Anna Katharina Hahn - Kürzere Tage

  • Kurzbeschreibung (amazon)
    Marco wohnt im Hochhaus an der Hauptstraße. Von hier ist es nicht weit bis zum Olgaeck, und hinter dem Olgaeck liegt die Constantinstraße, wo die Altbauten unter Denkmalschutz stehen und die Äpfel beim türkischen Feinkosthändler teurer sind als im Hauptbahnhof. Hier wohnen die Aufsteiger, Übermütter und ihre wohlerzogenen Kinder. Hier scheint alles in Ordnung - wenn man nicht vom Supermarkt ins Büro und vom Büro in den Kindergarten hetzt, so wie Leonie, wenn man nicht am Doppelleben als Karrierefrau und Mutter verzweifelt. Judith findet Halt in der Anthroposophie. Hingebungsvoll pflegt sie den Jahreszeitentisch für ihre Kleinen. Doch nachts helfen nur Tabletten gegen die Angst. Im Nebenhaus wohnen die alten Posselts. Sie haben geschafft, wovon die Enkelgeneration nur träumt, nämlich ein Leben lang zusammenzubleiben. Da versetzt Marco die Nachbarschaft in Aufruhr. Kürzere Tage ist eine wortmächtige Bestandsaufnahme und eine melancholische Abrechnung mit einer Gesellschaft, in der alle Werte fragwürdig geworden sind.


    Die Autorin
    Anna Katharina Hahn begann, nachdem sie 1990 in Stuttgart die Reifeprüfung abgelegt hatte, ein Studium der Germanistik, Anglistik und Volkskunde an der Universität Hamburg, das sie 1995 mit dem Magistergrad abschloss. Von 1996 bis 2001 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bibel-Archiv und in der Handschriftenabteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg tätig. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu spätmittelalterlichen Historienbibeln publizierte sie literarische Texte in Zeitschriften und Anthologien sowie zwei Bände mit Erzählungen. 2004 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Sie lebt heute mit ihrer Familie in Stuttgart.
    Anna Katharina Hahn erhielt 1999 den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg, 2005 den Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg sowie 2006 ein Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg.
    Werke: * Der Codex 8 in Scrinio der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (1995), Sommerloch (2000), Kavaliersdelikt (2004), Kürzere Tage (2009) (Quelle: Wikipedia)


    Meine Meinung:
    Die beiden Hauptprotagonisten - Judith und Leonie - wohnen in Stuttgart.
    Judith ist mit Klaus verheiratet, hat zwei Kinder und ist Hausfrau. Sie hat sich der Anthroposophie zugewandt, ihre Kinder werden entsprechend erzogen. Ihr Mann kommt abends nach Hause, ist für sie da. Gegen Langeweile helfen Judith Zigaretten und heimliche Tabletteneinnahme.
    Judith ist zwar mit einem "Langweiler" verheiratet - Sex mit ihm ähnlich wie "Schwimmen am Warmbadetag" - aber Klaus verkörpert Zuverlässigkeit, Sicherheit und Geborgenheit. Trotzdem denkt Judith hin und wieder an ihren Exfreund Sören, den sie zu Zeiten ihres Studiums der Kunstgeschichte hatte.
    Leonie scheint da mehr zu leiden, da sie doch oft alleine da steht und in Judiths Familie eine Idylle sieht.
    Leonie ist ebenfalls verheiratet (mit Simon) und hat auch zwei Kinder - aber sie ist berufstätig. Ihr Mann kommt abends so spät nach Hause, dass er keine Zeit hat für ihre Kinder und auch nicht für Leonie.
    Beide kaufen in dem türkischen Laden um die Ecke ein.
    Nebenpersonen sind Marco, ein vernachlässigter Junge aus ärmlichen Verhältnissen und das alte Ehepaar Posselt.
    Marco, der von seinem Stiefvater wegen jeder Kleinigkeit verprügelt wird und von seiner Mutter keine Hilfe erwarten kann, will abhauen.
    Hahn beschreibt eine Welt zwischen arm und reich, agressiv und harmonisch - sowohl Judith, als auch Leonie denken über ihren Lebensentwurf nach.
    Die Protagonisten haben untereinander wenig gemeinsam, begegnen sich aber beiläufig und zwischen Judith und Leonie kommt es auch mal zu einer Unterhaltung.
    Sehr rührend fand ich die Geschichte des alten Ehepaars Posselt, ihre Perspektive und ihr Erinnern an das Kennenlernen ihres Mannes.
    Wenige kurze Szenen, die man aus der Sicht Judiths kennengelernt hat, wiederholen sich aus Frau Posselts Sicht.
    Ein durchaus lesenswertes Buch, auch wenn sich Hahn ein wenig der Klischees bedient.
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  • Hallo Conor,
    ich habe gerade eben erst das Buch gelesen und hatte mir überlegt, dass es meine Rezensionspremiere werden sollte. Dann habe ich aber gesehen, dass du schon eine schöne Rezension geschrieben hast.


    Dazu möchte ich noch hinzufügen, dass es der Autorin hervorragend gelingt, das Gefühl der beschriebenen "Mittdreißiger-Akademiker-Generation" einzufangen.
    Diese Generation hat es so gut gehabt wie wahrscheinlch keine Generation zuvor, wurde sozusagen von Geburt an in Watte gepackt, hat durch gute Schulbildung und anschließendes Studium vielleicht das eine oder andere (unbezahlte) Praktikum gemacht, aber nie wirklich existenziell bedrohende Situationen erlebt. Natürlich wissen diese Mittdreißiger durchaus, dass es "asoziale" Leute gibt wie Marcos Famiie, aber einen wirklichen Kontakt und ein wirkliches Erleben, was dies in der Realität bedeutet, gab es nie in ihrem Leben zuvor. Deshalb ist Marcos Aufruhr auch umso schockierender.



    Meine Meinung: sehr lesenwert!
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  • Sie wohnen in gegenüberliegenden Häusern in einem besseren Stuttgarter Viertel, Judith und Leonie, beide Mütter zweier Kinder, beide so ungefähr im gleichen Alter, beide gefangen in einem Familienalltag, hinter dem sie eigentlich nicht hundertprozentig stehen, in Rollen, die sie glauben spielen zu müssen, obwohl es ihrem Naturell gar nicht so recht entspricht, doch das Umfeld, der Partner, die Familie erwartet es nun mal so.


    Judith hatte eine eher wilde Jugend- und Studentenzeit, nun ist sie das krasse Gegenteil - eine von Biolebensmitteln, Naturmedizin und Waldorfpädagogik überzeugte Mutter, die ihre beiden Söhne auf die sanfte anthroposophische Art zu erziehen geschworen hat. Leonie ist nach der Geburt ihrer Töchter schnell wieder ins Berufsleben eingestiegen, teils auch, um den Lebensstil mitfinanzieren zu können, mit dem ihr Ehemann den gesellschaftlichen Aufstieg aus der Unterschicht zelebriert, und ist hin- und hergerissen zwischen schlechtem Gewissen und dem Gefühl, dass sie den Job als kinderfreie "Oase" braucht.


    Das Buch spielt im Spätherbst, um Halloween herum, und durch die Straßen des schicken Viertels ziehen nicht nur Kinder auf Süßigkeitenjagd, sondern auch ein Trüppchen perspektivloser Jugendlicher aus schwierigen Verhältnissen, während das alte Ehepaar im Erdgeschoss von Judiths Haus sich mit dem Herbst des Lebens und all seinen Beschwerlichkeiten auseinandersetzen muss.


    Es ist einigermaßen schwer, das Buch zusammenzufassen. Größtenteils geschieht gar nichts Weltbewegendes, man erlebt Judiths und Leonies Alltag mit Kindern und Partnern, Nachbarn und Kindergartenpersonal, die kleinen Ärgernisse und Freuden, aber auch Bedauern und Wehmut beim Gedanken an vergangene Lebensabschnitte, Zweifel an ihrem heutigen Leben, das bei beiden nach außen hin doch so perfekt aussieht. Es ist auch interessant, wie sich die beiden, die sich nur vom Sehen kennen, gegenseitig beobachten und beneiden.


    Dies ist so lebensecht eingefangen, so glaubwürdig und eindringlich, so gut beobachtet, dass es trotz der eher alltäglichen Themen, in die sich dennoch auch etwas Dramatik mischt, überhaupt nicht langweilig wird. Der Schluss ist eher offen, so dass es den Lesern selbst überlassen bleibt, sich vorzustellen, wie es mit den Protagonisten weitergeht. Einerseits fand ich das etwas schade, andererseits aber auch passend. Fast wie in einer Kurzgeschichte werden wir unvermittelt in die Handlung hineingeworfen, beobachten die Figuren eine Weile, dann schließt sich das Guckfenster wieder. Sehr gelungen!


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Es freut mich, dass dir das Buch auch gefallen hat, Magdalena!
    Nächste Woche gehe ich zu einer Lesung der Autorin. Ich freue mich schon darauf! Ihren neuen Roman "Am schwarzen Berg" konnte ich ertauschen und will es in nächster Zeit lesen.

  • Selten habe ich den Umschlag eines Buches als so passend empfunden wie bei diesem. Bürgerliche Fassade, doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich kräftige Risse.
    Stuttgart, eine gut-bürgerliche Wohngegend. Hier wohnen die Gutverdiener, Familien bei denen die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Judith, verheiratet mit Klaus, Universitätsprof, zwei Söhne, Nur-Hausfrau. Ihre Ängste versucht sie mit Tabletten sowie mithilfe der Anthroposophie in Griff zu bekommen - jedoch nur äußerlich erfolgreich. Leonie, berufstätig, verheiratet mit einem erfolgreichen Mann der mehr für seinen Beruf lebt und zwei kleinen Töchtern ist zerrissen zwischen der Liebe zu ihrem Job und dem Wunsch, mehr für ihre Familie dazusein. Insgeheim beneidet sie Judith um deren scheinbares Idyll. Daneben gibt es Marco, einen 13jährigen Jungen der typisch für die Unterschicht zu sein scheint. Große Klappe, Fehlzeiten in der Schule - doch in Wirklichkeit... Und es gibt Luise, seit über 60 Jahren mit demselben Mann verheiratet. Und noch immer voller Liebe füreinander.
    Die Autorin lässt abwechselnd immer eine andere ihrer Hauptpersonen zu Wort kommen. Durch den Wechsel der Zeiten mischt sie geschickt Gegenwart und Vergangenheit, so dass momentane Gedanken und Überlegungen direkt durch entsprechende Rückblicke begründet werden. Die beschriebenen Personen kommen einem auf diese Weise unerhört nahe.
    Für Stuttgart-KennerInnen ist das Buch noch zusätzlich ein Genuss: Es gibt eine Vielzahl von Wiedererkennungseffekten. Nicht-KennerInnen haben hingegen vielleicht gelegentlich ein Verständnisproblem. Beispielsweise wenn von einem Elefanten in der Wilhelma die Rede ist, ist der Stuttgarter Zoo gemeint. Aber das sollte der Lektüre keinen Abbruch tun, das Buch ist auf jeden Fall lesenswert.

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Judith und Leonie wohnen mit ihren Familien in gegenüberliegenden Häuser. Beider Leben unterscheiden sich grundlegend – während Judith Nur-Hausfrau ist, ihre Kinder einen Waldorf-Kindergarten besuchen und ihr Mann sich Zeit für die Familie nimmt, geht Leonie arbeiten, ihre Kinder besuchen den Kindergarten, in dem sie einen Platz bekommen haben, egal, wie das pädagogische Konzept aussieht, und ihr Mann schiebt eine Überstunde nach der anderen. Unter Judith lebt das Ehepaar Posselt, beide über 80 und immer noch glücklich miteinander. Im selben Viertel, aber unter ganz anderen Umständen, lebt Marco, knappe 13 Jahre alt, bei seiner alleinerziehenden Mutter und ihrem gewalttätigen Freund.


    Der Roman schaut hinter die Fassaden und lässt uns das Leben der Protagonisten hautnah miterleben. Das geht mitunter unter die Haut, macht nachdenklich und bleibt auch nach dem Lesen noch lange haften. Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen und hinter der Fassade sieht es oft ganz anders aus. Die Perspektiven der Erzählung wechseln, man erfährt viel über das bisherige Leben der Protagonisten und darüber, wie sie sich selbst sehen, und, da sie sich alle untereinander kennen, auch, wie jeder die Anderen wahrnimmt. Das ist sehr interessant und als Leser hinterfragt man womöglich eigene Gedankengänge.


    Mich hat der Roman mit jeder Seite mehr gepackt, ich bin regelrecht darin versunken und habe eine zunehmende Spannung empfunden. Dass der Roman dann sehr offen endet, empfand ich nur kurz als ärgerlich, immerhin gibt es mir so weitere Möglichkeiten nachzudenken.


    Mir hat es übrigens auch sehr gefallen, dass der Roman in Stuttgart spielt und man das sprachlich auch merken kann. Für jemand, der keine Beziehung zu diesem Ort oder der Gegend hat, könnte das aber etwas störend wirken. Anna Katharina Hahns Erzählstil, vor allem der Präsens, macht die Erzählung noch eindringlicher, ich habe teilweise fast atemlos gelesen. Das Coverbild, die Sprünge im Stuck, ist meiner Meinung nach sehr passend gewählt, das wird einem aber erst nach der Lektüre bewusst.


    Insgesamt ein Buch, das bei mir noch lange nachwirken wird und das ich gerne empfehlen. Wer einfach nur eine kurzweilige, unterhaltsame Lektüre sucht, ist hier aber wohl fehl am Platz.

  • Niemand wundert sich mehr über mich als ich selbst, dass ich diesem Buch nicht viel abgewinnen kann, denn Familiengeschichten gehören zu meinen bevorzugten Genres, und ich frage mich, warum ich Alltagserzählungen amerikanischer Autorinnen wie Anne Tyler, Elizabeth Strout oder Alice Hoffman stapelweise lesen kann, ohne dass sie mir langweilig werden, und wieso ich „Kürzere Tage“ eher nichtssagend finde. :-k


    Wenn man Klappentext und Buchbesprechungen glauben darf, geht es um verschiedene Lebensentwürfe und wie man / frau sich in dem zurecht findet, den sie gewählt hat oder in den sie gefallen ist, zufällig oder gezielt, und den sie jetzt auszufüllen hat.

    Zwei der Hauptpersonen, beide Mütter von zwei Kindern, beide ca. Mitte 30, scheinen in ein Leben geraten zu sein, dass nicht das eigene ist. Jedenfalls keins, das sie sich ausgesucht hätten. Das dumme ist nur: Sie standen vor Entscheidungen für oder gegen die Bürgerlichkeit, und haben es darauf angelegt, genau diesen Lebensweg einzuschlagen, den sie jetzt nur noch mit Tabletten oder Statussymbolen ertragen.


    Kein Problem, man kann sich irren in der Zukunftsplanung, weil man nicht weiß, wie es sich anfühlt, wenn aus Theorie Praxis wird. Aber die beiden Frauen bleiben bis zum Ende des Buches starr in sich und ihrem Alltag gefangen; die Autorin eröffnet ihnen keine Möglichkeit zur Entwicklung. Ihr Leben bleibt betulich und belanglos.


    Auch Marco, der Halbwüchsige, der von seinem Stiefvater Gewalt und von seiner Mutter Gleichgültigkeit erfährt, fällt eine Entscheidung, aber keine, die ihn froh und zufrieden macht, im Gegenteil.


    Einzig die alte Luise hebt sich vom Entscheidungs-Dilemma der anderen Personen ab. Ihr verdankt das Buch die bewegendsten Szenen, und sie ist diejenige, die dem Leser nahe kommt.


    Dennoch bleibt es für mich rätselhaft, dass ich keinen Zugang zu Handlung oder Figuren finden konnte.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • wieso ich „Kürzere Tage“ eher nichtssagend finde

    Hach wie schön, ich bin nicht alleine mit meinem Empfinden. Wir haben das Buch kurz nach Erscheinen mit meinen Bücherwürmern gelesen und mir ging es als einziger genauso wie Dir. Ich finde es total nichtssagend und überbewertet und konnte nichts damit anfangen. Die Begeisterung der anderen fand ich nicht nachvollziehbar. Nichts hat mich gepackt in diesem Buch, nichts gefesselt.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Nichts hat mich gepackt in diesem Buch, nichts gefesselt.

    Komisch, nicht wahr, wo wir doch beide Fans von Tyler und ihren Alltagsgeschichten sind. ?(

    Aber Tyler kann diese Alltagsgeschichten wunderbar unaufgeregt in einer Art erzählen, die mich tief in die Geschichten zieht - Katharina Hahn kann das für mich nicht, sie ist mir zu verkrampft. Das ist subjektiv, natürlich, aber zumindest geht es uns gleich. :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich mochte das Buch ja deutlich lieber als Ihr beide, Marie und Squirrel - aber ich kenne das Phänomen sowohl bei Büchern als auch bei der Musik. Da macht der eine Autor/Musiker im Grunde dasselbe wie der andere, aber beim einen berührt und packt es mich total und bringt in mir etwas zum Klingen, und beim anderen passiert ... wenig bis gar nichts in mir.