Margriet de Moor - Der Maler und das Mädchen

  • Originaltitel: De schilder en het meisje
    aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen
    300 Seiten


    Klappentext:(vom rückwärtigen Cover kopiert)
    In Der Maler und das Mädchen führt Margriet de Moor die Lebensgeschichten zweier historischer Figuren zusammen. Der Maler Rembrandt, dessen Name nie genannt wird, und das Mädchen Elsje, das seine Zimmerwirtin erschlug und dafür mit dem Leben bezahlte. Ein großer Roman über die Kunst, die Liebe und den Tod im Amsterdam des 17. Jahrhunderts und ein faszinierendes Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart.


    Über die Autorin:
    Margriet de Moor studierte Klavier und Gesang. Bereits ihr erster Roman Erst grau dann weiß dann blau (Hanser 1993) wurde ein sensationeller Erfolg, und ihre Bücher sind in alle Weltsprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen u.a. Der Virtuose (Roman, 1994), Herzog von Ägypten (Roman, 1997), Die Verabredung (Roman, 2000), Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte (2002), Sturmflut (Roman, 2006) und Der Jongleur (2008 ) (von der Verlagswebseite kopiert).


    Aufbau / Allgemeines:
    Die erzählte Zeit des Buches umfasst einen Tag im Jahr 1664, für den Maler zunächst ein gewöhnlicher Tag, den er im Haus, beim Arbeiten im Atelier und bei Spaziergängen durch Amsterdam verbringt. Für die 18jährige Elsje Christiaens ist es der letzte Tag ihres Lebens; sie wird wegen Mordes verurteilt und hingerichtet.


    Inhalt:
    Der fast 60jährige Maler durchlebt eine schwere Zeit: Weil er seine Schulden nicht tilgen konnte, musste er mit seiner Familie in einer kleineres, schäbigeres Haus umziehen, seine Habe wurde gepfändet. Dann starb seine Lebensgefährtin an der Pest. Er ist Einzelgänger und hat für Menschenansammlungen nichts übrig. Und solche schieben sich am Morgen des Tages durch Amsterdams Straßen und über die Brücken, denn es gilt, einen Mordprozess und die anschließende Hinrichtung mitzuerleben. Elsje Christiaens war dem Ruf ihrer älteren Schwester von Jütland nach Amsterdam gefolgt, um als Hausmädchen hier zu arbeiten. Doch nach 14 Tagen hatte sie weder die Schwester noch Arbeit gefunden. Als ihre Zimmerwirtin die Miete verlangt, erschlägt Elsje sie mit dem Beil.


    Eigene Meinung:
    Entlang der Chronologie dieses Tages reiht die Autorin Puzzlesteine auf mit Bildern aus dem Leben des Malers und des Mädchens. Nicht jeder Stein kann vom Leser sofort zugeordnet werden, aber im letzten Drittel des Buches liegen alle an ihrem Platz. Im lebendigsten und anschaulichsten Abschnitt erfährt der Leser von Elsjes gefährlicher Überfahrt von Jütland nach Holland, ein wahnwitziges Unterfangen bei Packeis und Schnee, zumal die junge Dänin der holländischen Sprache nicht mächtig ist. Dass sie als lebhaftes, optimistisches, freundliches Mädchen dargestellt wird, macht es für den Leser emotional schwierig, ihr zu folgen, weil er von Beginn an um ihr zukünftiges Schicksal weiß.
    In dem Maler ist unschwer Rembrandt zu erkennen, aber die Autorin verzichtet darauf, jemals seinen Namen zu nennen. Auch wenn sie die Biographie Rembrandts recherchiert hat und den Maler damit ausstattet, gibt ihr die Anonymität des Protagonisten die Freiheit, die Figur zu gestalten, in meinen Augen ein Indiz für den Respekt, den die Autorin dem großen Maler zollt. Darüber hinaus ist nicht die Person des Malers wichtig, sondern seine Funktion: Er ist der Garant, dass Elsje nicht auf eine Fußnote in der Gerichtshistorie Amsterdams reduziert wird. (Wer bei Google-Bilder die Worte „Rembrandt“ und „Elsje“ eingibt, kann sich selbst überzeugen.)
    De Moor hält sich eng an die Geschichte und die beweisbaren Fakten; das Buch ist also in keiner Weise mit den beliebten bunten Historienschmökern zu vergleichen. Der Erzähler nimmt eine distanzierte Rolle ein, erweist sich stellenweise über den zeitlichen Rahmen der Erzählung hinaus allwissend, und über Elsjes wahre Beweggründe und Motive (z.B. warum sie trotz eines Überangebots an Hausmädchen-Stellen keine annimmt) spekuliert er nicht; das überlässt er dem Leser.
    Schon durch die Sprache und die Wortwahl offenbart das Buch eins seiner Themen, die Malerei: Landschaftsaufnahmen wie gemalte Bilder mit besonderem Akzent auf den Einfall des Lichts, Farben werden oft als Adjektive verwendet, ein Weiß ist nicht ein einfaches Weiß, sondern ein blendendes, ein grelles, ein glitzerndes Weiß. Doch nicht nur der Maler sieht in allem das farbige Bild und das Licht, sondern auch Elsje.
    Was Venedig für Tizians (mit dem der Maler imaginäre Kollegengespräche führt) und Tintorettos Werk bedeutet oder Paris für Toulouse-Lautrecs, das bedeutet Amsterdam für diesen Maler (und sein reales Vorbild): Die lärmende, auch düstere und durch ihre Verbindung zum Meer bestimmte Handelsstadt mit vornehmen Kaufmannsvierteln, verräucherten Hafenkneipen und wehrhaften Verwaltungsgebäuden. Wo in einer der abgelegensten, schmutzigsten Ecken der Maler dem Mädchen doch noch begegnet.


    Fazit:
    Ein Roman mit zwei realen Protagonisten, der wohltuend aus dem Gros der History-Unterhaltung aufragt: Ein wahrhaftiger historischer Roman.


    Wen es interessiert, was die Autorin selbst zu ihrem Buch sagt, kann sich auf dieser Seite das Video ansehen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


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    Einmal editiert, zuletzt von Marie ()

  • Vielen Dank, Marie, für diese interessante Buchvorstellung! Von der Autorin wollte ich schon immer etwas lesen und "Der Maler und das Mädchen" klingt so interessant, dass ich es wohl als Einstiegswerk wählen würde. Oder würdest du das nicht empfehlen und stattdessen zu einem anderen Buch raten? "Sturmflut" ist wohl das Werk, dass ich mit dem Namen "Margriet de Moor" als erstes in Verbindung bringe.

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Danke, Marie, für diese schöne Rezi. Ich habe Margriet de Moor letzt in "Literatur im Foyer" gesehen und da ist das Buch auf meinen Wunschzettel gerutscht. Von ihr habe ich noch gar nichts gelesen. Aber die Neugierde ist ja nun geweckt. :thumleft:

  • @ gaensebluemche,
    schwer zu sagen. Ich habe von de Moor vier oder fünf Bücher gelesen, fand sie bis auf "Die Verabredung" allesamt gut bis sehr gut. "Der Maler und das Mädchen" schießt aber den Vogel ab und verdrängt mein bisheriges Lieblingsbuch "Der Virtuose" vom Spitzenplatz.
    Wenn es Dir mehr nach einem Schicksals- und Familienroman zumute ist, nimm "Sturmflut". Ansonsten empfehle ich natürlich das Buch dieses Threads ohne Wenn und Aber.
    Die Überlappung mehrerer Zeitebenen (oben habe ich sie Puzzlesteine genannt), durch die man sich erst in das Buch hineinlesen muss, ist eine Spezialität der Autorin, die sie in allen Büchern verwendet.

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  • @ Marie:


    Generell "liegen" mir Familienromane mehr als historische Romane. :-k Ich warte einfach mal ab, welches Buch der Autoin mir als erstes über den Weg läuft (in der Bibliothek) und dann schnappe ich zu. 8)

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  • So und ich habe es inzwischen gelesen und fand es ganz großartig!
    Margriet de Moor hat deshalb Rembrandts Namen nicht erwähnt, weil sie ihn nicht als den großen "Starmaler" von heute darstellen wollte. Er war damals bekannt und seine Bilder wurden geschätzt. Dass er einmal so berühmt werden würde, davon hat er nicht mal zu träumen gewagt. :wink:
    In diesem Roman steckt eine Menge Herzblut. Das merkte man auch bei der Lesung. Sie hat sich so viele Gedanken um Elsje gemacht, und am liebsten hätte sie sie von der Tat zurückgehalten. :wink: Manchmal habe ich auch fast das Gefühl sie wolle ihr Handeln entschuldigen, weil sie so jung, unschuldig und naiv war.
    Ja und die Beschreibung von Amsterdam - man fühlt sich mittendrin.
    Mehr ist Maries Rezi nicht mehr hinzuzufügen. Man muß es einfach lesen! :thumleft: Auch von mir :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Rose Tremain, Der unausweichliche Tag

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Sie hat sich so viele Gedanken um Elsje gemacht, und am liebsten hätte sie sie von der Tat zurückgehalten.


    Das merkt man. Ich habe, während Elsje durch Amsterdam lief, um ihre Schwester zu finden, immer noch gehofft, dass sie sie findet, obwohl ich es besser wusste.


    @ Wirbelwind,
    auf Deine Einschätzung habe ich gespannt gewartet. Aber es wundert mich nicht, dass Du das Buch auch großartig findest.

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  • Ich habe dieses Buch gerade beendet und muss mich den Meinungen der Vorschreiber anschließen.
    Die Autorin entwirft ein sehr anschauliches Bild vom Leben der beiden Protagonisten.

    Im lebendigsten und anschaulichsten Abschnitt erfährt der Leser von Elsjes gefährlicher Überfahrt von Jütland nach Holland, ein wahnwitziges Unterfangen bei Packeis und Schnee, zumal die junge Dänin der holländischen Sprache nicht mächtig ist.

    Für mich persönlich waren die Rückblicke auf das Vorleben des Malers noch interessanter. Da ich mich sehr für Medizingeschichte interessiere, fand ich die Beschreibung der Erkrankung von Rembrandts Lebensgefährtin sehr faszinierend und habe mich darüber gewundert, dass die Pest so lange brauchte, um die Frau in die Knie zu zwingen. Nach allem, was mir bekannt ist, ging es von der Erkrankung bis zum Tod meistens schneller.
    Sehr gut hat mir auch die Beschreibung Amsterdams im 17.Jahrhundert gefallen, man kann sich gut vorstellen, selbst dort unterwegs gewesen zu sein.


    Weniger hat mir das für die Autorin typische Hin-und Herspringen in der Zeit zugesagt. Bei den "großen" Rückblicken konnte ich diesen Wechseln noch gut folgen, aber manchmal schwenkt die Perspektive quasi mitten in einer Szene :z.B. beim Besuch bei dem Apotheker oder in dem Moment, als sich der Maler mit einem schon längst verstorbenen Kollegen imaginär unterhält. Das wirkte auf mich ziemlich verwirrend.
    Insgesamt finde ich den Roman sowohl thematisch als auch in der Umsetzung sehr lesenswert und vergebe :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: .


    ("Sturmflut " hat mir auch gut gefallen, mit "Die Verabredung " konnte ich dagegen nicht so viel anfangen.)

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
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  • Einige Schriftsteller haben sich in den vergangenen Jahren schon an dem Thema versucht, in einem biographisch getönten Roman dem Leben und Werk eines Malers auf die Spur zu kommen. Ich denke insbesondere an das wunderbare Buch von Asta Scheib „Das Schönste, was ich sah“, in dem sie dem Maler Giovanni Segantini ein literarisches Denkmal setzte, oder an den Roman von Carsten Jensen „Rasmussens letzte Reise“, in dem er die verzweifelte Suche eines dänische Marinemalers nach dem Licht beschrieb.


    Nun hat die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor einen biographisch geprägten Künstlerroman vorgelegt, der sich in seiner Qualität an ihr Buch “Sturmflut“ anschließt. Es geht um die Geschichte eines Bildes von Rembrandt, das unter dem Titel „Elsje Christiaens hanging in the gibbet“ im Metropolitan Museum of Art in New York hängt. Es ist nicht unbedingt sein bekanntestes Bild, aber Margriet de Moor geht es weniger um das Bild selbst, als um die Geschichte Rembrandts, seine erste Ehe und den frühen Tod seiner Frau, seine finanziellen Probleme und seine Insolvenz, bei der viele seiner Bilder weit unter Preis verkauft werden mussten. Es geht auch um die Stadtgeschichte Amsterdams in diesen Zeiten Mitte des 17. Jahrhunderts, wenige Jahre vor dem Tod Rembrandts in völliger Armut.


    Und es geht hauptsächlich um die kurze , aber dramatische Lebensgeschichte des dänischen Mädchen Elsje Christiaens, die , gerade mal achtzehnjährig, ihrer Stiefschwester nach Amsterdam folgen will, und nach einer abenteuerlichen Seereise, während der sie im Packeis hängen bleibt, schlussendlich nach Amsterdam kommt, dort ein Zimmer bei einer Vermieterin erhält, während sie sich auf die Suche nach einer Stellung als Hausmädchen macht. Sie kann auch nach einer Woche ihre Miete nicht bezahlen und als sie spürt, dass ihre Vermieterin sie, so wie andere Mädchen auch, zur Prostitution verführen will, schlägt sie eines Tages diese mit einem Beil nieder und verletzt sie tödlich. Elsje wird zum Tode verurteilt, sie weigert sich zu bereuen und wird gehängt, bzw. erdrosselt.


    Diese Geschichte ist in den Tagen, als sie geschieht, in Amsterdam Stadtgespräch, und auch Rembrandt erfährt von seinem Sohn davon, der der Hinrichtung so wie Tausende andere beigewohnt hat. Sie berührt den alten Maler seltsam und am Ende des Buches fährt er zu dem Ort, an dem die Leiche Elsjes aufgehängt ist und malt sie.


    Zuvor erzählt Margriet de Moor meisterhaft aus dem Leben Rembrandts und Elsjes in wechselnden Perspektiven und nicht chronologisch, was dem Roman seinen eigenen, spannenden und anspruchsvollen Charakter gibt. Sie wechselt souverän die Zeitebenen und entwirft damit nicht nur ein literarisches Bild von Rembrandt, sondern auch ein kultur- und zeitgeschichtliches Porträt der Amsterdamer Gesellschaft um 1664 und den Jahren davor.


    Ein schöner Roman, der nahtlos an die Qualität von „Sturmflut“ anschließt.