Hans Sahl: Die Gedichte

  • ...was sonst jeder Beschreibung spottet


    "Ein Mann, den manche für weise
    hielten, erklärte, nach Auschwitz
    wäre kein Gedicht mehr möglich.
    Der weise Mann scheint
    keine hohe Meinung
    von Gedichten gehabt zu haben -
    als wären es Seelentröster
    für empfindsame Buchhalter
    oder bemalte Butzenscheiben,
    durch die man die Welt sieht.
    Wir glauben, dass Gedichte
    überhaupt erst jetzt wieder möglich
    geworden sind, insofern nämlich als
    nur im Gedicht sich sagen lässt,
    was sonst
    jeder Beschreibung spottet."


    Hans Sahl, der Autor dieses Gedichtes «Memo», schrieb so in seinem zweiten zu Lebzeiten eigenhändig redigierten Lyrik-Band «Wir sind die Letzten» (1933-1975). Und die Zeilen fokussieren programmatisch, was mit Sahl einer der fruchtbarsten und zugleich am wenigsten bekannten Exil- und Nachkriegs-Lyriker deutscher Sprache zu sagen hatte. Sein lyrisches Schaffen legt nun der Luchterhand Verlag in einer Gesamtausgabe «Die Gedichte» vor – und dokumentiert damit erstmals vollständig eine Lyriker-Stimme von hoher Intensität und Authentizität.
    Es scheint, als wäre diesem Schriftsteller, Übersetzer, Theaterkritiker und Kulturkorrespondent einfach alles zu Lyrik geronnen, was an Biographischem zugestoßen ist – Poesie als lebenslängliche Konstante.
    Schon 1926 schreibt der 24-Jährige:

    Dann Jahre später, 1943 in New York, als Geflüchteter:

    Schließlich 1973 der zurückgekehrte Mahnende:

    Und endlich ganz zum Schluss, ungefähr ein Jahr vor seinem Tod:

    Zitat

    "Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
    in eine Zukunft jenseits aller Sterne
    und was ich war und bin und immer bleiben werde
    geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
    als wäre ich nie gewesen oder kaum."

    Nein, Formalismus, Hermetik, abstrakte Ästhetik oder besondere Artistik ist dem Schaffen dieses zeitlebens moralisch wie politisch hochbeteiligten Bekenntnis-Lyrikers nicht zuzuordnen. Wohl aber bilderreichste, fast sinnlich greifbare Metaphorik – und immer seine Omnipräsenz der Aufrichtigkeit und der Unbestechlichkeit. -


    Schicksal, Liebe, Nacht, Gott, Ich, Zeit, Herz, Lust, Tod – solche Jahrtausende alt-mächtigen Wörter auch am Ende des katastrophalen 20. Jahrhunderts noch mitten in den Lauf der eigenen und aller Dinge zu stellen scheute sich Sahl nie; er wusste um ihre Wirkung aus dem Munde eines Dichters, der sie hautnaher als die meisten zu spüren bekommen hatte. -


    Frühjahr 1933: In allen Städten verbrennt Deutschland die Werke seiner besten Dichter und Denker. Der 31-jährige Sahl muss, als Sohn eines jüdischen Industriellen in Dresden geboren, vor der Hitlerei fliehen – auf einem Fluchtweg, den so mancher Emigrant vor ihm schon gegangen war: Frankreich, Portugal, dann an die amerikanische Ostküste, nach New York. Hier entstehen – und werden gar gedruckt! – seine «Hellen Nächte», der Lyrik-Erstling. Er erscheint allerdings erst 1942, aufgrund des überzeugten Verlegers Barthold Fles – da ist Autor Sahl (bis anhin «nur» Kulturkorrespondent, Feuilletonist und Kurzprosaist) bereits ein 40-jähriger, doch nahezu unbekannter Literat. Ungeachtet der misslichen Situation der Publikationsmöglichkeit für Lyrik in Amerika schreibt und schreibt Sahl jedoch weiter, einfach für die Schublade, Gedicht an Gedicht, zum Beispiel:

    Gleichzeitig ist der Dichter Sahl ein bedeutender Übersetzer, widmet sich vielbeachtet insbesondere den Amerikanern Maxwell Anderson, Arthur Miller, Thornton Wilder und Tennessee Williams. Schließlich geht er 1953 nach Deutschland zurück – wo der Sozialist Sahl im rechtskonservativen Adenauer-Klima, aber auch wegen Zerwürfnissen mit linksideologisch Bornierten zu einer literarischen Unperson wird, von der das kulturelle Europa keinerlei Notiz nimmt. Sahl ist abermals Emigrant, diesmal im eigenen Land. Wie hatte er damals in «Marseille III» geklagt?

    Erneut flieht Sahl, diesmal nicht ums Leben bangend, sondern enttäuscht über die Ignoranz des Literaturbetriebes der frühen 50-er Jahre links wie rechts, geht 1953 zum zweiten Mal in die USA, wo Gedichte entstehen wie:

    1989 kehrt schließlich der in jeder Beziehung ewige Exilant endgültig in sein Geburtsland zurück, wo er inzwischen erkannt und bekannt wurde. Doch der Ton des nun 87-jährigen Dichters ist bitter und mischt sich mit Angriffslust. «Zu spät», antwortet der Zurückgekehrte auf die Bemerkung, dass mittlerweile doch eine Wiederentdeckung des Vergessenen stattgefunden habe – und in seinen Zeilen «Exil» heißt es:

    Zitat

    "Es ist so gar nichts mehr dazu zu sagen.

    Der Staub verweht.
    Ich habe meinen Kragen hochgeschlagen.
    Es ist schon spät.

    Die Winde kreischt. Sie haben ihn begraben.
    Es ist so gar nichts mehr dazu zu sagen.
    Zu spät."

    Das kulturoffizielle Deutschland ehrt zu schlechter Letzt den Heimgekehrten mit verschiedenen Auszeichnungen, u.a. 1982 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und in seinem Todesjahr mit dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen. Doch angekommen in einem allgemeinen literarischen Bewusstsein oder gar im Deutschunterricht ist er als einer der wichtigsten Lyriker der Nachkriegszeit noch immer nicht.

    In dieser Situation leistet das nun vorliegende, umfassende lyrische Sahl-Kompendium wertvollste Mitarbeit. Der Band weist Hans Sahl aus als einen hochsensiblen Stenographen eines ganzen Jahrhunderts, als einen, der gezwungen war, künstlerisch mitzuschreiben bei all dem vielen, auch vielen Ungeheuerlichen, das in seine Zeit fiel. Bleibt zu hoffen, dass diese Edition der beiden Herausgeber Nils Kern und Klaus Siblewski eine – endlich – breite Sahl-Rehabilitation einläutet.


    Hans Sahl, Die Gedichte, Luchterhand Verlag , 336 Seiten, ISBN 978-3-630-87288-9