Der 95jährige Universitätsprofessor für Mathematik, Carl Jakob Candoris, lädt den Schriftsteller Sebastian Lukasser in seine Villa nach Lans bei Innsbruck ein, um ihm seine Lebenserinnerungen zu diktieren. Die Aufforderung kommt nicht von ungefähr, waren doch ihrer beider Leben für viele Jahre aufs engste miteinander verknüpft. Carl Candoris lernte Sebastians Vater, einen hochbegabten, aber glücklosen Jazzmusiker im Wien der Nachkriegszeit kennen. Durch seine Alkoholsucht geriet die Ehe der Lukassers immer wieder in schwere Krisen, und so lebte der 10jährige Sebastian auch für einige Zeit beim Ehepaar Candoris in Innsbruck. Bei seinem Besuch erzählt der väterliche Freund, dem nun 50jährigen, an einem Prostatakarzinom erkrankten Sebastian, von seinem ungarischen Großvater, dem ein berühmtes Handelshaus gehörte, von seinem Großonkel Hanns, der als mehrfacher Mörder zum Tode verurteilt wurde, von seinen Studentenjahren, seiner Liebe zur Mathematik und von seiner Ehe mit der Portugiesin Margarida, die über viele Jahre ein Verhältnis mit ihrem ehemaligen Verlobten unterhielt. Als Intermezzo eingeschoben sind immer wieder Sebastians Erzählungen, und da so manche Erinnerung beiden Männern gemeinsam ist, ergibt sich daraus ein interessantes Wechselspiel ihrer jeweiligen Sichtweisen. Eine dritte Erzählebene schließlich umfaßt die Gegenwart, die Zeit, die Carl und Sebastian im Haus in Lans verbringen. Der Alltag wird geprägt von des Professors körperlicher Hinfälligkeit und einem oft nicht zu verleugnendem Altersstarrsinn. Mit diesen schwierigen Bedingungen sieht sich der noch an seiner Krebserkrankung leidende Sebastian bei seinem Besuch konfrontiert.
Michael Köhlmeier gehört für mich zu den begnadeten Erzählern der Gegenwart, und diesen Eindruck fand ich mit dem vorliegenden Roman neuerlich bestätigt. Diese Erzählkunst ist es auch, die manch andere Schwachstelle ausgleicht, wie etwa die oft unübersichtliche zeitliche Strukturierung, die ein zügiges Lesen zeitweise verhinderte. So sorgte z. B. die Lebensgeschichte der Vorfahren beider Männer hin und wieder für Verwirrung, da einmal von den Eltern des einen und gleich darauf von den Großeltern des anderen die Rede ist, sodaß es mir - gerade nach einer Lesepause - nicht immer gelang, Verwechslungen zu vermeiden und ein Zurückblättern erforderlich machte. Auch die zeitlichen Sprünge von der fernsten in eine nähere Vergangenheit - und dies in rasantem Wechsel zwischen den beiden Protagonisten - erschienen mir manchmal zu abrupt und verwirrend, und ich hätte mir eine chronologischere Vorgehensweise gewünscht. Von diesem Mangel abgesehen, finde ich die Idee des Romanaufbaus jedoch sehr gelungen, doch wäre mir lieber gewesen, wenn Sebastian Lukasser - vor allem im zweiten Abschnitt des Buches -keine so dominante Rolle gespielt hätte, da mir persönlich die Figur des Carl Candoris als die interessantere erschien. Bewundernswert hingegen finde ich die Einfühlsamkeit, mit der der Autor den Kampf des Professors zwischen seinem gebrechlichen Körper und seinem wachen Geist, verbunden mit einer großen Willenskraft, schildert. So legt der alte Herr noch immer viel Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Auch wenn der Schmerz an manchen Tagen die Oberhand gewinnt und ihn zu einem weinerlichen, manchmal sogar gehässigen Kind werden läßt, kann er sich seine Würde bis zum Lebensende bewahren. Ebenso beeindruckend beschreibt Michael Köhlmeier die Krankheit Sebastian Lukassers, und die damit verbundenen Beschwerden und Unzulänglichkeiten, sodaß ich mich während des Lesens des öfteren fragte, wie dies ohne entsprechende persönliche Erfahrung so vortrefflich gelingen konnte. An dieser Stelle sei auch betont, welch großartiger Beobachter der Autor sein muss, um die unbedeutendsten alltäglichen Details so wahrnehmen zu können, dass der Leser meint, das Beschriebene tatsächlich vor seinem geistigen Auge zu sehen. Positiv aufgefallen ist mir auch, dass es keine großen, effektheischenden Familientragödien zu enthüllen gab, und der Leser sich auch nicht mit anderen Unwahrscheinlichkeiten konfrontiert sah. Der Roman besticht somit nicht nur durch seinen Stil, sondern auch durch seine weitgehend unspektakuläre Handlung, wodurch die Realitätsnähe noch stärker zur Geltung kommt. Als einziger Kritikpunkt bleibt tatsächlich nur der etwas konfuse zeitliche Ablauf. Für mich hat sich während der Lektüre auch nie die Frage erhoben, was der Autor seinen Lesern mit diesem Buche sagen wollte, weil hier große Erzählkunst ganz für sich spricht. Um einen Welt- oder Jahrhundertroman, wie man immer wieder lesen konnte, handelt es sich meiner Ansicht nach aber dennoch nicht; dazu fehlen Sprachgewalt und inhaltliche Dichte, aber ein "großer Wurf" ist Michael Köhlmeier mit seinem Werk auf jeden Fall gelungen.