Xinran Xue - Gerettete Worte. Reise zu Chinas verlorener Generation

  • Klappentext:


    Die anerkannte Journalistin Xinran reiste 2006 quer durch ihre Heimat China, um die Generation der heute Siebzig- bis Fünfundachtzigjährigen zum reden zu bringen. In Städten und entlegenen Dörfern traf sie Menschen aus allen Schichten, befragte Taxifahrer, ein Kräuterweib, Regierungsbeamte, sogar einen Banditen zu all den enormen politischen Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts, denen sie ausgesetzt waren. Auch wenn viele unter ihnen Repressionen befürchteten, so sprachen sie doch mit beeindruckender Öffenheit über ihre Hoffnungen, Ängste und Kämpfe, die sie ihr Leben lang bis zum heutigen Tag auszufechten hatten. Zum ersten Mal finden sie hier Gehör. Aus all diesen Stimmen ist ein komplexes Bild dieser Generation entstanden, die bisher geschwiegen hat, entstanden. Xinran will es retten: für diese Generation selbst, für die jüngeren Chinesen, die das Verdienst ihrer Großväter und Urgroßväter nicht sehen wollen, und für das Land China.

    Eigene Beurteilung:


    Xinran stellt die Sprachlosigkeit zwischen den chinesischen Generationen sehr ausführlich und eindringlich dar und zeigt damit mehr über die verschiedenen Ausprägungen des chinesischen Bewusstseins – falls es so etwas in einem Milliardenvolk überhaupt geben kann – als viele Chinaratgeber,. Dies wird angereichert durch eigene Überlegungen zu verschiedenen hier aufgeworfenen Aspekten, so wie mit eigenen Betrachtungen verschwindender Kulturgüter, wie die Tigeröfen. Dabei ist sie sehr nationalistisch in ihrer Grundhaltung und verteidigt Vieles in ihrem Heimatland bis aufs metaphorische Messer – genau wie die meisten ihrer Gesprächspartner, die in ihrer Vergangenheit wirklich schreckliche Dinge erdulden mussten . Dinge, die ihre eigenen Kinder und Enkel oft gar nicht wissen und die sie ihnen eventuell auch gar nicht glauben würden.

    Eine insgesamt nicht immer leicht zu lesende Betrachtung des heutigen Chinas und des Weges, den es in den letzten einhundert Jahren zurückgelegt hat. Und die sich gegen einfache westlich geprägte Deutungen des Gelesenen deutlich sperrt. Dieses Buch ist in erster Linie für Leserinnen und Leser geeignet, die tiefer in die psychologische Struktur des heutigen Chinas eindringen wollen.

  • Danke für die Rezension! Klingt sehr interessant das Buch, ich werde es mal auf meine Wunschliste setzen, um es im Hinterkopf zu behalten.
    Hab von der Autorin noch "Die namenlosen Töchter" ungelesen im Regal stehen.
    Setzen sie und die Menschen, die sie befragt hat, sich denn in diesem Buch auch kritisch mit ihrem Heimatland auseinander? Klingt nicht wirklich so.

    "Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont."
    Konrad Adenauer


    :study: Ashley Audrain - Der Verdacht











  • "[quote][/Danke für die Rezension! Klingt sehr interessant das Buch, ich werde es mal auf meine Wunschliste setzen, um es im Hinterkopf zu behalten.
    Hab von der Autorin noch "Die namenlosen Töchter" ungelesen im Regal stehen.
    Setzen sie und die Menschen, die sie befragt hat, sich denn in diesem Buch auch kritisch mit ihrem Heimatland auseinander? Klingt nicht wirklich so.quote]"


    Ich denke schon,dass sich die Menschen kritisch mit ihrem Heimatland auseinandersetzen.Da es keine Redefreiheit gibt,wird man einer chinesischen Journalistin gegenueber natuerlich seine Worte waehlen.Auslaendern gegenueber sind Chinesen jedoch oft von ganz unverbluemter Offenheit,auch ueber Politik,ueber die ja nicht oeffentlich gesprochen werden kann,da sie"zu kompliziert"(gern gebrauchte Floskel) sei.Ich lebe seit mehr als 4 Jahren in China und treffe immer wieder Menschen,die gerne detaillierte Informationen ueber Gesellschaft,Politik,Kultur und mehr austauschen.

  • Momentan lebe ich in der Provinz Guangdong,davor in Jiangsu.Habe in Nanjing an einer Medienuni unterrichtet,da hiess es immer:Lasst uns nicht ueber Politik reden,das ist zu kompliziert.Studenten,die von einem finnischen Journalisten interviewt wurden,wurden vorher von einem Offiziellen der KP instruiert,was sie zu antworten haetten.Es ging dabei um die Tibetaufstaende im Jahr 2008.Ich habe aber auch Leute getroffen,die mir privat sehr detaillierte Dinge ueber Korruption,Unterdrueckung,Rechtsbeugung usw. erzaehlt haben.Man muss natuerlich vorher ein Vertrauensverhaeltnis aufgebaut haben.

  • Die Autorin

    Die chinesische Journalistin und Radio-Moderatorin ist 1958 geboren und Autorin der Bücher Verborgene Stimmen, Himmelsbegräbnis, Chinesen spielen kein Mao-Mao, Die namenlosen Töchter, die sich mit der Situation chinesischer Frauen auseinandersetzen.


    Inhalt

    Die chinesische Journalistin Xinran reist quer durch China, von Guilin im Süden bis nach Urumqi in der nordöstlichen Provinz Xinjiang, um hochbetagte Chinesen (im Alter zwischen 70 und 80) zu interviewen. Mit diesem ehrgeizigen Projekt will sie Zeugnisse der chinesischen Kultur und Geschichte dokumentieren, ehe sie in Vergessenheit geraten können. Xinran fühlt sich verantwortlich dafür, dass die Erinnerungen ihrer Gesprächspartner für die folgenden Generationen bewahrt werden. Eine chinesische Eigenheit, die uns Westlern sehr fremd ist, steht Xinrans Plänen im Weg: Chinesen reden nicht gern über sich und beantworten erst recht nicht gern direkte Fragen. Die Geschichte (besonders die Mao-Zeit) hat die Menschen gelehrt, dass Worte nur Unglück bringen und anderen schneller Schwierigkeiten bereiten können als man selbst ahnt. Xinran lebt inzwischen im Ausland, beherrscht jedoch noch immer die chinesische Kunst, sich einem Thema allmählich vom Unwichtigen zum Wichtigen zu nähern. Sehr einfühlsam lässt sie ihre Kontaktpersonen zunächst über Kinder und Enkel oder die landestypischen Gerichte plaudern, ehe sie ihnen direktere Fragen stellt.


    Frau You arbeitete in den 50ern des vorigen Jahrhunderts als Ingenieurin in einem Prospektionstrupp, der nach Erdöl in der Wüste Gobi suchte. Ihre lebendigen Berichte lassen ahnen, wie hart das Leben im extremen Wüstenklima war und wie hart es noch heute für ihre Familie ist, dass die vier Kinder bei den Großeltern aufwachsen mussten. Für uns scheint es unvorstellbar, dass Frau You ihre Eltern 10 Jahre lang nicht gesehen hat. Herr You bewertet die Mao-Zeit sehr treffend: das Scheitern Maos sieht er in mangelhaften Wirtschafts-Kenntnissen und dem fehlenden Respekt für den einzelnen Menschen begründet. Leider beendet die Autorin das Gespräch mit Herrn You gerade in dem Moment, als es interessant wird.


    Mit Herrn Wu, dem Neuigkeiten-Sänger aus dem Teehaus, sowie den Papierlaternenmachern Li und den Brüdern Huadeng lernen wir Vertreter aussterbender Berufe kennen. Bis vor 15 Jahren hat Herr Wu täglich Nachrichten im Teehaus seiner Heimatstadt verkündet, weil bis in die 90er Jahre dort noch kaum jemand lesen und schreiben konnte. Die traditionsbewussten Papierlaternenmacher stehen stellvertretend für alle Verlierer des wirtschaftlichen Wandels in China. Mit ihrem Handwerk konnten sie sich seit der Mao-Zeit kaum selbst ernähren, weil traditionelle Handwerkskunst nicht geschätzt wurde. Die Laternenmacher betonen ihre persönliche Enttäuschung und interessieren sich weniger für die Gründe der Entwicklung. Xinran respektiert das und dringt nicht weiter in die Männer. Dass die Zerstörung von Kulturgütern eine politische Entscheidung ist und Achtung vor der Geschichte des Heimatlandes zu lehren, eine Aufgabe des chinesischen Bildungssystems wäre, erläutert die Autorin leider nicht.


    Ein Rotarmist, der Maos Truppen auf dem langen Marsch folgte, eine Lehrerin, ein Mann, der seine kranke Frau seit Jahren zu Hause pflegt, ein Ehepaar, das sein Glück erst im fortgeschritten Alter fand, eine Akrobatin und eine Schuhmacherin, die ihren Stand auf der Straße hat, geben ein sehr lebendiges Bild vom Leben der Menschen in China.


    Xinran vermittelt uns ein anschauliches Bild vom Leben zwanzig außergewöhnlich tatkräftiger, gehorsamer und leidensfähiger Chinesen und Chinesinnen. Sie lebten und arbeiteten in bitterer Armut als unter Mao ganze Generationen, getrennt vom Ehepartner und den Kindern, als menschliche Masse verheizt wurden. Allen Interviewpartnern ist eine große Dankbarkeit gemeinsam, dass sie die schweren Zeiten überlebt haben und sich heute am Aufwachsen ihrer Enkelkinder freuen können. Die Altersmilde, die alle Gesprächspartner Xinrans zeigen, würde wohl auch in anderen Kulturen zu finden sein. Charakteristisch für China ist der Gleichmut, mit dem Ehepartner hinnehmen, dass sie über Jahrzehnte vom Partner getrennt leben mussten und ihre Kinder nicht selbst erziehen konnten. Dass viele dieser elternlos aufgewachsenen Kinder ihren Eltern die Trennung noch heute unbewusst vorwerfen, daran rührt man in China nicht gern. Als westliche Leserin hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin ausführlicher darauf eingeht, wie das mangelnde Vorbild durch die eigenen Eltern und die Unfähigkeit über Gefühle zu sprechen, sich über mehrere Generationen noch bis in die Gegenwart auf die Erziehung von chinesischen Kindern auswirkt.


    In den Gesprächen wird deutlich, wie stark die chinesische Kultur durch die Abwesenheit einer allgemeingültigen Ethik geprägt wird, wie sie zum Beispiel eine Staatsreligion vermitteln würde. Die Definition von Gut und Böse wurde von der Partei vorgenommen und wechselte, je nachdem welche Machthaber gerade herrschten. Ein eigenes Urteilvermögen ist für die Menschen unter diesen Bedingungen eher hinderlich. Hier schließt sich der Kreis und wir begreifen die Zurückhaltung der Interviewpartner, über das eigene Leben zu sprechen. Dass auch im Jahr 2006 noch viele Chinesen große Bedenken haben, Angehörigen zu schaden, zeigt wie nötig Xinrans Tätigkeit ist.


    Fazit

    Xinran respektiert, wenn die Menschen die Fassade wahren und nicht an schmerzliche Erinnerungen rühren möchten. Leider bricht sie die Interviews häufig im entscheidenden Moment ab und vergibt so die Chance, ihren Lesern die Hintergründe zu verdeutlichen. So muss man erst 400 Seiten lesen, ehe überhaupt eine kritische Bemerkung fällt, obwohl einige Interviewpartner die Zusammenhänge durchschauen. Eine Antwort auf die Frage, ob die Chinesen aus ihrer Geschichte gelernt haben, erhält in Xinrans Buch nur, wer sich bereits mit dem Thema China beschäftigt hat. Die Analyse der Interviews findet sich in Xinrans Nachwort, fällt für meinen Geschmack jedoch sehr knapp aus. Obwohl der gleichförmige Ablauf der Interviews das flüssige Lesen behindert, haben mich die ungewöhnlichen Einzelschicksale stark berührt.


    (9.2.2010)


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