Michelle Richmond schreibt Bücher, die süchtig machen!
Wie schon vor knapp zwei Jahren Ein einziger Blick hat mich auch ihr neuer Roman von wieder sehr beeindruckt. Auch dieses Buch ist schwer einzuordnen zwischen Spannungsroman und Erzählung. Als roter Faden zieht sich zwar ein lange zurückliegendes Verbrechen durch den Roman und der Versuch, dieses nach 20
Jahren aufzuklären. Jedoch schreibt Richmond keine Thriller, sondern durchleuchtet auf dem Weg ihrer Protagonisten deren Leben, ihre Vergangenheit, ihre Charaktere. Dabei beschreibt sie oftmals vermeintlich belanglose Dinge und Episoden, die mich vermutlich bei jedem anderen Autor langweilen würden. Aber hier fügt sich am Ende immer alles zusammen, und selbst Kleinigkeiten sind interessant. Alles hat einen Zweck und einen Hintergrund. Alles treibt die Geschichte voran und lässt die Personen und ihre Geschichten gleichzeitig von Kapitel zu Kapitel lebendiger werden.
Neben dieser unvergleichlichen Art und Weise, eine Geschichte zu erzählen, mag ich vor allem Richmonds ruhigen und unaufgeregten, ja beinahe hypnotischen Schreibstil. Nicht nur inhaltlich ist alles ausgetüftelt und perfekt zusammengesetzt. Auch stilistisch wirkt hier jedes Wort mit Bedacht ausgewählt, hier sitzt einfach jeder Satz.
Interessant ist vor allem auch die Vielschichtigkeit der Geschichte. Die vor 20 Jahren von einem Unbekannten ermordete Lila war eine begabte Mathematikstudentin. Mathe war ihr Leben, ihre Leidenschaft. Sie sah in Zahlen eine Ordnung und eine Schönheit, die anderen Menschen oft verborgen bleibt. Diese völlige und bedingungslose Hingabe an eine Sache ist sehr glaubwürdig beschrieben und hat mich sehr berührt. Lilas jüngere und völlig gegensätzliche Schwester Ellie möchte nach 20 Jahren endlich Antworten finden auf die Frage, wer ihre Schwster umgebracht hat und weshalb. Dreh- und Angelpunkt ist ein „True Crime“ Buch, welches Ellies Unidozent damals geschrieben und es dadurch zu schrifstellerischem Ruhm gebracht hat. Da großes Interesse an Lilas Tod bestand, der Fall aber nie aufgeklärt werden konnte, hatte Andrew selbst recherchiert und aus den Fakten eine vermeintlich wahre Geschichte gestrickt, in der er auch einen Täter präsentierte. Obwohl diesem die Tat nie nachgewiesen werden konnte, war er durch das sehr bekannte Buch gebrandmarkt und konnte nie wieder richtig Fuß fassen.
Ellie deckt all die Jahre später zweierlei auf: Es gab noch weitere Verdächtige, die viel bessere Motive gehabt hätten. Aber der als Täter präsentierte Peter war derjenige, der dramaturgisch am besten gepasst hatte.
Zentrales Thema ist hier die geradezu schockierende Konstruktion einer Geschichte um ihrer selbst willen. Andrew Thorpe, der sein eigenes Leben eher verpfuscht hat, in seinen Büchern aber stets Wert legt auf den bestmöglichen Schluss und penible Konstruktion.
Im Gegensatz zu Thorpe scheint Richmond selbst den Fokus vor allem auf die Figuren zu legen. Sie beschreibt deren Leben, leuchtet es von allen Seiten durch, setzt viele Fakten wie ein Puzzle zu einem schlüssigen Ganzen. Die Geschichte ergibt sich daraus ganz von selbst, und genau das macht ihre Bücher so wunderbar leicht und spannend.
Sehr schön fand ich die Parallelen von der Mathematik und Lilas Mord: In beiden Fällen gibt es etliche Vermutungen, aber ohne den Beweis sind sie wertlos. Auch Lilas Geschichte, im Leben wie im Tod, war voller Unbekannte und muss gelöst werden wie eine mathematische Gleichung.
Im Grunde suchen hier viele der Personen auf ihre Weise Perfektion: Lila, die stets nach Beweisen mathematischer Vermutungen suchte und die Zahlen in ihrer Reinheit so liebte. Thorpe, der eine perfekte Geschichte zu konstruieren versucht. Und Ellie, die einfach nur nach der Wahrheit sucht.
Sie findet sie schlussendlich auch. Die Antwort auf die Frage nach Lilas Mörder fand ich beinahe unspektakulär, wenn auch überraschend. Letztlich war mir persönlich der Täter aber auch relativ egal. Die Geschichte selbst mit ihren vielen Facetten ist es, was für mich diesen Roman ausmacht, aber das ist Ansichtssache.
Dies ist ein richtig, richtig tolles Buch, das mir viel gegeben und mich sehr berührt hat – inclusive Tränchen am Schluss!
Absolute Leseempfehlung.