Dem Elend entfliehen
Yoba ist 16, Waise und ein nigerianisches Straßenkind. Er sollte eigentlich selbst noch ein Kind sein. Doch Yoba hat nach dem Tod der Mutter die Verantwortung für seinen 12-jährigen Bruder Chioke übernommen. Chioke ist von jeher anders. Er ist Autist und hat von einem traumatischen Ereignis - einer vom ständig betrunkenen Vater initierte Voodoo-Zeremonie, die seinen bösen Geist austreiben sollte - weitere physische und psychische Verletzungen zurück behalten. Da Yoba Chioke befreit hat, mussten sie aus ihrem Dorf fliehen und können nicht zurück. Seit dem schlagen sie sich in der nigerianischen Stadt Aba durch, kämpfen gegen Hunger und gewalttätige Übergriffe anderer Straßenkinder. Ich begegne den beiden erstmals an einem Morgen, als sie sich von ihrem „erstaunlich guten“ Schlafplatz aufmachen und auf Nahrungssuche begeben.
Sie suchen Adaeke auf. Ein Mädchen mit MakelMama Kambina, einem zertrümmertem Bein. Yoba und Chioke hatten Adaeke kennengelernt, als sie Zeugen wurden, wie das Mädchen von einem betrunkenen Okada-Fahrer angefahren wurde, der Fahrerflucht beging und sie dem Mädchen danach halfen. Adaekes Mutter, betreibt eine Straßenküche. Das Mädchen gibt, ohne Wissen ihrer Mutter, den beiden hin und wieder eine kostenlose Mahlzeit. Während sie sich das für sie köstliche Mahl munden lassen, erzählt Yoba Adaeke, in die er sich verliebt hat, von seinen Plänen. Er ist auf der Suche nach seinem Onkel Abeche, der irgendwo in Europa – wo alle Menschen reich wären – leben soll. Kurz vor ihrem Tod, hatte die Mutter sogar den Name des Ortes aufgeschrieben: HAMBURG. Adaeke kann gar nicht lesen, die Mutter kann sich das Schulgeld nicht leisten. Yoba hatte, als seine Mutter noch lebte, das Privileg, wenigsten 5 Jahre die Schule besuchen zu können. Später wurde er vom Vater als Ziegenhirte verkauft und musste selbst Geld verdienen. Er träumt nun davon, in Europa wieder zur Schule gehen zu können und für seinen Bruder einen Arzt zu finden, der ihn heilt, damit auch er zur Schule gehen kann.
Bis er sich eine Fahrkarte nach Europa leisten kann, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs als Autowäscher durch und erledigt hin und wieder auch kleine Jobs für den Gangsterboss Big E. Nun hat er für Big E gerade wieder einen Job erledigt, vor dem er seinen Bruder bei dem brutalen Mann als Pfand zurücklassen musste. Als er mit einer Tasche voll Dollars wiederkommt, sind auch Adaeke und ihre Mutter anwesend. Mit einem Mal geht alles drunter und drüber. Adaeke drohte Gefahr und Yoba rettete sie spontan. Da er damit schon den Zorn des Gangsterbosses auf sich gezogen hat und das Leben von ihm und seinem Bruder keinen Pfifferling mehr wert ist, schnappen sie sich die Tasche mit dem Geld und fliehen. Mit Hilfe eines alten Parkwächters schaffen sie es sogar, unbehelligt aus der Stadt zu kommen und die große Reise ins Ungewisse beginnt.
Der 16-jährige Deutsche Julian ist mit Eltern und Schwester in einem Urlaubsparadies auf Sizilien angekommen. Julian ist schwer in der Pubertät, hat auf Schule keinen Bock mehr und der Familienurlaub, zu dem ihn seine Eltern gezwungen haben, ist sowieso das Allerletzte! Zum Glück hat er schon am ersten Urlaubstag die fast gleichaltrige Adria kennengelernt. Eine Halbitalienerin, die in Köln lebt und während der Ferien ihren Vater, den Besitzer des sizilianischen Urlaubsparadieses besucht. Doch da die Eltern Familienurlaub geplant haben, wird von ihm natürlich erwartet, auch in Familie zu machen.
So kann er nicht einfach mit dem Mädchen was unternehmen, sondern muss zu einer von der Mutter geplanten Vater-Sohn-Unternehmung, einem Tauchlehrgang. Unerwarteter weise macht ihm das Tauchen anfangs sogar Spaß, bis er sich ein bisschen zu weit von seiner Tauchgruppe entfernt und bei dem Versuch, die Gruppe unter Wasser wieder zu finden, die Leiche eines Schwarzafrikaners entdeckt. Als er dann kurze Zeit später noch ein mit Folie wasserdicht verpacktes Tagebuch findet und die Eintragungen eines gleichaltrigen Jungen namens Yoba gelesen hat, geht eine große Veränderung in seiner Einstellung zum Leben an sich vor. Gemeinsam mit Adria, der er von dem Inhalt des Tagebuches erzählt hat, macht er sich auf die Suche, um es seinen Besitzer zurückzugeben...
Gravierende Unterschiede zwischen arm und arm
Tief bedrückt bleibe ich nach dem Lesen dieses Jugendbuches mit der Altersempfehlung ab 13 Jahren zurück und versuche für Euch einige meiner Leseeindrücke zusammenzufassen.
Von Anfang an ließ sich die Geschichte um Yoba, die vom Autor in Erzählperspektive verfasst wurde, flüssig lesen. Die Spannung wurde hier nicht von irgendwelchen spektakulären Ereignissen getragen, sondern von dem mit einfachen sprachlichen Mitteln so bildhaft dargestellten Überlebenskampf des viel zu schnell erwachsen gewordenen Jungen, mit seinen hehreren Zielen. Dabei fiel gleich von Anfang an auf, dass arm nicht gleich arm ist. Adaeke, die weiß Gott in wesentlich ärmlicheren Verhältnissen lebt, als jeder Mensch in unserem Land, lebt im Gegensatz zu Yoba und seinem Bruder regelrecht luxuriös. Auch wenn der Luxus des Mädchens nur darin besteht, einen Platz zum Schlafen zu haben, nicht hungern zu müssen und täglich saubere Kleidung tragen zu können. Und nur das ist eigentlich auch die Vorstellung Yobas von Reichtum. Somit ist seine Vorstellung, dass alle Menschen in Europa reich sind, gar nicht so abwegig. Oder?
Plötzlich und für mich regelrecht unerwartet ändern sich in Kapitel 6 auf einmal die Protagonisten und ich begleite eine deutsche Familie auf ihrer nicht ganz stressfreien Urlaubsfahrt zum Feriendomizil auf Sizilien. Für den ersten Moment kam dieser Einstieg in den zweiten Handlungsstrang für mich abrupt, fast unpassend. War doch Yoba gerade eine Situation, die ihn zutiefst ängstigte ausgesetzt und auf einmal muss ich mir banales Familiengezeter anhören. Doch die Episode war kurz und in einer anderen Schriftart verfasst. Bereits am Ende des zweiten Szenenwechsels begriff ich, dass dieser Teil der Geschichte bereits nach Yobas großer Reise spielen muss.
So begebe ich mich nun gemeinsam mit Yoba auf die Reise in die Ungewissheit, in der er größte Strapazen auf sich nimmt, einzig von der Hoffnung getragen, irgendwann keinen Hunger mehr leiden zu müssen, medizinische Betreuung für seinen Bruder zu finden und wieder lernen zu dürfen. Dinge, die für uns so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie manchmal überhaupt nicht mehr zu schätzen wissen. Genau diese Erkenntnis beflügelt nämlich Julian auch nach dem Lesen von Yobas Tagebuch, sich auf die Suche nach dem Gleichaltrigen zu machen.
Obwohl ich jetzt wahrscheinlich noch seitenweise weitere Leseeindrücke aufführen könnte, möchte ich es, schon um dem interessierten Leser nicht noch mehr von der Handlung zu verraten, dabei belassen, dass ich dem Autor für seine wertfreie und doch so an Herz gehende Geschichte danke. Wertfrei in dem Sinne, dass er im Laufe des Geschehens mehrere Länder und Völkergruppen erwähnt und dem Leser aus jeder gute und schlechte Menschen vorstellt, so dass sich im Leser zwar nach und nach unbändige Wut darüber entwickelt, dass Dinge, die mit Yoba, seinem Bruder und anderen Flüchtlingen geschehen, überhaupt möglich sind, der Leser aber nicht dazu genötigt wird, Wut auf ein bestimmtes Land und dessen Einwohner zu empfinden, sondern erkennt, dass im Allgemeinen großer Handlungsbedarf besteht, Verständnis für die Menschen entwickelt und dass die Zustände vor allem vor Ort verbessert werden müssen.
Ortwin Ramadan:
Der 1962 in Aachen geborene Sohn eines Ägypters und einer Deutschen studierte Politik und Ethnologie. Heute lebt er mit seiner Lebensgefährtin am Ammersee und arbeitet als Drehbuchautor und freier Journalist. Kinder hat er selbst keine, dafür schreibt er u. a. auch Kinderbücher, bei denen er sich überlegt, was ihm als Kind jetzt Spaß machen würde, also für das Kind in sich. Seine Protagonisten sind dabei multikulturell, was wohl daran liegt, dass er selbst in einer solchen Umgebung aufgewachsen ist. (Quellen: Verlagsinfo, merkur-online.de)
Schlussbetrachtungen
Gefühlte Tausend Mal habe ich in den Nachrichten von den gesunkenen Flüchtlingsbooten vor der italienischen Küste gehört oder auch Bilder von diesen hoffnungslos überfüllten Kähnen gesehen. Schlimm ja, aber irgendwie doch zu weit weg und viel zu schnell verdrängt von unwichtigen Meldungen, um wirklich nachhaltig darüber nachzudenken. Dazu brauchte es bei mir erst eine persönliche Geschichte, ein sehr berührendes Einzelschicksal.
Natürlich ist auch in unserem „reichen Land“ nicht jeder Mensch in der Lage, Hilfsorganisationen mit großzügigen Spenden zu unterstützen. Trotzdem gibt es viele kleine Dinge, die jeder Einzelne tun kann. Und wenn dieses Buch nur ein paar Schüler aufrüttelt, ihre vorhandenen Ressourcen zu nutzen und zielstrebiger zu lernen. Oder sie einfach nur, dem Nachbarn der anders ist – egal ob durch eine Behinderung, eine andere Hautfarbe oder nur durch eine andere Lebensweise – zukünftig mit mehr Respekt begegnen.
Von mir gibt es für „Der Schrei des Löwen“ jedenfalls eine hundertprozentige Leseempfehlung, sowohl für jugendliche Leseratten, als auch für Erwachsene. Vielleicht gibt es auch ein paar engagierte Deutschlehrer, die dieses Buch in ihren Unterricht mit einbinden.
288 Seiten