Michael Köhlmeier - Abendland

  • Der 95jährige Universitätsprofessor für Mathematik, Carl Jakob Candoris, lädt den Schriftsteller Sebastian Lukasser in seine Villa nach Lans bei Innsbruck ein, um ihm seine Lebenserinnerungen zu diktieren. Die Aufforderung kommt nicht von ungefähr, waren doch ihrer beider Leben für viele Jahre aufs engste miteinander verknüpft. Carl Candoris lernte Sebastians Vater, einen hochbegabten, aber glücklosen Jazzmusiker im Wien der Nachkriegszeit kennen. Durch seine Alkoholsucht geriet die Ehe der Lukassers immer wieder in schwere Krisen, und so lebte der 10jährige Sebastian auch für einige Zeit beim Ehepaar Candoris in Innsbruck. Bei seinem Besuch erzählt der väterliche Freund, dem nun 50jährigen, an einem Prostatakarzinom erkrankten Sebastian, von seinem ungarischen Großvater, dem ein berühmtes Handelshaus gehörte, von seinem Großonkel Hanns, der als mehrfacher Mörder zum Tode verurteilt wurde, von seinen Studentenjahren, seiner Liebe zur Mathematik und von seiner Ehe mit der Portugiesin Margarida, die über viele Jahre ein Verhältnis mit ihrem ehemaligen Verlobten unterhielt. Als Intermezzo eingeschoben sind immer wieder Sebastians Erzählungen, und da so manche Erinnerung beiden Männern gemeinsam ist, ergibt sich daraus ein interessantes Wechselspiel ihrer jeweiligen Sichtweisen. Eine dritte Erzählebene schließlich umfaßt die Gegenwart, die Zeit, die Carl und Sebastian im Haus in Lans verbringen. Der Alltag wird geprägt von des Professors körperlicher Hinfälligkeit und einem oft nicht zu verleugnendem Altersstarrsinn. Mit diesen schwierigen Bedingungen sieht sich der noch an seiner Krebserkrankung leidende Sebastian bei seinem Besuch konfrontiert.


    Michael Köhlmeier gehört für mich zu den begnadeten Erzählern der Gegenwart, und diesen Eindruck fand ich mit dem vorliegenden Roman neuerlich bestätigt. Diese Erzählkunst ist es auch, die manch andere Schwachstelle ausgleicht, wie etwa die oft unübersichtliche zeitliche Strukturierung, die ein zügiges Lesen zeitweise verhinderte. So sorgte z. B. die Lebensgeschichte der Vorfahren beider Männer hin und wieder für Verwirrung, da einmal von den Eltern des einen und gleich darauf von den Großeltern des anderen die Rede ist, sodaß es mir - gerade nach einer Lesepause - nicht immer gelang, Verwechslungen zu vermeiden und ein Zurückblättern erforderlich machte. Auch die zeitlichen Sprünge von der fernsten in eine nähere Vergangenheit - und dies in rasantem Wechsel zwischen den beiden Protagonisten - erschienen mir manchmal zu abrupt und verwirrend, und ich hätte mir eine chronologischere Vorgehensweise gewünscht. Von diesem Mangel abgesehen, finde ich die Idee des Romanaufbaus jedoch sehr gelungen, doch wäre mir lieber gewesen, wenn Sebastian Lukasser - vor allem im zweiten Abschnitt des Buches -keine so dominante Rolle gespielt hätte, da mir persönlich die Figur des Carl Candoris als die interessantere erschien. Bewundernswert hingegen finde ich die Einfühlsamkeit, mit der der Autor den Kampf des Professors zwischen seinem gebrechlichen Körper und seinem wachen Geist, verbunden mit einer großen Willenskraft, schildert. So legt der alte Herr noch immer viel Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Auch wenn der Schmerz an manchen Tagen die Oberhand gewinnt und ihn zu einem weinerlichen, manchmal sogar gehässigen Kind werden läßt, kann er sich seine Würde bis zum Lebensende bewahren. Ebenso beeindruckend beschreibt Michael Köhlmeier die Krankheit Sebastian Lukassers, und die damit verbundenen Beschwerden und Unzulänglichkeiten, sodaß ich mich während des Lesens des öfteren fragte, wie dies ohne entsprechende persönliche Erfahrung so vortrefflich gelingen konnte. An dieser Stelle sei auch betont, welch großartiger Beobachter der Autor sein muss, um die unbedeutendsten alltäglichen Details so wahrnehmen zu können, dass der Leser meint, das Beschriebene tatsächlich vor seinem geistigen Auge zu sehen. Positiv aufgefallen ist mir auch, dass es keine großen, effektheischenden Familientragödien zu enthüllen gab, und der Leser sich auch nicht mit anderen Unwahrscheinlichkeiten konfrontiert sah. Der Roman besticht somit nicht nur durch seinen Stil, sondern auch durch seine weitgehend unspektakuläre Handlung, wodurch die Realitätsnähe noch stärker zur Geltung kommt. Als einziger Kritikpunkt bleibt tatsächlich nur der etwas konfuse zeitliche Ablauf. Für mich hat sich während der Lektüre auch nie die Frage erhoben, was der Autor seinen Lesern mit diesem Buche sagen wollte, weil hier große Erzählkunst ganz für sich spricht. Um einen Welt- oder Jahrhundertroman, wie man immer wieder lesen konnte, handelt es sich meiner Ansicht nach aber dennoch nicht; dazu fehlen Sprachgewalt und inhaltliche Dichte, aber ein "großer Wurf" ist Michael Köhlmeier mit seinem Werk auf jeden Fall gelungen.

  • Ex Libris
    Da hatten wir vor Kurzem wohl die gleiche Lektüre? Hier mein Eindruck:


    Der im Sterben liegende 95jährige Mathematiker Carl Jacob Candoris spricht mit seinem Freund und Schützling Sebastian Lukasser über sein Leben und hat den Wunsch, dass seine Biografie nach seinem Tod veröffentlicht wird. Mit Carls Biografie ist die des Sebastian Lukasser und seiner Familie eng verknüpft. Candoris lernt den begnadeten Jazzmusiker Georg Lukasser, Sebastians Vater, in einem Jazzkeller kennen und schätzen. Er wird zu dessen Mäzen, Schutzengel, Freund und auch Gebieter. Eine Rolle, in die er den Sohn, Sebastian, mit einbezieht. So wurde in „Abendland“ auch die Geschichte der Lukassers erzählt, stellenweise hat man den Eindruck, diese Familie steht im Mittelpunkt des Buches und Carl steht im Hintergrund und zieht die Fäden. Hier sehe ich eine enge Verknüpfung mit dem schriftstellerischen Werk des Sebastian Luskasser, der auch über berühmte Musiker Doppelbiografien schrieb. Mit dieser schon umfangreichen Lebensgeschichte und Beichte des Carl Candoris verknüpft Köhlmeier noch die bedeutenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts.


    Michael Köhlmeier erzählt „Abendland“ nicht geradlinig, sondern eher verwinkelt und konstruiert. Er weicht immer wieder vom roten Faden ab und schiebt neue Anekdoten ein. Der Roman nimmt den Leser mit auf die Reise nach Innsbruck, Wien, Frankfurt/Main die USA und, und, und. Er konfrontiert mit Musikthemen, dem 3. Reich, der Wissenschaft, dem Bau der Atombombe, dem Rassismus in den USA und der RAF – um nur einige Themen zu nennen. Ich fand mich zeitweise in einem literarisch-historischen Irrgarten wieder. Begebenheit aus der
    Geschichte des 20. Jh. werden oft nur angerissen. Köhlmeier fordert von seinem Leser die Kenntnis des Geschehens. Deshalb wirkten diese Passagen anfangs oberflächlich und unausgegoren.


    Die Kritik lässt nun den Eindruck aufkommen, das Buch hätte mir nicht gefallen. Genau das Gegenteil trifft es aber. Ich habe „Abendland“ sehr gern gelesen. Es ist aber unbestritten ein Buch, dessen Vielfalt sich erst beim wiederholten Lesen erschließen wird. Lange standen für mich zwei Fragen im Raum, da war einerseits die nach der Rolle des Carl Jacob Candoris in diesem Roman, in dem der eigentliche Biograf ja im Mittelpunkt zu stehen schien. Aber nach und nach wurde deutlich, dass Candoris der Macher im Hintergrund ist, er hält die Fäden in der Hand wie bei einem Puppenspiel und somit ist seine bedeutendste Funktion die des Überwachers, des Regisseurs. Andererseits bewegte mich die Frage, ob es Sebastian Lukasser vermag,
    sich von seinem schier übermächtigen Schatten zu lösen.


    „Abendland“ ist wohl eines der vielschichtigsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Zum „nebenbei lesen“ ist es nicht geeignet, es fordert die gesamte Aufmerksamkeit seines Lesers, da sonst zu viele Facetten nicht erkannt werden. Ich habe sicher auch noch viele nicht wahrgenommen. Selten habe ich selbst beim Lesen eines Buches so viel recherchiert. Aber gerade diese Themenvielfalt lässt den Roman, dieses Epos manchmal etwas überladen und unüberschaubar wirken. Er hätte damit auch 3 oder 4 Romane füllen können. Bevor ich diesen Roman las, habe ich ihn als Hörbuch – hervorragend gesprochen von Jürgen Uter - gehört. Durch das nochmalige Lesen wurde mir vieles verständlicher und greifbarer.
    „Abendland“ ist mit Sicherheit ein Buch, das ich in absehbarer Zeit wieder zur Hand nehmen werde. In der Zwischenzeit werde ich mich mit den anderen Werken Köhlmeiers auseinandersetzen.

  • Herzlichen Dank für diese beiden ausführlichen Rezensionen. Dieses Buch versuche ich schon lange zu lesen, leider scheitere ich immer auf einer bestimmten Seite, weil sich mir der Sinn nicht erschliesst.


    Es ist aber unbestritten ein Buch, dessen Vielfalt sich erst beim wiederholten Lesen erschließen wird.

    Dank dieser Aussage werde ich mich nochmals an dieses Werk wagen. :wink:

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Hallo!


    Meine Meinung fällt nicht so positiv aus:


    Ein unglücklich verpatzter Roman.

    Direkt zu Beginn bin ich über eine ungewöhnliche Situation gestolpert. Da ist ein alter Mann, Carl, der sein Leben für die Nachwelt festgehalten haben möchte. Aufgrund seines hohen Alters beauftragt er sein Patenkind, der zufälligerweise Schriftsteller ist, dieses Unterfangen für ihn zu übernehmen. Sebastian macht sich an die Arbeit und beginnt zu berichten: Carl sei der Schutzengel seines Vaters, weil dieser ein Musik-Genie ist, den Carl in einer Kneipe getroffen hat und es für sofort klar ist, dass er einen solchen Musiker fördern möchte, ihn zum Star machen möchte. Daraufhin folgt ein langer Exkurs über die Entwicklung des Jazz, berühmte Jazzer werden vorgestellt, Varianten und Themen werden angerissen usw… Aber wer kommt nicht zum Zug?
    Die Situation erinnerte mich an einem Patienten, der zum Psychiater geht, sich auf die Couch legt, und dann spricht der Therapeut. Und spricht, und spricht, und hört gar nicht mehr auf zu sprechen.


    Sebastian hat unter der Ehe seiner Eltern sehr gelitten. Carl und seine Mutter waren nur für das Musik-Genie da, und er als kleiner Bub hielt wohlwollend fürsorgliche Reden: „Papa, bitte versprich mir nicht mehr so viel zu trinken.“ Woraufhin sein Vater mit einem Tobsuchtsanfall reagiert und nochmal so viel säuft.


    Ferner hatte Sebastian zwei Väter, das Genie und den Mann, der die Fäden über die Familie spannte. Carl war ein sehr reicher Mann. Sein Vater tätigte auf der ganzen Welt Geschäfte und hinterließ ihm ein Vermögen. Die Lukasser wurden von Carl in jeder Hinsicht protegiert und finanziell unterstützt.


    Im dritten Teil des Buches erleben wir einen Sebastian „allein in Amerika“, der sich beginnt frei zu strampeln, der selbstbewusster wird und autark wirkt. Bis er zum Ende des Abschnittes wieder vom Marionettenspieler zurück nach Wien beordert wird.


    Wer ist Carl? Der Patient, der auf der Couch liegt, und uns so fremd bleibt. Eine Schattenfigur.


    Unglücklich gemacht ist auch, dass Köhlmeier im ersten Teil das Interesse des Lesers zu konzentriert um Carl spannt. Denn im zweiten Teil des Werks entpuppt es sich zusätzlich zu einer Chronik des 20. Jahrhunderts. Immer wieder werden lange geschichtliche Ereignisse eingefügt (Musik, Judentum, Heiligsprechung, Rassismus, RAF u.a.). Diese Einschübe sind allerdings derart subjektiv geprägt, so dass man sie weder kritisieren kann noch diskussionsfähig wären; sie entfernen sich nur meilenweit vom Spannungsbogen …


    Carl stirbt, das ist schon auf den ersten Seiten ersichtlich.
    Aber vorher schiebt uns Köhlmeier noch einen Ausflug in die Kolonialgeschichte Afrikas unter! Und wer ist Carl?


    Ein Fremder, den ich sehr gerne kennen gelernt hätte, was mir aber verwehrt wurde. Nur grobe Eindrücke und Äußerlichkeiten habe ich über ihn erhalten, aber warum er zum Marionettenspieler wurde nicht.


    Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Marburg/Lahn sowie Philosophie und Mathematik in Gießen. Er lebt als freier Schriftsteller in Hohenems (Vorarlberg) und Wien.

  • Hallo Karthause! Da muss ich Dir zustimmen, nach einmaligem Lesen ist dem Roman sicher noch lange nicht Genüge getan. Es ist nur schade, dass so viele Bücher warten und die Zeit immer zu knapp ist, für alles, was man unbedingt demnächst lesen möchte. Ich habe allerdings zwischendurch ganz unabhängig vom Inhalt die köhlmeiersche Erzählkunst so genossen, dass ich hin und wieder das Gefühl hatte, der Autor sitzt im Raum und erzählt mir die Geschichte. Ich kenne seine Stimme und seine unverkennbare Art zu lesen von diversen Radiosendungen. Obwohl ich Hörbücher sonst nicht so schätze, könnte ich mir in diesem Falle gut vorstellen, mir den Roman nochmals vorlesen zu lassen.


    Mir hat das Buch auch nicht von Anfang an so gut gefallen, aber im Laufe der Zeit hat es mich in seinen Bann gezogen. Vielleicht geht es Dir auch so Serjena, wenn Du über Deine "Stolperstellen" erst einmal hinweg bist.


    Du bist mit Deiner Meinung nicht alleine, Buchkrümel. Meiner Kollegin hat der Roman auch absolut nichts bedeutet und so hat sie mir das Buch geschenkt. Mir hat die Figur des Carl Candoris ganz besonders gut gefallen, eine starke Persönlichkeit, die auch im Alter die Zügel nicht so leicht aus der Hand gibt. Ich konnte mir die beiden im Haus in Lans so richtig bildhaft vorstellen, die beiden Männer mit ihren Krankheiten und Gebrechen, ihren Umgang miteinander- das hat der Michael Köhlmeier schon sehr gut hingekriegt. Und ich denke, der Leser muss ihm auch eine subjektive Meinung zu den Themen, die Du angesprochen hast, zugestehen, selbst wenn man sie nicht kritisieren oder darüber diskutieren kann.


    Jedenfalls finde ich die unterschiedlichen Reaktionen sehr interessant, die zeigen, wie subjektiv nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen ist. Jeder findet andere Aspekte, die ihm wichtig erscheinen, und ich denke, es gibt keine Leser, die von einem Buch genau denselben Eindruck haben.

  • Ich habe "Abendland" auch sehr gerne gelesen (wie übrigens alles von Herrn Köhlmeier) und auch wenn ich alle Einwände von Buchkrümel nachvollziehen kann, haben sie mich nicht gestört. Ich habe auch erwartet, dass Carl eine viel zentralere Rolle spielt, aber dass das dann nicht so war, habe ich einfach akzeptiert. Die zeitlichen Sprünge und auch die Sprünge zwischen den beiden Protagonisten haben mich mitunter ein bisschen verwirrt, aber meistens habe ich recht schnell wieder in die Geschichte gefunden.


    Mir hat sehr gut gefallen, wie Köhlmeier die Figuren zeichnet und vor allem auch Carls Frau Margarida fand ich sehr faszinierend.


    Ich hatte das Vergnügen, Michael Köhlmeier bei einer "Abendland"-Lesung zu erleben und es war wundervoll. Schade eigentlich, dass er das Hörbuch nicht selbst liest!

  • Mit der Verwirrung dürfte es mir so ähnlich ergangen sein wie Dir, Susannah. Aber ein wenig Mühsal nimmt der Leser ja gerne in Kauf.


    Das wäre natürlich das non plus ultra, wenn Michael Köhlmeier das Hörbuch selbst lesen würde. Da hätte ich es sicher schon, weil ich seine Art zu lesen sehr mag.


    Welche anderen Bücher von ihm haben Dir denn sonst besonders zugesagt? Er hat ja sehr viel geschrieben, da höre ich immer gerne von anderen Lesern, was ihnen besonders (oder auch weniger) gut gefallen hat. Mir spukt schon sein "Telemach" eine ganze Weile im Kopf herum.

  • Ich bin jetzt bei "Abendland" ca. 70 Seiten vor Schluss, und habe Eure Meinungen mit Interesse gelesen. Mich fasziniert dieses Buch sehr, besonders die Erzählweise mit den Zeitblenden mag ich. Aber dazu später mehr, wenn ich das Buch beendet habe.


    @ ex libris: Ich habe schoin einiges von Köhlmeier gelesen, sehr empfehlen kann ich seine selbstgesprochenen Hörbücher (Sagen dess klassischenAltertums, die Nibelungen, Bibelgeschichten). Er erzählt diese Sagen mit eigenen Worten, mit viel Witz und Charme, und zudem sehr verständlich!


    Von seinen Büchern kann ich Dir "Idylle mit ertrinkendem Hund" sehr empfehlen, einen Thread dazu gibt es hier

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Danke, Rosalita, für Deine Buchempfehlungen. Die Sagen und Bibelgeschichten habe ich vor Jahren im Radio mit großem Interesse verfolgt. Die "Idylle mit ertrinkendem Hund" werde ich mir vormerken und irgendwann kommen auch noch "Telemach" und "Kalypso" dran.


    Ich freue mich auf Deine Abschlußmeinung nach beendeter Lektüre.

  • Wer das Buch ohne jede Verwirrung liest, dem zolle ich jeden Respekt. Allerdings kann ich mir das nur schwerlich vorstellen.

    Da hast du wahrscheinlich recht, Karthause.


    Ex libris, ich habe "Die Bibelgeschichten", "Die besten Sagen des klassischen Altertums", die Shakespeare-Nacherzählungen und die "Idylle mit ertrinkendem Hund" gelesen. Jedes dieser Bücher hat mich überzeugt und gut unterhalten. Die Sagen und die Bibelgeschichten übrigens auch noch ein bisschen gebildet, weil ich von beiden nicht besonders viel Ahnung hatte. Die "Idylle" hat mich schlichtweg begeistert. Es gibt hier eine Rezi... Köhlmeier, Michael - Idylle mit ertrinkendem Hund. Dieses Buch kann ich wirklich wärmstens empfehlen!!

  • Danke, Susannah, die Idylle mit dem ertrinkenden Hund werde ich mir nach Euren warmen Empfehlungen natürlich demnächst zu Gemüte führen.

  • Also ich hatte "Abendland" als Geschenk bekommen und habe neugierig angefangen zu lesen.
    Alle in allem fand ich das Buch durchaus interresant, aber so richtig gefesselt hat es mich nicht.
    Der Schreibstil von Köhlmeier, von dem ich bisher noch kein anderes Buch gelesen habe hat mir eigentlich ganz gut gefallen.


    Die Geschichte kam mir ein bisschen verwirrent daher, viele Orte, viele Personen und viele verschiedene "Zeiten" machten es mir manchmal ein wenig schwer den Überblick zu behalten, aber es gelang mir ganz gut und ich wollte letztendlich immer wissen wie es weiter geht.


    Trotz der Verwirrung stiftenden Vielfalt an Orten, Menschen etc. kam das Buch alles in allem ruhig daher, ohne große Höhen und Tiefen.
    Als Highlight des Buches empfand ich persönlich den 3. Teil des Buches, "Tintendunkles Amerika"


    Könnte man halbe Sterne verteilen bekäme "Abendland" klare 3,5 Sterne von mir, geht aber nicht.
    Drei Sterne erscheinen mir zu "popelig" für diesen unter dem Strich dann doch ganz gut unterhaltenden Wälzer, von daher runde ich lieber auf und vergebe :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: Sterne für "Abendland" von Michael Köhlmeier.

  • Schöner Thread! Ich habe auch mal meine alte Rezension ausgegraben:


    Im Jahr 2000 reist Sebastian Lukasser, kaum von einer Prostata-OP genesen, nach Lans in Österreich, um seinen väterlichen Freund, den mittlerweile 95jährigen Mathematiker Carl Jakob Candoris, zu besuchen und Material für dessen Biographie zu sammeln.


    Candoris kannte Sebastian sein ganzes Leben lang, war schon mit dessen Vater Georg, einem hervorragenden Musiker, befreundet, der sich von der Wiener Schrammelmusik zum weltbekannten Jazzgitarristen entwickelt hatte und stellte auch für Sebastian zeitlebens eine Bezugsperson dar.


    Nicht nur Carl blickt auf seine Vergangenheit zurück, sondern auch Sebastian gerät ins Grübeln, denkt an seine gescheiterte Ehe, seine Kindheit, die Bücher, die er geschrieben, die Reisen, die er unternommen und die Menschen, die er kennengelernt hat, kurze Liebeleien und große Freundschaften.


    Carl war als brillanter Mathematiker nicht nur mit den wissenschaftlichen Größen seiner Zeit in Deutschland bekannt, sondern arbeitete während des 2. Weltkriegs an der Entwicklung der Atombombe mit, lebte vor dem Krieg in Portugal, wo er seine Frau kennenlernte, und nach dem Krieg in Japan, wo er mit einem genialen jungen Mann mit unglaublichem Mathematiktalent zusammentraf, kannte die große Mathematikerin Emmy Noether ebenso wie die zum Christentum konvertierte und im KZ getötete Edith Stein.


    Beide stoßen immer wieder auf Personen der Zeitgeschichte, haben Anteil an den großen Ereignissen im 20. Jahrhundert, ob in Wirtschaft, Kultur oder Forschung, und durchleben rückschauend noch einmal ihre großen persönlichen Siege und Niederlagen.


    Das bewegte zwanzigste Jahrhundert anhand der Lebenswege zweier Menschen darzustellen ist ein guter und interessanter Ansatz, der über weite Strecken auch gelungen ist. Zwischendurch gibt es jedoch auch immer wieder zähe Passagen, durch die man sich kämpfen muss. Insbesondere Carls Erzählflash gegen Ende des Romans empfand ich als sehr anstrengend zu lesen, und besonders der Exkurs in die Kolonialzeit in Afrika gehörte in meinen Augen nicht mehr so richtig ins Gesamtbild, so dass der letzte Teil des Buches gegenüber dem guten Anfang und Mittelteil stark abfällt.


    Die Sprache ist insgesamt sehr schön und ausgefeilt, wirkt aber ab und an etwas gekünstelt, ebenso wie das eine oder andere Ereignis. Weniger von den großen Themen des vergangenen Jahrhunderts wäre in diesem Buch wohl mehr gewesen, was schade ist, denn Michael Köhlmeier ist definitiv ein guter Beobachter und fängt Stimmungsbilder wunderbar ein, bis hinein in kleine Details. Auch die häufigen Zeitsprünge stören.


    Fazit: durchaus lesenswert, aber ein Buch, das Zeit und etwas Durchhaltewillen benötigt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: ( :bewertung1von5: )

  • Wessen Lebensgeschichte erzählt Sebastian Lukasser hier eigentlich, Carls oder seine eigene? Die Leben der beiden Protagonisten, des Ichs, Lukasser, und des Gegenstands der Handlung, Carl, sind zwar an vielen Stellen verbunden, dennoch verlaufen die Biographien nicht parallel, weil Carl 30 Jahre älter ist.


    Köhlmeier lässt Sebastian Lukasser in diesem Buch (2007) zum ersten Mal auftreten, später dann in „Madalyn“ (2010) und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ (2013), also immer dann, wenn er einen Schriftsteller braucht. Oder ein Alter Ego?


    Der Autor erzählt weitschweifend und malt opulente Szenerien in den wechselnden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Szenarien des 20. Jahrhunderts. Weil er in der Chronologie zwischen Zeiten, Orten und Personen springt, macht er es dem Leser nicht einfach. Immer wieder verknüpft der Autor seine Fiktion mit der Historie und lässt seine Figuren realen Menschen begegnen.


    Mir stellt sich nach dem Lesen die Frage: Will Köhlmeier in diesem Werk nicht zuviel? Es schneidet eine Überfülle an Themen an, alle scheinen gleich wichtig. Er präsentiert eine Vielzahl an Personen, sowohl historische als auch fiktive.


    Dennoch gefiel mir das Buch, auch wenn ich mit ihm kämpfte wie mit keiner anderen Lektüre des Autors. Insgesamt betrachtet sind es aber eher Köhlmeiers schmale, novellenartigen Veröffentlichungen, die mich mehr beeindrucken, und in denen seine geniale Art des Erzählens mehr zum Tragen kommt.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • also immerdann, wenn er einen Schriftsteller braucht. Oder ein Alter Ego?

    Ich glaube, Sebastian Lukasser ist Köhlmeiers Alter Ego.


    Auch in seinem neuen Roman "Bruder und Schwester Lenobel" spielt Lukasser wieder eine sehr große Rolle und dient als Bezugsperson für alle Protagonisten, so verschieden sie auch sein mögen.

    Will Köhlmeier in diesem Werk nicht zuviel?

    Ja. Oft. Mir war "Abendland" auch zuviel und ich habe viel von dem Buch nicht aufnehmen können. Bei dem neuen wieder - es ist sehr voll, alles ist gleich wichtig und ich war beim Lesen sehr gefordert. Trotzdem natürlich: Klare Leseempfehlung für beide Bücher.

  • Auch ich fand "Abendland" an vielen Stellen überladen (siehe auch meine alte Rezi oben). Wirklich schade, weil ich die Sprache sehr mochte.

  • Michael Köhlmeier - Abendland


    Ein sehr begabter Mathematiker steht im Zentrum des Romans. Er selbst empfindet seine Begabung eher als Makel, der zum Ausdruck bringt, dass ihm die Vorsehung Genie verwehrt hat. Seine Talente und Begabungen sind dennoch immens und nicht auf Mathematik beschränkt. Was ihn besonders auszeichnet, ist seine Fähigkeit, Genie in anderen Menschen zu sehen, zu fördern und der Welt bekannt zu machen.

    Das ist Carl Jacob Candoris, Hauptcharakter, Mittelpunkt und Zampano des Romans Abendland. Das 20. Jahrhundert wird an ihm abgehandelt, alle großen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ereignisse mit ihm entweder mitten drin, oder an der Peripherie. Carls Lebensgeschichte führt ihn an die relevanten Orte der Geschichte und Geschehnisse: nach Harlem als Jazz und Blues ihre fantastischen Blüten trieben, in die Sowjetunion zu Beginn der stalinistischen Scheinprozesse, nach Nürnberg zur Zeit der Nazi-Kriegsverbrecher-Prozesse. Als Kind hat er im großbürgerlichen Haus seiner Tanten Edith Stein kennengelernt und denkwürdige Gespräche mit ihr geführt. In der Romangegenwart ist Carl 95 Jahre alt und bittet seinen Ziehsohn, dieses ereignisreiche Leben aufzuschreiben.


    Glaubwürdig ist diese Konstruktion als Romankonzept allerdings nicht. Vor allem im zweiten Teil des Buches, wenn die Hauptfigur Carl zugunsten seines Ziehsohnes in den Hintergrund tritt, wirken die meisten Episoden artifiziell und wie einzeln hingeworfen, ergeben sich nicht mehr als Konsequenz einer logischen Handlung. Im Hintergrund agiert Carl zwar immer noch als Strippenzieher und Schicksalslenker, aber durch den langweiligen, mittelmäßigen Ziehsohn verliert die Geschichte an Energie und Dynamik. Wie um das wettzumachen, müssen seine Frauen und Freundinnen besonders bis absonderlich sein, und werden genau dadurch zu Abziehbildern des Zeitgeistes.


    Fazit

    Alles abhandeln wollen, was das 20. Jahrhundert groß und schrecklich gemacht hat und dabei in der Romanform bleiben, ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Viele Rezensionen hielten es für stimmig und gelungen. Eine Meinung, der ich mich leider nicht anschließen kann.


    Ich habe Riesenrespekt vor der grandiosen Recherchearbeit, die dem Roman vorausgegangen sein muss, ebenso vor der Leistung, dieses Wissen zu bändigen und überhaupt niederzuschreiben. Das war auch meine Motivation, das Buch nicht abzubrechen. Zwar gut geschrieben, aber dabei dröge und unnötig schwer, noch dazu ohne den geringsten Anflug von Ironie oder Humor.

    Michael Köhlmeier ist sicher ein guter Autor, aber ich kann mir nicht vorstellen, je wieder ein Buch von ihm anzufassen.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous