Antonia Michaelis - Der Märchenerzähler

  • Ja, es hat bei mir funktioniert, dieses Buch. Die Idee, Märchen und Realität zu verbinden finde ich sehr gut gelungen. Schon alleine, weil sie diese Phantasiewelt lieben sind mir Abel, Anna und Micha sympathisch gewesen. Antonia Michaelis zog mich mit ihrer Art zu erzählen in die Geschichte hinein. Sie kann den Leser sehr geschickt manipulieren, indem sie den Verdacht auf mehrere Personen verteilt und die Emotionen des Lesers geschickt steuert.


    Um so mehr sehe ich das Buch kritisch, noch dazu weil es ein Jugendbuch ist und junge Menschen noch stärker emotional beeinflussbar sind. Ich mag jetzt nicht alle Aussagen aus den kritischen verdeckten Spoilern wiederholen. Ich bin über die Reaktion auf die erwähnte Szene genau so verärgert, wie dort beschrieben.

    Was ist in den Augen der erwachsenen! Antonia Michaelis Liebe? Ich meine nicht Verliebtheit. Ich habe nach dem Lesen dieses Buches ein sehr ungutes Gefühl, welches Bild dazu vermittelt wird.

    Verzeihen können ist eine sehr wichtige Gabe. Aber sie hat etwas mit Stärke zu tun. Und dazu gehört für mich auf alle Fälle auch Ehrlichkeit und Respekt sich selbst gegenüber, nicht nur dem anderen. Dann könnten auch Lösungen gefunden werden. Denn daran mangelt es diesem Buch, an Lösungen. Die muss es bei Romanen nicht geben, aber in der Konstellation Jugendbuch sollten sie zumindest als Möglichkeit vorhanden sein.

    So bleibt hier nur ein sehr komischer, fast unterwürfiger Begriff von „Liebe“ verbunden mit Selbstaufgabe auf beiden Seiten im Raum stehen.


    :bewertung1von5::bewertung1von5: - nur für die sehr schöne Grundidee und den Schreibstil des Märchenerzählers.

  • Ich hab das Buch nochmal gelesen - als Vorbereitung auf den jetzt erschienenen Nachfolger:


    Anna steht kurz vor ihrem 18. Geburtstag und kurz vor ihren Abi-Prüfungen. Sie lebt in einer "heilen Welt", einem schönen Haus, mit tollen Eltern, die ihr Geborgenheit aber auch Freiraum geben.

    Abel hingegen, der von allen nur mit seinem Nachnamen "Tannatek" gerufen wird, ist ein Außenseiter. Er kam vor kurzem neu an die Schule und jeder kennt ihn nur als Randfigur, bei dem man Drogen kaufen kann.


    Durch Zufall erfährt Anna, dass Tannatek eine kleine Schwester hat und heimlich lauscht sie in der Cafeteria dem Märchen, das er ihr erzählt. Die Neugier treibt Anna immer öfter in seine Nähe. Obwohl Abel anfangs sehr abweisend auf sie reagiert, gibt sie nicht auf; Unterstützung erhält sie auch von seiner kleinen Schwester Micha, die sich über Anna´s Besuche freut.


    Anna´s Gefühle für Abel werden immer stärker, sie spürt, dass hinter Abel´s Maske aus Stolz und Pflichtgefühl etwas sehr verletzliches steckt. Sie lässt sogar ihre treue Schulfreundin Gitta links liegen und gerät immer mehr in den Sog des Märchens, in dem die „kleine Klippenkönigin“ vor Gefahren flüchten muss. Die „kleine Klippenkönigin“ ist Micha, Abel´s kleine Schwester und in den Märchen warnt er vor den bösen Verfolgern, die ihr Herz stehlen wollen. Denn das Leben der beiden Geschwister ist alles andere als leicht. Sie leben im Plattenbau, haben kaum Geld und die Mutter ist schon seit einiger Zeit „verreist“.

    Anna erkennt, dass Abel schon seit längerem neben der Schule allein für Micha sorgen muss und Angst hat, dass neugierige Nachbarn, Micha´s Vater oder das Jugendamt Wind davon bekommt und ihm seine kleine Schwester wegnehmen könnte. Nach und nach lässt er Anna´s Nähe zu, doch das Schicksal meint es hart. Als plötzlich tatsächlich Micha´s Vater auftaucht nimmt das Verhängnis seinen Lauf – und Anna weiß bald nicht mehr, wem sie trauen kann.


    Da es jetzt nach so vielen Jahren eine Fortsetzung zu dieser Geschichte gibt wollte ich sie unbedingt nochmal lesen. Ich hatte ein bisschen Angst, das mich das Thema runterziehen würde, aber die Autorin hat einen so einnehmenden Schreibstil, dass ich das Buch auch dieses Mal kaum aus der Hand legen konnte.


    Schon im Prolog erkennt man, dass dieses Buch eine dunkle, bedrohliche Saite birgt.

    Man wird langsam in diese Welt, in der sich Abel mit seiner kleinen Schwester durchschlagen muss, eingeführt und wird auf viele Missstände gestoßen, die es in unserer heutigen Gesellschaft so nicht mehr geben sollte. Natürlich wird einiges auf die Spitze getrieben (manche prangern hier diese überzogenen Klischees an), aber die Autorin möchte uns aufmerksam machen, möchte uns sensibilisieren für diese Zustände, die es heute leider noch immer gibt und weil es viele "Abels" auf die ein oder andere Weise mitten in unserer Gesellschaft gibt!


    Ich habe mit Anna mitgelitten, der plötzlich bewusst wird, dass es nicht nur Menschen gibt wie sie, in einer "heilen Welt" und einem behüteten zuhause - aber vor allem auch mit Abel, der mit seinen 17 Jahren schon so viel durchmachen musste.


    Was dann schließlich passiert ist unverzeihlich - und viele mögen die Entschuldigungen nicht, die hier mitspielen, aber ich bin und bleibe bei meiner Ansicht, dass die meisten Taten aus einem Muster entstehen, dass die Täter geprägt hat. Natürlich gibt es Menschen, die damit umzugehen lernen - andere schaffen das leider nicht. Und auch wenn ich die Taten anprangere, kann ich mich dem leisen Mitgefühl ihrer gequälten Seele nicht verschließen. Und ich denke, genauso hat es die Autorin auch zeigen wollen.

    Gerade Annas Reaktion hat ja sehr polarisiert - ich fand sie nur menschlich.


    Es gibt viele brutale Aspekte, die teilweise auf leise, berührende Art, teilweise in grausamer Offenheit beschrieben werden, weshalb ich das Buch für Jugendliche bedingt geeignet finde. Ich bin prinzipiell nicht dafür, Kinder und Jugendliche nicht in die Gefahren, die überall lauern, einzuweihen, aber ich glaube, speziell in diesem Fall fehlt da noch das Verständnis und es werden vielleicht auch Eindrücke aus der Handlung falsch interpretiert. Das kann man allgemein wirklich schwer einschätzen.


    Ich war jedenfalls wieder völlig in den Bann gezogen von dem außergewöhnlichen Schreibstil, der aufwühlenden Beziehung zwischen Anna und Abel, dem berührenden Märchen und den vielen Zweifeln, was für ein Mensch tatsächlich hinter Abels Fassade steckt.


    Mein Fazit: 5 Sterne

  • "Der Märchenerzähler" war 2012 - von der Jugendjury - für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.


    Zitat

    Jurybegründung

    Nicht zu jeder Frage gibt es eine Antwort und nicht hinter jedem Märchen steckt nur Phantasie. Nichts ist wie es scheint und nichts ist sicher. Die Welt ist nicht schwarz und weiß und niemand ist nur gut oder böse.

    Das sind Dinge, die Anna Lehmann lernen muss, als sie Abel Tannatek kennen lernt. Nach außen hin gibt dieser den unnahbaren, verschlossenen Jungen – doch was passiert daheim, in der trostlosen Wohnung, wo er seiner kleinen Schwester ein Märchen erzählt, von dem viel zu viel der traurigen Wahrheit entspricht? Als Personen umkommen, die Abel und seiner Schwester im Weg stehen, ist Anna verunsichert: Hat der polnische Kurzwarenhändler, wie Abel in der Schule genannt wird, etwas mit den Morden zu tun?

    Das Buch überzeugt vor allem durch seine außergewöhnliche, schon fast poetische Sprache und seine ungewöhnliche Erzählweise, in der sich die Grenzen von Realität und Fiktion verschieben.

    https://www.jugendliteratur.or…er-maerchenerzaehler-3762


    Mit der Verbindung von Gewalt, Schmerz, Leiden und Verzeihen von liebenden weiblichen Protas in der Jugendliteratur habe ich so meine Probleme, weil ich den Unterton fatal finde, der Liebe und Schmerzen miteinander verbindet. Ich frage mich dann stets, warum muss die weibliche Prota leiden, Geschehenes entschuldigen und damit Gewalt-Strukturen weiter stützen. Würde die Geschichte auch mit einem jungen Mann funktionieren?


    Fatal fand ich in dem Buch, dass keine Lösungsmöglichkeiten angedeutet werden. (Wenn ich mich richtig erinnere.) Jugendliteratur sollte ihre Leser darin bestärken, dass Jugendliche selbst Hilfe suchen und erhalten können - und Gewalt eben nicht erleiden müssen. Damals habe ich nur circa 40-jährige kinderlose Akademikerinnen als Fans des Buches getroffen, die selbst keine Jugendlichen unterrichten. Sie beurteilten das Buch in seiner Wirkung auf sie selbst, obwohl sie nicht die Zielgruppe sind.


    Für 14-Jährige (ob weibliche oder mänliche Leser) finde ich die Verknüpfung von Liebe und Erleiden von Gewalt ein fatales Signal.

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow