Original: Französisch, September 2010
ZUM INHALT:
Ein Mann kommt an, mit dem Auftrag eine Selbstmordserie zu untersuchen, die in einem Unternehmen der Stadt aufgetreten ist. Doch es ist als ob sich alles dagegen verschwört, dass er überhaupt zum Beginn einer Ermittlung kommt. Die Zeit dehnt sich aus, und auch Räume scheinen gegen alle Regeln zu sprechen. In den Begegnungen mit den Menschen der Stadt herrscht eine Willkür: mal eine grobe Stimmung, mal eine entgegenkommende. Unruhe, Feindseligkeit und Ungewissheit kommen auf. Worauf kann man sich da verlassen? Wie nicht die Anhaltspunkte verlieren? Anstatt eine Untersuchung der Selbstmorde zu werden, wird der Weg des Ermittlers einer, der ihn fragen lässt, wo er eigentlich steht. Und nach und nach scheint er selbst in die Maschine zu kommen.
ANMERKUNGEN :
Menschen und Orte werden nicht bei Namen genannt. Hier werden sie nur durch Funktionen bezeichnet, ohne individualitätsspendende Identität. Sie mögen für uns und unsere Städte stehen, in denen wir oft in einer Anonymität leben. Philippe Claudel ändert das Register und erzählt anders. Das Szenario erinnerte mich an eine Mischung von George Orwell, Franz Kafka, Fritz Langs Metropolis und auch z.B. Saramagos „Das Zentrum“ (uam.). Vielleicht liegt da auch eine Schwäche dieses Werkes: die Querverweise scheinen offensichtlich, doch Claudel braucht noch eindeutigere Erklärungen, um seine unbequeme Welt darzustellen, als es ein Franz Kafka braucht. Er liefert andauernd schon die Erklärungen oder Schlüssel mit.
Stilmäßig fängt der Roman eher realistisch an, um dann schnell hinüberzugleiten ins Absurde und Phantastische. Vielleicht hätten mehr Andeutungen und Suggestive Darstellungen ausgereicht? So hat man manchmal den Eindruck, dauernd an die Hand genommen zu werden.
Die Hauptperson, der „Ermittler“, steht anfangs schnell als „jämmerlich“ und bemitleidenswert da. Es stimmt: Er steht - und mit ihm wir alle - in absurden Prozessen und Erfahrungen. Wie kann dies nicht abgleiten in den Abgrund? Man wird sich fragen, inwieweit man angesichts anonymer Prozesse in der Gesellschaft nicht nur als Opfer da steht, sondern auch als Beteiligter? Er wird an sich die Kritik ergehen lassen: „Sie sehen auf die Menschen und die Welt wie auf ein unpersönliches und geschlechtsloses System von Funktionen, Zahnrädchen, einem großen Mechanismus.“
Das Buch lässt sich auch ohne weiteres als Kritik der anonymen Großunternehmen in den Zeiten der Globalisierung lesen: hier weiß letztlich kaum einer mehr, wer wirklich als Verantwortlicher dasteht. Und, wie es eine Person des Romans sagt „Ich hasse die Unterschiedlichkeit.“
Claudel zeichnet ein unerbitterliches, manchmal groteskes Bild unserer Gesellschaft und des verlorenen Einzelnen. Er gibt keine Lösung vor. Doch das ist – wie er selber sagt – auch nicht die Aufgabe eines Schriftstellers.
Ich schließe mich nicht kurzbündig den eher negativen Kritiken in Frankreich an, dafür ist mein Respekt vor Claudel zu groß.
Wohl nicht sein bestes Buch, doch für den Claudelleser mag es wieder etwas Neues zu entdecken geben.
Es hat mir sehr geholfen, den Autor bei einer Lesung etwas zu diesem Buch sagen zu hören. Da zeigte er sich als durch und durch sympathischer Mensch, der sich in diesem Roman, wie schon so oft, hinter und nach allen Feststellungen von Gräueln die Frage nach dem Sinn stellt.
ZUM AUTOR:
Philippe Claudel (* 2. Februar 1962 in Dombasle-sur-Meurthe, Lothringen) ist ein französischer Schriftsteller, Dramatiker und Filmregisseur. Philippe Claudel hat Literatur studiert und ist ausgebildeter Pädagoge mit staatlicher Lehrbefugnis. Vor seiner literarischen Karriere war er einige Zeit als Lehrer in einem Gefängnis in Nancy tätig. Dort unterrichtet er noch heute an der Universität. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter.
Produktinformation
Broschiert: 288 Seiten
Verlag: Stock (September 2010)
Sprache: Französisch
ISBN-10: 2234065151
ISBN-13: 978-2234065154