schon froh ist, wenn die Kinder einen schönen Tag hatten und keine Katastrophen passiert sind. Bei der Einschulungsuntersuchung wird deutlich, dass Finns Mutter völlig ahnungslos von Lindas Behinderung war und vielleicht auch sein wollte. Finn verbringt Die Sommerferien gemeinsam mit Linda und der Babysitterin Marlene auf dem Campingplatz einer kleinen Insel. Er kümmert sich in diesem so gar nicht normalen Sommer rührend um Linda, fördert sie und nimmt seine Umgebung hauptsächlich durch Linda wahr. Für einen Zehnjährigen wirkt er dabei viel zu reif und fürsorglich. Freundschaft ist gleich schnell zu schwimmen, entdeckt Finn. Als die in ihrer Entwicklung behinderte Linda schwimmen lernt, wirkt der gemeinsame Erfolg der beiden wie ein Befreiungsschlag. Die erste Schulwoche konfrontiert Finn damit, dass Lindas Probleme nicht damit gelöst sind, dass er ihr in den Ferien mit Engelsgeduld Lesen beigebracht hat. Die Einsicht, wie stark die Probleme mit Linda an seiner Mutter zehren, wird zu einem entscheidenden Reifungsschritt in Finns Entwicklung. Nachdem die Schule begonnen hat, entwickelt sich Finn wie im Zeitraffer: er interessiert sich für seinen Vater, reflektiert das Verhältnis zwischen Kristian und seiner Mutter und entdeckt mit Tanja aus seiner Klasse das andere Geschlecht.


    Jacobson hat mit der Geschichte eines besonderen Sommers ein sehr treffendes Bild der 60er Jahre gezeichnet. Finns Alltag wirkt einerseits klarer und einfacher als unser Leben heute, was wir als einfach empfinden war zu seiner Zeit jedoch sehr viel komplizierter; nach außen musste der Schein gewahrt werden. Strenge Benimmregeln herrschten, gegen die Untermieter Kristian souverän verstösst. Auch Kristian wirkt sehr zurückgenommen, obwohl er durch sein väterliches "Kümmern" um Finns Skikünste eine entscheidende Rolle für dessen Heranwachsen spielt. Wichtige Dinge wurden damals nicht vor Kindern besprochen, so dass Finn erst auf Umwegen in mehreren Schritten erfährt, warum seine Mutter den Sommer in einer Klinik verbringt.


    Fazit:

    Die Beziehung zwischen Finn und seiner allein erziehenden Mutter, wie auch Finns erste Schritte ins Erwachsenenleben haben mich sehr nachdenklich gemacht. Gestört hat mich an Jacobsons leise erzähltem Roman, dass er seinen zehnjährigen Icherzähler eloquent und reflektiert wie einen Erwachsenen sprechen lässt. Erst als Finn im Zeitraffer herangewachsen ist, harmonieren Alter des Erzählers und sein Ton wieder miteinander.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow