Ha Jin – Warten / Waiting

  • Original: Waiting (amerikanisch, 1999, und nicht chinesisch!)


    ZUM BUCH:China, Mitte der 60er Jahre, kurz nach der Kulturrevolution. Der Militärarzt Lin Kong, dessen Ehe mit der demütigen Shuyu von seinen Eltern und gegen seinen Willen auf dem Hintergrund alter Traditionen arrangiert worden war, lernt im Militärkrankenhaus der Stadt Muji/Mandschurei die junge attraktive Krankenschwester Manna Wu kennen. Da Ehebruch mit Entlassung und Ächtung bestraft wird, bleibt den beiden nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass Lin Kongs Frau eines Tages in die Scheidung einwilligen wird, denn erst nach 18 Jahren ist es einem Ehepaar erlaubt, sich ohne die Zustimmung des Partners scheiden zu lassen.


    Aus diesem Grund fährt Lin Kong, der Bücherfreund und Intellektuelle, 17 Jahre lang jeden Sommer aus der Stadt nach Hause in das rückständige Gänsedorf, um Shuyu zur Scheidung zu überreden. Hin- und hergerissen zwischen Verführung und Pflichtbewußtsein, verbringt Lin Kong die Jahre »wie ein Schlafwandler, geschubst und gestoßen von den Meinungen anderer Leute«. Doch nicht nur Lin Kong wartet auf die Scheidung – auch Manna Wu und Shuyu warten um der Liebe willen, jede auf ihre Weise. (Kurzbeschreibung bei Amazon)


    EINIGE GEDANKEN:Als 1962 auf dem Lande seine Mutter erkrankte, willigte Lin Kong in die Heirat mit der einfachen Shuyu ein, die sich dann auch rührend zuerst um seine Mutter, dann um seinen Vater kümmerte, während er im Militärkrankenhaus der Stadt einer Karriere nachläuft. Getrennt wird er von seiner Frau und der heran wachsenden Tochter Hua leben und nur im Sommer während des Jahresurlaubs heimkehren. Als er die junge und attraktive Manna Wu kennenlernt scheint die Zeit einer Leidenschaft anzubrechen, doch die so genannten Umstände hindern nicht nur die offizielle Heirat, sondern unterbinden auch eine wirklich weiter gehende Beziehung, so sehr die beiden auch aus sind, ihr Leben miteinander zu verbringen. Diese Umstände sind eine Verstrickung vom Leben in der dörflichen Tradition als auch dem Befolgen unsinnig gewordener, sich selbst verselbstständigender Regeln des Regimes. Also warten?! Bis die Frist verstrichen ist, die bis zu einer gültigen Scheidung vergehen muss, da seine Frau nicht einwilligt? Was passiert in diesen Jahren mit den Akteuren? Mit dem, was sie Liebe nannten?


    Man mag in diesem Roman eine sentimentale Liebesgeschichte vermuten und würde dann übersehen, wie das Private eng verbunden ist mit dem äußeren Gang der Geschichte im China der Tradition, der Kulturrevolution bis hin zur langsamen Öffnung in den 80iger Jahren. Und wie ein System Menschen in ihrem ungestillten Durst nach Liebe durch Regeln der Willkür zum „Warten“ zwingt. Immer wieder erfahren wir in zahlreichen Details etwas vom Leben im China dieser Zeitspanne. Ja, dann mag man die Quelle aller Probleme im totalitären Regime sehen. Darin liegt was Wahres.
    Zur selben Zeit scheint der scheinbar liebenswerte Lin Kong fast zu sanftmütig: müsste man sich nicht entscheiden für eine Option, anstatt die verschiedensten Fäden miteinander verbinden zu wollen? Wenn man es allen Recht machen will, geht man eventuell an sich vorbei?


    Ha Jin erzählt flüssig und verständlich eine Geschichte, die mal Kopfschütteln, mal Nachdenken lässt. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Lin Kong sich und uns alle an der Nase herumgeführt hat... Bei allem Zögern und aller Unentschlossenheit ist er doch ein Mensch, der letzten Endes lieben will, und wie daran gehindert wird.


    Der 1999 erschienener Roman „Waiting“ (dt. Warten, 2000) heimste einige der renommiertesten US-amerikanischen Literaturpreise ein: 1999 den National Book Award, 2000 den PEN/Faulkner Award, gleichzeitig gab es eine Nominierung für den Pulitzer-Preis.


    ZUM AUTOR:Ha Jin (chin. 哈金, Hā Jīn; * 21. Februar 1956 in Jinzhou, Nordchina) ist ein chinesisch-amerikanischer Autor. Mit 14 Jahren wurde er während der Kulturrevolution Soldat und diente fünf Jahre lang an der chinesisch-sowjetischen Grenze. Unter schwierigen Bedingungen bildete er sich autodidaktisch fort. 1977, als die Universitäten wieder geöffnet wurden, schrieb er sich an der Universität Harbin ein. 1985 emigrierte er in die USA. An der Brandeis Universität promovierte er 1992. Inzwischen arbeitet er als Professor für englische Literatur in Boston (Boston University).
    Quelle (und weitere Informationen): http://de.wikipedia.org/wiki/Ha_Jin


    Weitere auf Deutsch übersetzte Werke
    In the Pond, Roman (1998, dt. Im Teich)
    The Crazed, Roman (2002, dt. Verrückt)
    War Trash, Roman (2004, dt. Kriegspack)
    A free life, Roman (2007, dt. Ein freies Leben)


    Taschenbuch: 336 Seiten
    Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (1. Juni 2004)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3423132108
    ISBN-13: 978-3423132107
    Originaltitel: Waiting

  • Da ich zur Zeit die chinesischen Autoren entdecke, ist mir Ha Jin schon in der Buchhandlung aufgefallen.
    Ich werde wohl Autor und Buch demnächst näher in Augenschein nehmen. Danke für die schöne Rezi ! :D


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Melania G. Mazzucco, Vita

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Für die Erstellung einer Rezension auf Französisch recherchierte ich gerade noch weiter und fand diesen unglaublichen Hinweis des Autors, dass er sich von einer wahren Geschichte inspirieren liess! Meine klammheimliche Vermutung, dass es sich um eine makabre Satire handeln könnte geht also wirklich fehl!


    Dieses Buch könnte viele Büchertreffler ansprechen!

  • Danke für deine Rezension, tom fleo. Ich habe mir den Autor mal näher angeschaut. "Im Teich" klingt noch sehr interessant.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Ja, ich werde wohl auch nach weiteren Werken von Ha Jin Ausschau halten!


    Gerade fand ich noch, für besonders Motivierte, ein langes Interview mit dem Autor, allerdings auf Englisch (leicht verständlich):
    http://www.powells.com/authors/jin.html

  • Lin Kong, der "Held" dieser Geschichte ist ein armer, aber peinlicher Tropf - gefangen zwischen chinesischem "Anstand" und seinen eigenen Schranken im Kopf. Er liebt diese Krankenschwester Manna, aber das reicht ihm, platonisch, denn das ist er gewohnt - in seiner Ehe. Und da sind die Konventionen, sein direkter Vorgesetzter und diese ach-so-lästerlichen Nachbarn... alles und jeder gibt ihm wirklich genug Entschuldigungen, mit der geliebten Frau kaum händchenhaltend aber immer körperlich Abstand haltend ein nur Nuancen von "netter Kollegenschaft" übersteigendes Verhältnis zu "pflegen". Küsse? Sex? Intimitäten? Da sei Mao, die Partei, der Chef, der Kodex vor!


    Eine gut ausgewählte Geschichte mit der es sich schön die Absurditäten chinesischer Realität zur Zeiten der Kulturrevolution/kurz danach veranschaulichen lässt. Auf 70, vielleicht 100 Seiten - aber ein ganzer (wenn auch nicht dicker) Roman?


    Nein, das ist einfach zuviel. das schleppt sich, ist gerade noch "nett", beginnt zu nerven und ermüdet, denn früh ist klar: hier gibts kein Happyend, keine Scharlatanerie, keine Überraschung.


    Maugham hätten 50, Maupassant 70 und selbst Joseph Conrad hätte kaum 100 dichte Seiten gebraucht.
    Schade, denn ich mocht Ha Jins KRIEGSPACK.


    **xie xié**

    Es gibt keine grössere Einsamkeit als die des Samurai. Es sei denn die des Tigers im Dschungel

  • Danke tom fleo für deine Rezension, die ich eben erst entdeckt habe. Dieser Roman scheint wie für mich gemacht zu sein, ich lese ja gern aus dieser Region und dieser Zeit. Ich werde mir auch die anderen Bücher noch anschauen. :thumleft:

    Liebe Grüße von Tanni

    "Nur noch ein einziges Kapitel" (Tanni um 2 Uhr nachts)


  • Ich reiche noch einen Link zu einer Ausgabe in der Ausgangssprache nach.


    Kurzbeschreibung (Amazon):
    For more than seventeen years, Lin Kong, a devoted and ambitious doctor, has been in love with an educated, clever, modern woman, Manna Wu. But back in his traditional home village lives the humble, loyal wife his family chose for him years ago. Every summer, he returns to ask her for a divorce and every summer his compliant wife agrees but then backs out. This time, after eighteen years' waiting, Lin promises it will be different.


    Angesichts des Inhaltes finde ich das hiesige Cover einer/der englischen Ausgabe ziemlich unangebracht. Eben ein "Lockcover"? Schade...

  • Die Geschichte mutet befremdlich an. Weder Zeit noch Kultur im Hintergrund sind mir vertraut, aber stört das wirklich beim Verstehen des Romans? "Warten" spielt im China des 20. Jahrhunderts, verarbeitet selbstverständlich kulturelle Details. Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Essenskultur und politischer Hintergrund, aber auch die Strenge der Armee lassen mich immer wieder stocken. Besonders letzteres zeigt große Einflüsse in das persönliche Leben der Menschen und zwingt Lin und Manna lange Jahre zeigbare Zuneigung auf.
    Doch die eigentliche Geschichte handelt nur von drei einsamen Seelen, deren Leben miteinander verbunden sind und die weit entfernten Zielen nachlaufen. Was wünscht man sich vom Leben? Wie viel darf man dafür aufgeben? Und was bleibt am Ende übrig, wenn man so viel verloren hat?
    Vor allem Lin Kong erscheint in diesem Licht als eine tragische Figur, wobei sich die gesamte Tragweite erst am Ende erschließt. Dabei kann ich gar nicht sagen, ob er sich entwickelt, oder ob sein Ende schon am Anfang feststeht. Der Autor spielt auf seine Art und Weise mit den Figuren: Drei Personen zeigen ihre Sicht auf die Dinge und stehen sich dabei gegenseitig im Weg auf der Suche nach ihren Zielen. Richtig unsympatisch ist aber keiner, eine Seite kann man nicht einnehmen. Ich finde es auch schwierig, einen für seine Entscheidungen zu verurteilen.
    Das Buch entwickelt keinen Sog, hält den Leser nicht durch Spannung fest, denn Höhepunkte sind rar gesäht. Einige Stellen ziehen sich auch und lassen sich von mir in den Gesamtkontext nur schwer einordnen.


    Fazit: Man muss sich einlassen können auf eine spezielle Ebene dieses Buches, um etwas daraus mitnehmen zu können, denn als reine Geschichte funktioniert es in meinen Augen nicht.

    "All we have to decide is what to do with the time that is given to us."