Die Verantwortung des Ich-Erzählers

  • Hallo ihr Lieben!


    Eigentlich lese ich Bücher, die aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschrieben sind, sehr gerne. Aber vor Kurzem ist mir aufgefallen, dass der Ich-Erzähler eine große Verantwortung hat, denn schließlich wird die Geschichte allein aus seiner Perspektive erzählt. Der Leser ist also völlig abhängig von seinen Eindrücken und Meinungen.


    Habt ihr das Gefühl, dass ihr Personen, die der Ich-Erzähler nicht mag, auch nicht mögt? Und dass ihr Ängste, Freude oder Trauer nur deshalb empfindet, weil der Ich-Erzähler diese Gefühle empfindet?


    Oder geht es euch auch anders: Macht ihr euch ein eigenes Bild von den Personen, ohne euch vom Ich-Erzähler beeinflussen zu lassen?


    Ich bin gespannt auf eure Meinungen, gerne auch mit genauem Buch-Beispiel. :winken:


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Ich sehe Bücher mit Ich-erzähler mit geteilter Meinung: Zum eine lese ich sie gerne und ja, ich finde man versetzt sich sehr in die Person hinein, vielleicht mehr, als bei "normalen" Büchern. Aber genau hier liegen meiner Meinung nach auch die Nachteile: Man kann alles nur aus der Sicht einer einzigen Person beurteilen. Im richtigen Leben ist es ja auch so. Ein Richter beispielsweise hört sich ja auch nicht nur die Aussage einer einzigen Person an, eben wegen der subjektiven Meinung über bestimmte Personen etc.


    Liebe Grüße nonamelocke :D

  • Hallo,


    ich finde die Thematik "Ich-Erzäher" wirklich interessant. Ich persönlich mag Ich-Erzählungen nicht. Ich habe immer das Gefühl ich verpasse irgendwas. Zum Beispiel die Gefühle der anderen Personen oder wichtige Handlungen. Also einer Seits stimme ich dir zu: der Ich-Erzähler hat wirklich eine wichtige Rolle-wenn der Autor es gut schreibt und darstellt. Wenn der Autor aber die anderen Personen vernachlässigt, denke ich oft, dass der Ich-Erzähler von sich selbst eingenommen und eingebildet ist. Ob es nun so ist oder nicht ist Geschmackssachen, aber ich denke dass die Rolle bzw. Wichtigkeit des Erzählers vom Schreibstil des Autors abhängt.
    Bin echt gespannt was andere zu dem Thema meinen.


    LG,
    A Mad Angel

  • ... Im richtigen Leben ist es ja auch so. Ein Richter beispielsweise hört sich ja auch nicht nur die Aussage einer einzigen Person an, eben wegen der subjektiven Meinung über bestimmte Personen etc.


    Was hat das richtige Leben mit einer Geschichte oder einem Roman zu tun?
    Ein Richter muss ein Urteil fällen, das immer Einfluss auf einen oder mehrer Menschen hat, egal ob Angeklagter oder Kläger. Da ist es wichtig alle Fakten zu kennen.


    Ich hingegen lese um unterhalten zu werden. Und dass möglichst gut! Entweder gefällt es mir was der Erzähler schreibt, oder halt nicht! Meine eigene Phantasie oder meine eigenen Gedanken habe ich doch sowiso, so dass ich es noch nie als wichtig empfunden habe eine "andere Sichtweise" erzählt zu bekommen.


    Anders natürlich bei Tatsachenbeschreibungen oder geschichtlichen Darstellung. Dann will ich auch gut informiert werden. Diese Bücher lese ich aber auch nicht zur Zerstreuung.

    Ich mach' mir die Welt, wie sie mir gefällt .... Astrid Lindgren

  • Was hat das richtige Leben mit einer Geschichte oder einem Roman zu tun?
    Ein Richter muss ein Urteil fällen, das immer Einfluss auf einen oder mehrer Menschen hat, egal ob Angeklagter oder Kläger. Da ist es wichtig alle Fakten zu kennen.


    Ich hingegen lese um unterhalten zu werden. Und dass möglichst gut! Entweder gefällt es mir was der Erzähler schreibt, oder halt nicht! Meine eigene Phantasie oder meine eigenen Gedanken habe ich doch sowiso, so dass ich es noch nie als wichtig empfunden habe eine "andere Sichtweise" erzählt zu bekommen.


    Anders natürlich bei Tatsachenbeschreibungen oder geschichtlichen Darstellung. Dann will ich auch gut informiert werden. Diese Bücher lese ich aber auch nicht zur Zerstreuung.

    Mir ist es eben lieber die Geschichte nicht nur aus der Perspektive einer einzigen Person zu kennen.

  • Ob Ich-Erzähler oder personaler Erzähler den Leser eher zu einer bestimmten Meinung drängen, sei dahingestellt. Es kommt in beiden Fällen auf den Grad der Identifikation mit dem Erzähler an. Auch der allwissende Erzähler kann durch eingefügte Kommentare, Anmerkungen und Stellungnahmen den Leser beeinflussen.


    Die eigentliche Frage ist, ob der Erzähler selbst Figur der Handlung ist oder als Beobachter fungiert. Im ersten Fall kann er in die Handlung eingreifen und sie gestalten, während der Beobachter auf Ereignisse außerhalb oder das Verhalten anderer Personen angewiesen ist. Ein Ich-Erzähler ist immer Figur der Handlung.


    Ich mag Ich-Erzählungen sehr, denn ich lasse mich gern von (fiktiven) Personen in ihre Gedanken- und Gefühlswelt mitnehmen. - "Owen Meany" von John Irving wäre in einer anderen Erzählperspektive nur die Hälfte wert.
    Krimis, historische Romane und Liebesromane mag ich lieber aus der personalen Erzählperspektive.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich mag die Ich-Erzählweise eigentlich auch sehr gern. So kommen mir die Geschehnisse realer vor, weil Eindrücke und Gefühle direkt vom Betroffenen dargestellt werden. Ich denke schon, dass deswegen die Einstellung zur Hauptperson dadurch beeinflusst wird, aber m.M. schafft es ein guter Autor diesen Effekt minimal zu halten, bzw. noch Spielraum für die eigene Meinung zu lassen.


    Zurzeit lese ich den ersten Teil der Percy Jackson-Reihe von Rick Riordan, dieses Buch ist auch in Ich-Perspektive erzählt. Hier wird es oftmals sogar vom Autor sehr deutlich gemacht, dass Percy's Meinung vielleicht nicht unbedingt das wahre sein muss, was wohl auch daran liegt, dass es ein Jugendbuch ist und natürlich auch leicht verständlich sein sollte. Durch witzige und teilweise kontroverse Kommentare und Fragestellungen wird mal sozusagen zum selbst mitdenken und zweifeln gezwungen, was mir wirklich gut gefällt.


    Am liebsten jedoch lese ich Krimis in Ich-Form, da ich es wirklich spannend finde, was im Kopf eines Serienkillers so vor sich geht. :| Ich denke, gerade wenn man den Ich-Erzähler nicht wirklich verstehen kann, ist es umso spannender zu lesen, was er eigentlich die ganze Zeit denkt/fühlt.

    "The worth of a book is to be measured by what you can carry away from it."

    - James Bryce

  • Ich finde ebenfalls die Ich-Perspektive am besten, da man sich so am ehesten mit den Protagonisten identifizieren kann. Man fühl, bangt, und hofft letztendlich mit ihm. Wenn aus der 3. Person geschrieben wird, hat man eher das Gefühl, man würde als Leser das Ganze von Außen betrachten, was mir persönlich weniger gefällt, aber nicht gleich schlecht sein muss. :loool:

    Love is the most powerful army. Whether love of friend, love of country, love of God, or even love of enemy -
    love reveals to us the truly miraculous nature of the human spirit.
    Zt. nach Ruta Sepetys

    Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten
    Zt. nach Jean-Jaques Roussaau


    gelesen 2016:14 :study:

  • Wenn aus der 3. Person geschrieben wird, hat man eher das Gefühl, man würde als Leser das Ganze von Außen betrachten


    Aber nicht beim personalen Erzähler, der eine Figur der Handlung ist. Das ist ja das Raffinierte am dem Kerl. :wink:

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  • Habt ihr das Gefühl, dass ihr Personen, die der Ich-Erzähler nicht mag, auch nicht mögt? Und dass ihr Ängste, Freude oder Trauer nur deshalb empfindet, weil der Ich-Erzähler diese Gefühle empfindet?

    Ich betrachte Ich-Erzähler eher klinisch analysierend. Wenn ist feststelle, dass der Ich-Erzähler selbst einen Sockenschuss (Ich-Erzählerin in "Whispers and lies" von Joy Fielding) hat, sehe ich die von ihm/ihr geschilderten anderen Figuren nicht mit seinen/ihren, sondern meinen Augen.
    Wenn ich jedoch einen Ich-Erzähler mag und mich mit ihm in gewisser Weise identifizieren kann (Beispiel: Matthew Shardlake in der Serie von CJ Sansom), bin ich eher geneigt, seine Eindrücke zu übernehmen.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Wenn aus der 3. Person geschrieben wird, hat man eher das Gefühl, man würde als Leser das Ganze von Außen betrachten,

    Das ziehe ich vor, weil mir die eingeschränkte Perspektive nicht so zusagt. Früher konnte ich mit Ich-Erzählern gar nichts anfangen, jetzt bin ich da etwas flexibler geworden. ;)

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  • Früher habe ich die anderen Perspektive auch mehr gemocht, aber ich finde dennoch, die 1. Person irgendwie spannender :)

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    gelesen 2016:14 :study:

  • Das ziehe ich vor, weil mir die eingeschränkte Perspektive nicht so zusagt. Früher konnte ich mit Ich-Erzählern gar nichts anfangen, jetzt bin ich da etwas flexibler geworden.


    Na ja, mir ist es letzendlich auch egal, solange das Buch schön spannend ist. Nur ziehe ich die 1. Person vor, wegen der oben genannten Gründe :loool:

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    gelesen 2016:14 :study:


  • Aber nicht beim personalen Erzähler, der eine Figur der Handlung ist. Das ist ja das Raffinierte am dem Kerl. :wink:

    Aber soweit ich weiß, kann der personale Erzähler doch auch ein Ich-Erzähler sein. Das ist dann die perfekte Mischung. Während der auktoriale Erzähler, ja der allwissende Erzähler ist, der das Ganze von Außen betrachtet

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    gelesen 2016:14 :study:

  • "Allwissender Erzähler" verwende ich ungerne, weil der zum Beispiel ja nicht weiß, was ich gerade für Socken anhabe.
    Der unzuverlässiger Ich-Erzähler wurde ja bereits angesprochen. Das ist gelegentlich eine sehr nette Variante dieser beliebten Erzählsituation. Wer gerne mehrere Perspektiven bekommt, dem empfehle ich Bücher mit wechselnden Ich-Erzählern (z.B. R. A. Heinlein "Die Zahl des Tieres" oder Julian Barnes "Talking It over!") Insgesamt habe ich aber nicht unbedingt eine deutliche Vorliebe. Es kommt immer darauf an, wie gut ein Autor mit einer bestimmten Erzählsituation umgeht. 8)

  • "Allwissender Erzähler" verwende ich ungerne, weil der zum Beispiel ja nicht weiß, was ich gerade für Socken anhabe.


    Falls dieser Allwissende Erzähler nicht gerade eine Biographie von K-G Beck Ewe verfasst, ist diese Information für den gemeinen Leser nicht unbedingt von Bedeutung. (Falls er es aber doch macht, wird er - bei gründlicher Recherche - sicher wissen, welche Socken Du trägst. :winken: )

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Mir ist es vollkommen egal, ob aus der Perspektive der ersten oder der dritten Person erzählt wird. Wird die Geschichte von einem Ich-Erzähler erzählt, habe ich nicht unbedingt das Gefühl, etwas zu verpassen. Natürlich frage ich mich, wie andere Personen dieser Geschichte wohl die Situationen empfinden, aber dass ich das meistens dann nicht weiß, stört mich auch nicht besonders. Es ist auch nicht so, dass ich die Personen mag, die der Ich-Erzähler sympathisch findet, ich bilde mir da meine eigene Meinungen.

    "Werter Herr, die Tatsache, dass ein Buch in einer öffentlichen Bibliothek zugänglich ist, tröstet mich keineswegs. Wäre es nicht der Gesetze wegen, ich würde sie stehlen. Wäre es nicht meiner Börse wegen, ich würde sie kaufen."
    --Harold Laski

  • Normalerweise ist es mir egal, welche Perspektive der Autor gewählt hat, solange er sie gut nutzt. ;)

    Wenn ist feststelle, dass der Ich-Erzähler selbst einen Sockenschuss (Ich-Erzählerin in "Whispers and lies" von Joy Fielding) hat

    ... dann finde ich das besonders gut. Ich liebe Ich-Erzähler, denen man nicht über den Weg trauen kann. Das macht das Ganze doch sehr spannend! (Bei dem Thema hier musste ich auch gleich an "Whispers and Lies" denken...) :thumright:

  • Ich lese gerne Ich-Erzählungen. Das Gefühl, dadurch die Meinung des Protagonisten aufgedrängt zu bekommen, habe ich nur in Ausnahmefällen. Beispiele, die ich gelungen finde, sind die Romane von Philippe Djian, Charles Bukovski oder auch David Gilmour mit "Unser allerbestes Jahr". Mir fällt auf, dass ich dabei die männliche Perspektive bevorzuge. Personale Erzähler sind schwieriger, m.M. nach.
    Da ich selber schreibe, kenne ich das Problem, zu schnell von einer Figur in die nächste zu fallen und somit den Lesefluss zu stören. Daher bietet ein Ich-Erzähler oder ein konstanter personaler Erzähler schon Vorteile. Natürlich machen verschiedene Perspektiven das Buch abwechslungsreicher, aber man verzettelt sich sehr schnell damit. Ich denke, man sollte höchstens drei Figuren haben, aus deren Sicht eine Geschichte erzählt wird, sonst wird es für den Leser verwirrend.


    Der "allwissende" bzw. neutrale Erzähler ist, soweit ich das mitbekommen habe, im Allgemeinen nicht mehr so populär.

  • Ich mag den Ich-Erzähler lieber, da ich mich in die Person viel besser reinversetzen kann, was aber nicht heißt, das ich auch immer das gleiche fühle wie er und nur die Personen mag, die er auch mag bzw. die nicht mag, die er nicht mag. Wenn der Autor aus der 3. Person schreibt, finde ich zwar auch nicht so schlimm, aber ich mag es halt nicht, das ich als Leser alles von Außen betrachte.