Joseph Roth - Das Spinnennetz

  • Leutnant Theodor Lohse, nach dem 1. Weltkrieg "degradiert" zum Hauslehrer, sehnt sich zurück an Macht und Gewalt, wie auf dem Schlachtfeld. Als Leutnant, als Befehlender, wurde er zum ersten Mal aus seinem dumpfen, kleinbürgerlichen Duckertum gerissen - und da möchte er wieder hin. Beim jüdischen Bankier angestellt zu sein, von seiner Familie nicht den Respekt und Gehorsam zu erhalten, den er sich erwartet, das schmerzt ihn. Folglich orientiert er sich an der Subkultur der Kriegsveteranen, die den Krieg als den Ihren ansahen und die Niederlage nie verwunden haben. Helden seiner Jugend sind die Kriegsherren des Krieges, sind solche Gestalten, wie General Ludendorff, der ihn auf einen langen Fanbrief antwortet, wenn auch nur kurz, aber umso militärischer und umso erhabener für Lohse, der sich just auch weiter noch im Krieg befindet - gegen den "inneren Feind". Und gegen diejenigen, die seiner Karriere etwas im Wege stehen.
    Und so sabotiert er, so mordet er und so steigt er auf. Schafft es in das an Platz knappe Reichsheer, lässt streikende Landarbeiter mit Maschinengewehren niedermähen, zeigt sich herz- und kompromisslos. Und so wird er groß, wird richtiger Bürger. Hebt sich am ab vom Pöbel.


    Arbeiter schlichen mit krankem Schattenschritt zur Arbeit wie längst Gestorbene, die den Fluch ihres irdischen Tagewerks weiterschleppen müssen [...]; brach einer nieder auf hartem Pflaster, raubte ihm der andere den Rock im Weitergehen; Krankheit wälzte sich durch die Häuser der Armen, über staubige Höfe, lag in den lichtarmen Stuben, drang durch die Haut; Geld rann durch die Finger der Satten, ihrer war die Macht, Furcht vor den Hungrigen nährte ihre Grausamkeit; Fruchtbarkeit ihrer Güter blähte ihren Stolz; sie tranken Champagner in lichterfüllten Palästen; sie ratterten in Automobilen von Geschäft zur Freude, von der Freude zum Geschäft; Fußgänger starben unter den Rädern; rasende Chauffeure flitzten weiter; die Totengräber streikten; die Metallarbeiter streikten; vor den Nahrungsmitteln hinter glänzenden Spiegelscheiben reckten sich ausgedörrte Hälse, flackerten Augen, aus den Höhlen getretene, kraftlose Fäuste ballten sich in zerrissenen Taschen.


    Und so läuft es. Richtig faszinierend an Roth war seine politische Hellsicht - selbstverständlich endet das alles im Putschversuch. So wie Hitler, kurze Zeit nach dem Buch, auch auf die Feldherrenhalle marschiert. Und so wie da, unterstützte die Faschisten auch ein beträchtlicher Teil des Bürgertums.
    Wie ein lächelnder Mörder ging der Frühling durch Deutschland. Wer in den Baracken nicht starb, den Foltern entging, von den Kugeln der Nationalen Bürgerliga nicht getroffen wurde und nicht von den Knüppeln des Hakenkreuzes, wen der Hunger nicht zu Hause traf, wen die Spitzel vergessen hatten - der starb unterwegs, und die schwarzen, großen Rabenschwärme kreisten über seinem Leichnam.


    Ich kenn eigentlich kein Buch, dessen Sätze so gut zum Inhalt passen. Überwältigend kurze Sätze, das ganze Buch eine Marschmusik zum Morden, mit Tönen, so grausam, dass einem die kalte Wut kommt. So historisch, dass man schier verzweifeln möchte.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

  • Danke für die Rezension, @ musikzimmer.


    Ich kenne das Buch (noch) nicht, aber ich freue mich über jedes Buch "mit Substanz", das hier im Forum vorgestellt wird.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Auch ich freue mich über diese Rezi. Joseph Roth ist einer meiner Lieblingsautoren, dieses Buch kenne ich auch noch nicht, es steht aber schon in meinem Regal. Mit Roths Büchern gehe ich sehr sparsam um.

  • Gern geschehen.


    Sparsam umgehen muss man mit seinen Büchern aber eigentlich nicht, die sind gut genug um sie mehrmals zu lesen ;o)

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

  • Wohl immer lesenswert, ein Joseph Roth!


    Folgende Information gehörte eigentlich auf eine Autorenseite, doch die exitiert halt noch nicht. Schon 1989 ist auf Italienisch bei Einaudi vom ebenfalls renommierten Schriftsteller Claudio Magris eine Studie zu Joseph Roth erschienen :


    Lontano da dove. Joseph Roth e la tradizione ebraico-orientale


    Ich habe das allerdings erst neulich entdeckt, als im Herbst 2009 (endlich) eine französische Übersetzung erschien. Sie übersetzt den Titel wortwöirtlich:


    Loin d'où ? : Joseph Roth et la tradition juive-orientale
    (Weit von wo? Joseph Roth und die osteuropäisch-jüdische Tradition) Dieses Buch wollte ich mir besorgen. Und ich verlinke es mal, da die italienische ISBN nicht akzeptiert wurde.


    Amazonverlinkung: http://www.amazon.de/Loin-do%C…-de&qid=1274703566&sr=8-1


    Für wann eine deutsche Übersetzung???

  • Wobei ich jetzt schon etwas verwundert darüber bin, dass ein Buch über Joseph Roth zuerst auf Italienisch und Französisch und ??? erscheint, bevor es ins Deutsche überseztt wird?


    Danke Tom für diese Info, und ich bekunde gleich mal Interesse an Deinem Kommentar zu diesem Buch .

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Wobei ich jetzt schon etwas verwundert darüber bin, dass ein Buch über Joseph Roth zuerst auf Italienisch und Französisch und ??? erscheint, bevor es ins Deutsche überseztt wird?


    Meine Rede... Mit Deiner Verwunderung stehst Du nicht alleine da! Zumal nicht nur Joseph Roth uns quasi am Herzen liegen sollte, sondern mit Claudio Magris auch ein im deutschsprachigen Raum für andere Werke bekannter Schriftsteller ein Argument ist!



    Danke Tom für diese Info, und ich bekunde gleich mal Interesse an Deinem Kommentar zu diesem Buch .


    Ich sollte das Buch bald erhalten, doch bei meinem SUB kann ich nicht absehen, wann ich es lesen werde...


  • Ich sollte das Buch bald erhalten, doch bei meinem SUB kann ich nicht absehen, wann ich es lesen werde...


    Ach, das kennen wir ja eh alle ..... nur kein Stress! Kommt Zeit, kommt Roth :lol:

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Wie schön, es gibt schon eine Rezension von "Das Spinnennetz". Nach dem mir "Radetzkymarsch" so gut gefallen hatte, habe ich mir unter anderem auch noch "Das Spinnennetz" vorgenommen. Auch hier wieder ein guter Griff. "Das Spinnennetz" ist der erste Roman von Roth. Musikzimmer hat ja schon den Inhalt zusammengefasst, also spare ich mir das jetzt.


    Was mir an diesem Buch (Erscheinungsjahr 1923!) gefallen hatte, war die gute Einschätzung die Roth bezüglich der politischen Lage zeigte. Als Journalist war er wohl besonders aufmerksam gewesen. Trotzdem läuft einem beim lesen die Schauer über den Rücken. Aber auch den entsprechenden Menschenschlag, die dieses Regime überhaupt erst mal ermöglicht hatte, konnte Roth ein passendes Bild geben.


    Ich kenn eigentlich kein Buch, dessen Sätze so gut zum Inhalt passen. Überwältigend kurze Sätze, das ganze Buch eine Marschmusik zum Morden, mit Tönen, so grausam, dass einem die kalte Wut kommt. So historisch, dass man schier verzweifeln möchte.

    Passender kann man es nicht mehr ausdrücken. Hier habe ich noch einen sehr schönen und informativen Artikel über das Buch gefunden.

  • Guten Morgen @Farast, und vielen Dank für das Re-Aktivieren dieses Threads. Das Buch ist gleich mal auf meine Wunschliste gewandert.
    Nachdem Du (und zuvor schon @mofre) so vom "Radetzkymarsch" geschwärmt hattest, habe ich gestern damit begonnen, den R.-Marsch aus meinem SUB zu holen - da lag der Roman schon seit Ewigkeiten. Wenn ich ebenso begeistert bin, dann bestelle ich mir gleich noch dieses "Spinnennetz" - oder sollte ich erst noch die "Kapuzinergruft" lesen, den Nachfolgeband vom Radetzkymarsch ? Am liebsten würde ich wieder alles auf einmal lesen wollen...

  • Das finde ich ja klasse, dass wir dich zum lesen vom "Radetzkymarsch" inspirieren konnten @Nungesser. Lass es unbedingt wissen, wie dir deine Lektüre gefallen hatte!
    @Mara empfiehlt ja "Die Kapuzinergruft" direkt hinter dem "Radetzkymarsch" zu lesen. Ich wollte mir allerdings noch ein wenig Zeit dafür nehmen und erst noch andere Romane und Erzählungen von Roth entdecken. Reine Bauchentscheidung von mir :wink: Das mit dem alles auf einmal lesen wollen kenne ich auch. Wäre schön wenn das ginge!

  • oder sollte ich erst noch die "Kapuzinergruft" lesen, den Nachfolgeband vom Radetzkymarsch ?

    Es bietet sich deswegen an, weil die Bücher thematisch zusammenhängen. Zwingend ist das aber nicht, da es sich nicht um einen Familienroman im engeren Sinn handelt, bei dem man bestimmte Ereignisse oder Zusammenhänge in Erinnerung behalten müsste. Ich habe die "Kapuzinergruft" auch erst viele Jahre nach dem "Radetzkymarsch" gelesen.

    :study: Kathrin Schmidt - Du stirbst nicht

    :study: Robert Macfarlane - Im Unterland

    :study: Brian Flynn - Die Morde von Mapleton












  • Zum Buch an sich gibt es nicht viel zu sagen, da könnte ich auch nur die Rezension von 2010 wiederholen. Lapidar könnte man zusammen fassen: man ist immer schlauer und besser als die anderen, solange man niemanden schlaueren und besseren trifft. Aber das zu begreifen ist Lohse ein zu kleines Licht - zumindest, was deine intellektuellen Kapazitäten angeht.
    Beängstigend ist an diesem Werk in der Tat sein Erscheinungsdatum. So viel zum Thema "Das hat ja keiner ahnen können" :shock:

  • Viel hinzufügen kann ich nicht, eigentlich nur sehr gerne den Fred einfach nochmals hochschieben. Vielleicht kann man noch jemanden hier neu hinzugewinnen zur Leserschaft?


    Was mir bei unserem aufstrebenden Helden aufgefallen ist sind die Gegenbewegungen: Klaro will er "hoch hinaus" und an die Macht, giert, dabei zu sein. Dennoch: immer wieder das Zurückfallen in eine ihm eigene Mittelmäßigkeit. Ihr kann er letztlich doch nicht entkommen, trotz aller Gewaltäußerungen.


    Absolut unglaublich, in welchem Jahr das Buch herausgekommen ist...

  • Das erste Buch, das ich von Joseph Roth gelesen habe, war Hiob. Danach habe ich nach und nach alles andere auch gelesen. Und meine Begeisterung hat nicht nachgelassen. Er war ein Visionär, nichts war ihm verborgen. Das macht kein Leben leicht und schon gar nicht in der Zeit, die seine war.

    So gesehen bin ich keine neu hinzugewonnene Leserin ! Aber eine begeisterte.

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous

  • Ich weiß ja nicht wieso, aber im Zusammenhang mit Joseph Roth ist mir eingefallen, dass man vielleicht auch Jakob Wassermann wieder mehr ans Licht holen könnte. Von ihm habe ich Der Fall Maurizius und Caspar Hauser gelesen. Beide ziemlich gut. War er auch so ein arger Alkoholiker, oder habe ich das falsch in Erinnerung.

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous

  • Ich bin ja mittlerweile ein grosser Fan von Joseph Roth, und auch dieses schmale Werk ist beeindruckend. Dennoch hat es mir von den bislang gelesenen Stücken am wenigsten gefallen. Der bereits erwähnte Satzrythmus in kurzen Kapiteln, diese stakkatohafte "Marschmusik zum Morden" wie musikzimmer es nannte, hatte mich nicht sonderlich eingenommen. Ich hatte zuvor "Hiob" und ein paar spätere Bücher von ihm gelesen, und dort war die Sprache eine ganz andere.

    Mir scheint es hier, dass Roth den Text nicht mehrmals überarbeitet hat und die Wirkung der einzelnen Worte, die Formulierungen, die Satzrythmik so belassen hatte, wie es ihm beim Schreiben in den Sinn kam. Es ist ja auch ein Text, der ursprünglich als Fortsetzungsroman in der Wiener Arbeiterzeitung erschien und eigentlich gar nicht zu Ende verfasst wurde.

    Natürlich ist es beeindruckend, wie klar und deutlich Roth hier die Gesellschaft skizziert, diesen Menschenschlag, der ehrgeizig ist, über Leichen geht, der Neid, Antisemitismus - das alles klar formuliert Ende 1923. Das kannte ich aber auch schon aus seinen Briefen.


    Zusammenfassend würde ich sagen, dass auch ein schwächeres Werk von Joseph Roth Jammern auf hohem Niveau ist, aber generell doch eher etwas für Fans von ihm, die noch nicht alles gelesen haben; zum Einstieg empfehle ich dann doch eher Hiob oder den Radetzkymarsch...