Amazon:Wo verläuft die Grenze zwischen Mensch und Tier? Dieser Frage geht T.C. Boyle in seiner Erzählung Das wilde Kind nach, das die Geschichte des berühmten „Wolfskinds“ Victor von Aveyron aufgreift, das Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur in Frankreich für Aufsehen sorgte. Jäger fanden den Jungen im Jahre 1797 in den Wäldern Südfrankreichs, wo er sich nackt und völlig verdreckt von Wurzeln und Nüssen ernährte. Er kann nicht sprechen, nur sehr selektiv hören und reagiert völlig unempfindlich auf Hitze und Kälte. Er wird einer Pariser Anstalt für Taubstumme übergeben, wo sich der junge Arzt Dr. Jean Itard seiner annimmt. Itard ist fasziniert von dem wilden Kind, das in völliger Isolierung ohne jegliche menschliche Erziehung aufgewachsen ist. Mit unendlich viel Geduld versucht er, Victor (wie er das Kind nennt) in einen zivilisierten Menschen zu formen. Aber ist das überhaupt möglich? Oder ist Victors Verhalten weniger kulturell als vielmehr biologisch bedingt?
Für mich war dies das erste Werk von T.C. Boyle und ich war etwas verblüfft von seinem geringen Seitenumfang, bis ich im Internet gelesen habe, dass dies im Original eigentlich Teil einer Kurzgeschichtensammlung ist und nur auf Deutsch als eigenes Buch herausgegeben wurde. So stellt es nun ein Mittelding dar - eine sehr lange Kurzgeschichte oder einen sehr kurzen Roman.
Das Thema das Büchleins fand ich sehr faszinierend, gerade weil sich die Erzählung an eine wahre Begebenheit anlehnt. Man begleitet als Leser "das wilde Kind" zunächst auf seinen Streifzügen durch den Wald, erlebt aber schon bald den Schock der Gefangennahme durch Jäger und Bauern und die zunehmende Konfrontation mit der ihm bisher völlig unbekannten Zivilisation.
Mir hat an diesem Roman sehr gut die lakonische Sprache des Autoren gefallen, der wenig Mitleid mit den Schwächen seiner handelnden Personen zeigt und diese durchaus auch mal egoistisch oder schlicht falsch entscheiden lässt. Man erfährt einiges über die Ansichten im Gesundheitswesen des 18. Jahrhunderts, vor allem natürlich über die Meinung bzgl. stummen, taubstummen oder wie hier "unzivilisierten" Menschen, die tendenziell als schwachsinnig betrachtet werden, da sie nicht als produktive Bürger zum Wohle der Gesellschaft beitragen.
Etwas vermisst habe ich eine tiefergehende Darstellung der Personen um Victor herum, was aber wohl dem Umfang der Kurzgeschichte geschukdet ist. Ich werde mal schauen, was es noch so von diesem Autoren zu lesen gibt.
LG schnakchen