England 1921. Das Land hat nach den Schrecken des 1. Weltkriegs endlich wieder Frieden gefunden und genießt den sonnigen Sommer, als in der Grafschaft Surrey ein grausames Verbrechen verübt wird: Im Herrenhaus Melling Lodge werden vier Menschen grausam umgebracht.
Die Polizei geht von einem fehlgeschlagenen Einbruch aus, doch Detective Inspector John Madden und sein Vorgesetzter Chief Inspector Angus Sinclair von Scotland Yard befürchten, daß sie es mit einer ganz neuen Art von Verbrecher zu tun haben - einem Psychopathen, einem Triebtäter, dessen Motive für andere nicht erkennbar sind und bei dem nur eines gewiß ist, nämlich daß er wieder und wieder töten wird, bis er gefaßt wird. Dem Unverständnis der Kollegen und hohen Tiere bei Scotland Yard zum Trotz, holen sie den Rat eines Psychologen ein und können die Spur des Täters alsbald bis zu einem ähnlichen Verbrechen während des Krieges in Belgien zurückverfolgen. Das einzige Problem ist, daß der damalige Hauptverdächtige gefallen ist. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, während Madden und Sinclair ihr Netz immer enger ziehen und der Mörder seinen nächsten Überfall vorbereitet.
Rennie Airths Nacht ohne Gesicht (Originaltitel River of Darkness, 1999) ist in vielerlei Hinsicht ein interessanter Krimi, vor allem aber wegen der Zeit, in der er spielt: die Zeit zwischen den Weltkriegen wird nur selten als Hintergrund verwendet (von Autoren wie Christie und Sayers etc, die tatsächlich in dieser Zeit geschrieben haben, natürlich einmal abgesehen). Der 1. Weltkrieg ist allgegenwärtig (und das nicht nur in den Versen aus Kriegsgedichten, die den Abschnitten vorangestellt sind), und das Land, ebenso wie die Menschen, tragen noch immer die Narben dieses Konflikts. Sowohl John Madden, als auch der Mörder wurden von Erlebnissen vor dem Krieg geformt, die dann von den Schrecken des Krieges verstärkt und tiefer in ihre Seele eingebrannt wurden. Bei John Madden ist es der Verlust seiner Frau und seiner Tochter in der Influenza-Epidemie, der ihn dazu treibt, Vergessen - und den möglichen Tod - in den Schützengräben zu suchen. Er ist ein ausgezeichneter Polizist, doch eine tief zerrissene Seele, und erst die Begegnung mit einer jungen Ärztin läßt ihn langsam wieder ins Leben zurückkehren.
Der Roman hat bei seinem Erscheinen viel Lob eingeheimst, nicht zuletzt wegen seiner sprachlichen Ausgereiftheit. Es ist unverkennbar, daß Airth gründlichst recherchiert hat, und seine immer wieder eingeflochtenen Beschreibungen des Krieges, sowie der Nachkriegszeit sind beeindruckend genau und decken sich mit Zeitzeugnissen. Auch seine (Haupt-)Figuren sind überzeugend beschrieben, obgleich bei genauerem Hinsehen tatsächlich nur sehr wenig über sie gesagt wird; nichtsdestotrotz ergänzt der Leser sie zu "lebendigen" Charakteren.
Aber ... ich persönlich fühlte mich zu keinem Zeitpunkt emotional einbezogen. Für mich war die Zeit zwar überzeugend getroffen, doch es blieb eine Distanz; ich fühlte mich nie in die Zeit "hineinversetzt", wie das selbst gute Geschichtsbücher oftmals vermögen. Die gleiche Distanz empfand ich auch bei den persönlichen Entwicklungen der Figuren. Und ich hatte meine Zweifel an der psychologischen Seite des Buches - sicher, die Psychologie gewann in jener Zeit an Bedeutung, aber sie hatte noch nicht ihren Siegeszug angetreten. Und natürlich "erwarten" wir gemeinhin von den Kriminalisten in Büchern, daß sie aufgeschlossen und ihrer Zeit gegebenenfalls voraus sind. Für mich war das dargestellte Verständnis von "Triebhaftigkeit" allerdings einfach ein klein wenig zu "modern"; andererseits ist das Buch in der heutigen Zeit geschrieben, und die Konzepte der Zwanziger Jahre würden für ein heutiges Publikum möglicherweise etwas schwerer begreiflich sein.
Doch selbst mit diesen Einschränkungen finde ich Nacht ohne Gesicht sehr empfehlenswert. Die Suche und schließlich die Jagd nach dem Täter sind sehr spannend beschrieben, das Buch hat gut gezeichnete, glaubhafte Figuren und es bietet einen Einblick in eine Zeit, die den meisten von uns wenig bekannt sein dürfte.
Gruß
Ute
P.S.: Es gibt zu diesem Krimi inzwischen einen 2. Band: Orte der Finsternis