Cécile Wajsbrot - Aus der Nacht

  • Originaltitel: Mémorial
    aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller
    219 Seiten in drei Teilen, diese unterteilt in Kapitel ohne Überschrift


    Inhalt (Klappentext):
    Eine junge Frau steht auf einem Bahnsteig und wartet auf ihren Zug. Sie will nach Osten reisen, nach Polen, in jene Stadt, die ihre Großeltern einst verlassen hatten und die für sie nur mehr eine ferne Abstraktion ist. Dort hofft sie, Licht in die von Leid geprägte und später verdrängte Geschichte ihrer Familie zu bringen. Doch bald schon melden sich in ihrem Innern die Stimmen der Vergangenheit und beginnen einen schmerzvollen Dialog mit der Gegenwart.
    In ihrer dichten, lyrischen Prosa beschreibt Cécile Wajsbrot das Schicksal einer Frau, die sich nicht damit abfinden will, dass ihren Fragen nach früher stets mit Schweigen begegnet wird. »Aus der Nacht« ist ein eindringliches Buch über die Narben einer Generation, die von Tod und Vertreibung selbst verschont wurde - und doch für immer davon geprägt.


    Eine namenlose Ich-Erzählerin steht auf einem Bahnhof und wartet auf einen Zug, der über eine Stunde Verspätung hat. Wo sie ist und was genau sie vorhat, enthüllt sich dem Leser erst nach und nach, ebenso wie die Geschichte ihrer Familie.
    Ihre Großeltern - polnische Juden - flohen aus ihrem Heimatland nach Frankreich zusammen mit den Kindern, also dem Vater und der Tante der Erzählerin - ein Bruder war vorher in Polen gestorben. Aber sie redeten nie über ihre Vergangenheit, und die Erzählerin fühlt sich von ihren Wurzeln abgeschnitten. Dass sowohl Vater als auch Tante an Alzheimer leiden, erscheint ihr wie eine logische Fortführung deren Lebens.
    In Gedanken setzt sie sich mit dem Ungesagten auseinander, erfindet Rede und Gegenrede und phantasiert sich in Auseinandersetzungen.
    In Polen angekommen hat sie gleichzeitig Angst, Spuren ihrer Familie zu finden als auch keine Spuren mehr zu finden.


    An den Anfang jedes Abschnitts setzt die Autorin einen kleinen Sachbericht über die Schneeeule. Es dauert bis zum letzten Kapitel ehe dem Leser die Verbindung klar wird.


    Eine ganze Anzahl existenzieller Fragen wirft die Autorin mit diesem Buch auf: Wie wichtig ist die Vergangenheit für das jetzige Leben? Ist Schweigen tatsächlich ein Schutz? Was bedeutet das Leben der Vorgänger-Generationen für das eigene? Wie weit darf jemand in das Leben eines anderen - auch das vergangene - eintauchen, um Informationen zu bekommen, die der andere nicht aus freiem Willen gab?


    Ein intensives, ein äußerst schwierig zu lesendes Buch, das ich als sehr aktuell empfinde im Hinblick auf die Fremden, die in unserer Zeit in unser Land flüchten. Die Autorin hat das Thema "Fremdsein" bis ins letzte Atom zerlegt. Ein wenig mehr Erzählung und ein bißchen weniger Innensicht hätte dem Roman meiner Ansicht nach nicht geschadet.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ähnlich, wie das die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron auf beeindruckende und erschütternde Weise ihren Büchern tut, zuletzt in dem sehr empfehlenswerten Buch "Der Anfang von etwas Schönem" (Jüdischer Verlag 2007) spürt auch die französische Schriftstellerin Cecile Wajsbrot in diesem Roman der Frage nach, wie die Kinder der Überlebenden der Shoa ihr Leben bewältigen können, wie sie es schaffen, die dicke Mauer des Schweigens ihrer Eltern zu durchbrechen und einen inneren Kontakt zu schaffen zu dem, was doch auch ihre Geschichte ist. Im Unterschied zu Lizzie Doron, deren Mutter in Auschwitz war und die in Israel lebt, schreibt Cecile Wajsbrot aus einer französischen Perspektive.


    Ähnlich wie die Autorin selbst, lebt auch die junge Protagonistin des Romans in Paris. Sie hat lange mit ihrem Vater und dessen Schwester gelebt, auch noch dann, als beide im Nebel der Alzheimer-Krankheit verschwanden; eine überzeugende Metapher für das konsequente Vergessenwollen dessen, was geschehen ist. "Sie", wie die beiden immer genannt werden, sind schon vor Beginn des Holocaust aus ihrer polnischen Heimat geflohen und haben sich in Frankreich niedergelassen, begannen ein normales Leben zu führen und hielten sich für Bürger des Landes, das sie sich ausgesucht hatten. "Und dann kamen wir, die Kinder, und trugen von Geburt an ihre Hoffnungen, denn wir sollten vollbringen, was sie nicht mehr hatten tun können, und sie verfielen auf den Gedanken, dass sie unsretwegen fortgegangen seien, da sie wussten, dass die Zeit eines Lebens nicht mehr ausreichen würde, um alles aufzuholen, sie konnten sich niederlassen, aber sie konnten keine Wurzeln fassen, keine neue Heimat finden, das mussten wir, und so tragen wir von Geburt an die Last ihres Lebens, sowohl die ihrer Enttäuschungen wie die ihrer Illusionen, und mussten Wünsche erfüllen, die nicht unsere waren. Aber die Wunde blieb ..."


    Es ist diese schmerzende Wunde, die die junge Frau dazu treibt, nach Osten zu reisen, dorthin nach Polen, von wo ihre Eltern vertrieben wurden und flüchten mussten. Schon als sie auf dem Bahnhof steht und auf den verspäteten Nachtzug nach Warschau wartet, gerät sie in einen inneren Dialog mit den elterlichen Stimmen der Vergangenheit. Sie hofft, mit ihrer Reise endlich Licht zu bringen in die von unendlichem Leid geprägte und später komplett verdrängte Geschichte der Vergangenheit ihrer Familie. Und noch bevor sie losgefahren ist, melden sie sich mit ihren Bedenken und Sorgen in ihrem Inneren und tragen, wie schon Jahrzehnte vorher ihre Ängste und ihre Rechtfertigungen vor. Dieser innere Dialog, der sich über das ganze Buch hinzieht und aus dem die junge Frau nicht eben siegreich hervorgeht, ist schmerzhaft und drückt die ganze Problematik der zweiten Generation aus.


    Im Zug von Berlin nach Warschau trifft die Protagonistin auf eine Frau, die nach Auschwitz fährt, weil sie dort wohnt, Wie Cecile Wajsbrot schildert, was diese nach 1945 in Auschwitz geborene Frau erlebt, wie sie ihre Stadt wahrgenommen hat und wahrnimmt, habe ich in dieser Ausdruckskraft so vorher noch nirgendwo gelesen. Neben den inneren Kämpfen der jungen Frau sind diese Seiten einer Begegnung im Zug mit dem Gespräch über die Folgen der Vernichtung bei der zweiten Generation der Täter, Helfer und schweigenden Zeugen die stärksten des ganzen Buches.


    Die junge Frau findet den Ort, von dem ihre Vorfahren vor dem Krieg aufgebrochen waren, sie sieht auch den Fluss, indem ihr Onkel ums Leben kam und kommt ihm innerlich näher, und sie besucht den teilweise erhaltenen Friedhof des Dorfes in dem einige jüdische Grabsteine erhalten geblieben sind.


    Die einzelnen Abschnitte des Romans werden eingeleitet mit Reflexionen über die Schneeeule und ihre Lebenswelt. Gegen Ende formuliert die Autorin, wie um die Schneeeule zu ihrem Vorbild zu erwählen:
    "Die Schneeeule flieht vor nichts, denn nichts kommt an sie heran, sie ist das Wesen und die Gegenwart- das Ganze."


    Ein beeindruckender Roman aus der zweiten Generation der Überlebenden des Holocaust, der wie auch die Bücher von Lizzie Doron zeigt, dass sie diese Vergangenheit nicht werden abschütteln können, sondern sich permanent damit auseinandersetzen müssen. Wie die dritte Generation damit umgehen könnte, zeigt Jonathan Littel mit seinem voluminösen und umstrittenen Roman "Die Wohlgesinnten" (Berlin Verlag 2008.)