Rennie Airth - Orte der Finsternis

  • England 1932. John Madden, ehemaliger Detective Inspector von Scotland Yard und nun Farmer, wird durch eine Laune des Schicksals in die Suche nach einem vermißten Mädchen verwickelt - und ist schließlich derjenige, der ihre verstümmelte Leiche findet. Dieser Anblick läßt ihn nicht wieder los, und so steht er seinen einstigen Kollegen Chief Inspector Angus Sinclair und Sergeant Billy Styles gern (und sehr zum Leidwesen seiner Frau) mit Rat und gelegentlich auch Tat zur Seite, als der Fall an Scotland Yard übergeben wird.


    Denn der grausame Tod des kleinen Mädchens ist kein Einzelfall, sondern die jüngste Tat in einer ganzen Kette von Morden, die sich über mehrere Jahre erstrecken. Sinclair bedient sich abermals der Expertise des Psychologen Dr. Weiss, der die dunkelsten Befürchtungen bestätigt, daß sie es mit einem Psychopathen von besonderer Kaltblütigkeit zu tun haben. Doch als ob das noch nicht schlimm genug wäre, müssen Madden und Sinclair feststellen, daß der Mörder auch im Ausland sein Unwesen getrieben hat - und daß alle Hinweise auf jemanden in hohen gesellschaftlichen wie politischen Kreisen deuten. In einem verzweifelten Wettlauf mit der Zeit müssen Madden und Sinclair versuchen, einen wahren Meister der Verstellung zur Strecke zu bringen, während dieser bereits sein nächstes Opfer ausgesucht hat.


    Orte der Finsternis (Originaltitel The Blood-Dimmed Tide, 2004) ist die Fortsetzung zu Rennie Airths hochgelobtem Erstlingswerk Nacht ohne Gesicht. Wobei man "Fortsetzung" wirklich im weitläufigsten Sinne verstehen sollte: Alle Haupt- und einige Nebenfiguren aus dem ersten Roman tauchen wieder auf (John Madden, Helen, Sinclair, Constable Stackpole etc), doch inzwischen sind rund 12 Jahre ins Land gezogen, und vieles hat sich verändert ... oder auch wieder nicht. Madden hat dem Polizistenleben abgeschworen, doch wenn und als es hart auf hart kommt, schlüpft er nahtlos wieder in die (inoffizielle) Rolle des erfahrenen Detective Inspectors. Sinclair kämpft bei Scotland Yard noch immer gegen die Windmühlen der Rückständigkeit. Und Dr Weiss, der Psychoanalytiker, ist inzwischen aus Wien nach Berlin umgezogen, ein Umzug, den er bereits zu bereuen beginnt ...


    So wie Nacht ohne Gesicht ein Porträt der Jahre nach dem 1. Weltkrieg war, ist Orte der Finsternis ein Porträt der Zeit um die Machtübernahme durch die Nazis. Das im Umbruch und Aufruhr befindliche Deutschland zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Auch hier zeigt sich wieder Airths gründliche Recherche, denn er verwendet überzeugend die ersten, noch vagen Nachrichten von Aufmärschen und SA-Gewalt auf den Straßen, die damals nach Großbritannien drangen. Ebenso realistisch sind die Bezüge auf die Wirtschaftskrise in Großbritannien und besonders die erbärmlichen Lebensbedingungen der ehemaligen Soldaten aus dem Weltkrieg, die auch schon im ersten Roman angesprochen wurden.


    Die emotionale Distanz, die ich beim Lesen des ersten Romans empfunden habe, ist auch bei Orte der Finsternis vorhanden, doch in weitaus geringerem Ausmaß. Besonders mit dem Schicksal einiger Nebenfiguren habe ich richtiggehend "mitgefiebert". Überhaupt sind die Figuren wieder ausgesprochen lebendig gezeichnet (mit Ausnahme von Helen, deren Verhalten ich absolut unverständlich fand ... hmmm ... unverständlich vielleicht, aber doch realistisch, muß ich bei näherem Überlegen gestehen).


    Insgesamt ist Orte der Finsternis ein wirklich durch und durch gelungener Krimi, spannend, mit glaubhaften Charakteren und auch sprachlich durchaus anspruchsvoll. Und ebenso ist es eine gelungene Fortsetzung, die dem Leser Gelegenheit gibt, "alte Bekannte" wieder zu treffen, die jedoch gleichzeitig völlig eigenständig ist und kein bloßer Abklatsch. Sehr empfehlenswert. :thumleft:


    Gruß
    Ute