Irène Némirovsky - Der Ball / Le bal

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Verblüffend aufrühreri.Blick auf Eltern-Kind-Beziehungen.Scharf beobachtetes Neureichenmilieu.Der Schluss ist ganz groß!
  • Der Klappentext:
    Paris 1926. Das Ehepaar Kampf plant einen großen Ball, der ihren Aufstieg in die feine Pariser Gesellschaft besiegeln soll. Seit die Familie unerwartet zu Reichtum gekommen ist, will Madame ihr Leben endlich in vollen Zügen genießen. Ihre halbwüchsige Tochter, die lebenshungrige 14-jährige Antoinette, ist ihr dabei nur im Weg. Sie darf an dem großen Fest nicht teilnehmen. Antoinette grollt ihren Eltern, bis sich plötzlich die Gelegenheit zur subtilen Rache auftut … (btb)


    Die Autorin:
    Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zu marschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als „Suite française“ veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde. (btb)


    Meine Meinung:
    Paris Ende der 1920er Jahre: Eine kleinbürgerliche Familie mit jüdischer Abstammung ist durch Börsenspekulationen sehr schnell zu sehr viel Geld gekommen. Die 14-jährige Tochter empfindet den Reichtum eher als Belastung denn als Segen. Während der Vater vornehmlich um gesellschaftlicher Anerkennung ringt, sehnt sich die Mutter nach der Süße des Lebens und Aufnahme in die gehobenen Kreise. Ein großer Ball soll ausgerichtet werden. Doch als die Tochter um Teilnahme an diesem Ball bittet, um sich als Teil der Familie zu fühlen, empfindet die Mutter sie als Kontrahentin und schließt sie kategorisch aus. Durch Zufall ergibt sich ihr jedoch die Möglichkeit schmerzlicher Rache.


    Irène Némirovsky beschreibt in diesem szenischen Sittengemälde auf eindrucksvolle Weise, wie sich durch plötzlichen Reichtum eine Familie von sich selbst entfremdet. Eine Familienvater, dem das Geldverdienen der einzige Lebensinhalt zu sein scheint. Eine Mutter, die sich, am Ziel ihre Träume angekommen, endlich ausleben möchte. Und eine pubertierende Tochter, die in ihrer Suche nach Halt, Weisung und Liebe nichts von allem erhält, doch erfährt, wie machtvoll die Rache sein kann.
    Die Autorin hält der feinen Pariser Gesellschaft, speziell den Neureichen, mit viel Ironie den Spiegel vor. Auf die Spitze getrieben und in seinen Auswüchsen pervertiert wird die ganze Dekadenz in den spitzen Dialogen, wenn die Handelnden gar nicht so schnell ihre Gedanken umkehren können, um sie ihren Gegenüber mit feinen Worten mitzuteilen. Auch wenn die mögliche Auflösung schnell auf der Hand liegt, es ist ein Genuss die Auswirkungen zu lesen. Dafür entschädigt eine feine und auf den Punkt gebrachte Sprache.
    Ein bitterer Beigeschmack bleibt jedoch, dass die jüdische Autorin Mitte der 1920er bis in die 1930er Jahre hinein auch mit dieser Novelle dem Antisemitismus unfreiwillig Schützenhilfe geleistet hat. Hat sie aus ihrem eigenen Umfeld heraus begründet ihren Geschichte Akteure mit jüdischem Hintergrund gegeben, so wurde dieses Bild eines reich gewordenen Kleinbürgers für die Nazis eine willkommene Schilderung des raffgierigen Juden an sich. Die Autorin erkannte bereits Mitte der 1930er Jahre das Wesen des Nationalsozialismus und bedauerte, ihren Büchern diese überspitzten Charaktere gegeben zu haben. Irène Némirovsky starb 1942 an Typhus erkrankt in Auschwitz.


    Eine ironische kleine Geschichte für einen entspannten Nachmittag, wenn auch mit bitterem Beigeschmack.

    Shalom, kfir


    :study: Joe Hill - Teufelszeug
    :thumleft: Farin Urlaub - Indien & Bhutan - Unterwegs 1 #2533 signiert


    "Scheiss' dir nix, dann feit dir nix!"

  • Sehr empfehlenswert finde ich auch das zugehörige Hörbuch aus der Brigitte-Edition, gelesen von Nina Hoss.

  • Nach "Herbstfliegen" und "Die Familie Hardelot" habe ich nun eine dritte Geschichte von Irène Némirovsky gelesen, und bin einmal mehr begeistert. Nicht einmal 100 Seiten lang ist die Geschichte (dank des Nachworts der Übersetzerin Claudia Kalscheuer und Werbung umfasst das Buch 112 Seiten) - schade, denn ich hätte so gerne mehr von dieser unsympathischen Familie gelesen, und wie es nach diesem Abend mit ihnen weiterging. Eine dreiköpfige Familie, in der jeder sich selbst der nächste ist, auf Reichtum, Ruhm und Anerkennung durch "die höhere Gesellschaft" hofft - und das so humorvoll, entlarvend, ironisch dargestellt, dass es einfach eine kurzweilige Lektüre ist. Okay, die Geschichte ist ab der zweiten Hälfte etwas vorhersehbar, und der vermutlich spontane "Streich" auch etwas zu geglückt, aber unterhaltsam und bissig ist die Geschichte dennoch. Ein empfehlenswerte Geschichte, die man an einem sommerlichen nachmittag prima genießen kann.


    Ach ja: die französische Originalausgabe heisst "Le bal"

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Irène Némirovsky - Der Ball“ zu „Irène Némirovsky - Der Ball / Le bal“ geändert.
  • mehr von dieser unsympathischen Familie

    Némirovskys Bücher wimmeln von unsympathischen Familien. Hier ein weiteres nettes Exemplar dieser Gattung. Es ist allerdings nicht so ironisch wie "Der Ball". Aber im Mittelpunkt steht auch hier das gegenseitige Zerfleischen von Mutter und Tochter.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Aber im Mittelpunkt steht auch hier das gegenseitige Zerfleischen von Mutter und Tochter.

    bei einer derart "liebevollen" Mutter, wie sie Irène Némirovsky hatte, wundert mich das nicht.