Inge Barth-Grözinger - Stachelbeerjahre

  • Marianne Holzer lebt mit ihrer Mutter und älteren Schwester Sieglinde bei den Großeltern väterlicherseits. Schon als Kleinkind spürt sie, dass es in der Familie auf vielfache Art und Weise gärt. Nicht nur rein optisch ist sie anders als ihre Verwandten, sondern auch von ihrem ganzen Wesen her. Das strenge Regiment im Hause Holzer führt die Großmutter Hedwig, die zu jedem ruppig und hart ist, außer zu Mariannes Schwester Sieglinde. Das Verhältnis der Schwestern untereinander ist liebevoll, aber von recht unterschiedlichen Interessen und Verhaltensweisen geprägt. Während Marianne unter der strengen Großmutter leidet, am liebsten alleine für sich ist, sich unter dem Küchentisch mit der damals obligatorischen Wachstuchtischdecke versucht, möglichst unsichtbar zu machen oder gerne im nahegelegenen Wald beim Beeren-oder Holzsammeln alleine ist, nimmt Sieglinde das ganze Geschehen zuhause gar nicht ernst, macht sich oft über "die Alte", wie beide Mädchen sie insgeheim nennen, lustig und weiß im richtigen Moment die verbitterte alte Frau immer um den Finger zu wickeln.


    Der Großvater Gottfried entflieht der Keiferei seiner Frau meist in den Stall zu seiner Kaninchenzucht, mit denen er entweder redet oder diese aus für Marianne unerklärlichen Gründen schlägt, ist aber sonst wortkarg und eindeutig durch den Krieg und den Tod seines einzigen Sohnes traumatisiert. Er versucht ständig, an die neuesten Nachrichten heranzukommen, um vor dem Herannahen des Bösen, wie er es Marianne gegenüber nennt, gewappnet zu sein.


    Mariannes Mutter arbeitet bei dem einzigen Großarbeitgeber der Gegend, Tournier. Ihre Arbeit wird aber nicht näher benannt, nur, dass es mit kleinen Schräubchen und Rädchen zu tun hat, die die Arbeiter mühevoll einsetzen und präzise per Hand einstellen müssen. Anstrengende Arbeit, von der die Mutter sich oft erholt, indem sie abends in ein Tanzcafe ausgeht und, wie selbst sagt, einfach ihren Spass haben will. Dies geschieht sehr zum Missfallen ihrer Schwiegermutter, die dies als Verrat an ihrem gefallenen Sohn ansieht und ihr bei jeder Gelegenheit unter die Nase hält, dass sie ihre Schwiegertochter als Hure ansieht und ihre Enkelin Marianne als "Kuckuckskind".


    Als in Mariannes Klasse als Hausaufgabe gefordert wird, einen Familienstammbaum zu fertigen, kommt heraus, dass Marianne gar nicht die leibliche Tochter von Walter Holzer ist, sondern ihr vermeintlicher Vater bei ihrer Zeugung schon längst im Krieg war. Für Marianne hört an diesem Tag im Prinzip ihre Kindheit auf. Das unerklärliche Gefühl, gar nicht richtig zum Haushalt der Holzers zu gehören, bekommt eine reale Begründung und sie beginnt, geschockt und verletzt durch die Hänseleien der anderen Kinder, die die Wahrheit ihrer Herkunft schon lange kannten, sich für alles andere, was im Dorf geschieht zu interessieren. Niemals wieder will sie unwissend sein oder irgendetwas ohne Erklärung hinnehmen und nimmt ab sofort ihre Umwelt weitaus kritischer unter die Lupe. Ihr wird klar, dass sie nicht nur äußerlich mit ihrer Familie kaum etwas gemein hat, sondern sucht Liebe und Glück - ein einfach leichtes, wärmendes Gefühl, wie sie es ausdrückt - in der Beziehung zu zwei Mädchen aus der Nachbarschaft. Diese beiden Freundinnen, von denen eine geistig behindert ist, werden auf ganz unterschiedliche Art mehr zu den Lieferanten dieses Glücksgefühls als irgendjemand aus ihrer eigenen Familie und tragen wesentlich zu ihrer eigenständigen Entwicklung bei.


    Das Verhalten ihrer Mutter, der es nur um die finanzielle Absicherung und die eigene Wahrung des Rufes geht, wird ihr immer befremdlicher und sie nimmt sich vor, viel zu lernen und später einmal ihren französischen Vater aufzusuchen, der nach Ende der Besatzungszeit wieder in seine Heimat zurückkehrte. Letzteres Vorhaben wird von ihrer Mutter allerdings als nutzlose und undurchführbare Spinnerei abgetan, da der Name ihres Vaters, Yves Dupont, ein solch häufiger Allerweltsname in Frankreich sei, so dass es ihrer Meinung nach völlig unmöglich sei, ihren Vater ausfindig zu machen. Sie selber habe es ja schließlich auch nicht geschafft, seine Adresse ausfindig zu machen, damals, als sie in der Garnison nachgefragt habe, nachdem sie festgestellt habe, dass sie schwanger von ihm war.


    Doch Marianne wird allmählich immer bewußter, dass ihr eigener Charakter sich stark vom Wesen ihrer Mutter unterscheidet, die meist den Weg des geringsten Widerstandes wählt und deren Interessen sich nur auf Oberflächlichkeiten reduziert haben. Am wichtigsten ist der Mutter ihr Ansehen im Dorf, finanzielle Absicherung und die allmählich wieder erreichbaren Luxusgüter, die man mit dem noch recht bescheidenem Einkommen erwerben kann. Ihr einziges zusätzliches Engagement liegt noch darin, endlich einen respektablen Ehemann zu ergattern, durch das sämtliches Gerede über sie, ihrer Meinung und Hoffnung nach, zum Verstummen käme.


    Sieglinde übernimmt im Verlauf der Geschichte immer mehr die Verhaltensweise ihrer Mutter. Marianne aber ist ganz anders gestrickt. Sie interessiert sich mittlerweile für alles, was im Dorf vor sich geht, nimmt auf ihre zwar distanziert bleibende, aber nichtsdestotrotz herzliche Weise immer mehr am sozialen Geschehen teil, ist an den historischen und jetzigen politischen Vorgängen interessiert und liest heimlich die Bücher von Walter Holzer, die sie durch puren Zufall beim Holzbevorraten in einem abgewetzten, alten Koffer gefunden hat. In ihr reift der Entschluß, ebenfalls das Abitur zu machen, das ihr nicht leiblicher Vater wegen des Krieges nicht absolvieren konnte. Eine Ambition, die bei Familien aus einfachen Verhältnissen noch gänzlich ungewöhnlich und oft auch nicht erwünscht war.


    Welch tragischer Umstand ihr dann allerdings doch ermöglichte, ihren Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, werde ich nun nicht verraten, um das eigene Leseerlebnis nicht zu schmälern. Es sei aber erwähnt, dass es keineswegs vorhersehbar war und auf keinen Fall das Einzige ist, was diesen Roman so spannend und überaus interessant machte.


    Die Geschichte beginnt damit, dass Marianne Holzer mit starken Kopfschmerzen und allgemeinem schlechten Befinden im Bett ihrer Mutter erwacht. Da sie noch nicht einmal als Kleinkind bei Krankheiten dieses Privileg geniessen durfte, wundert sie sich zunächst, was so Schlimmes passiert sein könnte, dass man ihr das erlaubte, sieht bei dem Versuch, sich zu erinnern aber sofort jede Menge Blut vor ihrem geistigen Auge und verdrängt zunächst instinktiv, was genau passiert ist.


    Danach springt die Handlung einige Jahre zurück in die Jahre ihrer frühen Kindheit und wir dürfen in Form eines Rückblicks die Handlung aus der Perspektive von Marianne verfolgen. Sehr selten - also den Lesefluß des Handlungsstrangs keineswegs störend - wird diese fortlaufende Haupthandlung durch kurze Abschnitte unterbrochen, in der Marianne in der Gegenwart versucht, sich wieder aufzurappeln und allmählich zu einem Entschluss kommt, wie ihr Leben nun nach einer tödlichen Eskalation in ihrem Familienleben weitergehen soll.


    Neben einer wirklich spannenden Handlung und einer ebenso interessanten Zeitdokumentation erfährt man eine Unmenge mehr an Wissenswertem rund um die Deutsche Geschichte und Politik. Geschickt bringt die Autorin die große Deutsche Geschichte und auch weltweite Vorgänge in das dörfliche Geschehen durch Gespräche zwischen den Dorfbewohnern, Radio und der Nvität Fernseher mit ein und spart auch die menschlichen Folgen von KZ-Aufenthalt und langjähriger Gefangenschaft nicht aus. Denn seien wir doch mal ehrlich: wenn wir in einem sachlich gehaltenem Geschichtsbuch über solche Dinge lesen, wird uns dann eigentlich die wahre Bedeutung und Auswirkung auf menschliche Lebewesen wirklich klar und bewußt? Ich denke nicht so stark wie in diesem Roman über ganz normale Menschen, die sich eigentlich nur ihr Leben schön und vernünftig einrichten wollten und das Pech hatten, in eine Zeit großer geschichtsrelevanter Katastrophen, politischer Vorgänge oder deren Auswirkungen hineingeboren zu werden.


    Am Schluß des Buches ist eine kurze Auflistung wichtiger historischer Stationen, die für Deutschland damals relevant waren und auf die eine oder andere Art auf jeden Protagonisten Auswirkungen hatte.


    Wichtig finde ich dieses Buch deswegen, weil man in den Schulen sehr viel über die großen geschichtlichen Ereignisse lernt, aber eher seltener, wie es ganz normalen, kleinen, unbedeutenden Leuten dabei ging. Dadurch ist eine Identifikation und auch ein tieferes Verständnis wohl eher schwierig. Wenn dieses Buch dagegen gelesen wird, kann man als junger Mensch viel eher nachvollziehen, wie es den eigenen Vorfahren ergangen ist und es kann die Grundlage für Gespräche sein, die zu einem besseren Verständnis führen können.


    Ich kann das Buch nur rundherum empfehlen.