Kai-Michael Böttcher - Der Birkenwald (ab 22.05.2009)

  • Eine gewisse "Angst" vor der Wahrhaftigkeit unserer Sinneseindrücke und dem vermeintlichen Verhältnis zur Realität ist aber sicherlich schon älter als das virtuelle Zeitalter. Seit langem stellten Menschen sich immer wieder die Frage, was wohl die "Wahrheit, Realität" hinter den Erscheinungen ist. Mein Philosophieunterricht ist nun schon was her :uups: , doch im Bereich der Erkenntnisphilosophie geht es speziell um diese oder verwandte Fragen.


    Heute aber wächst eben das Wissen darum, wie sehr (das Thema taucht im Buch explizit auf) wir konditioniert sind von nicht von uns gewählten Einflüssen. Tja, wie groß ist dann also unser Spielraum? Ist eine unabhängig von gegebenen Wirklichkeiten ausgeübte Freiheit überhaupt denkbar? Wäre die Vorgegebenheit gewisser Umstände in unserem Leben schon ein Grund, nicht mehr an seine doch real erlebte Freiheit zu glauben?


    Ich finde es heilsam, wenn wir einerseits vom hohen Ross unseres Allmächtigkeitswahn herunterkommen ("wir bestimmen ja eh alles, ich bin der Bestimmer allen Tuns...") und zur selben Zeit nicht ein Grundvertrauen in die Wirklichkeit und meine, wenn auch beschränkte, Freiheit verliere.


    Stimmt, schon bei den griechischen Philosophen ging es um die "Idee", die hinter den Dingen steht. Aber ich stimme Hermia zu, daß in dem Buch nochmal sehr realistisch dargestellt wird, wie wenig man Sinneseindrücken vertrauen kann und wie fremdgesteuert eigentlich unser Leben sein könnte. Die Möglichkeit, daß es verschiedene Welten mit unterschiedlichen Wahrheiten gib, wird sehr real durch diese virtuelle Welt. Und ich denke, das finden wir wohl alle ziemlich erschreckend - wir wollen doch alle unseren Sinnen verrauen können und unser Leben selbst in der Hand haben.


    Wieso eigentlich erschreckend? Ich weiß nicht, wie weit ihr mit dem Buch seid, ich bin durch. Und den Schluss finde ich sehr gelungen.

    Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist. Elias Canetti

  • Ich bin ebenfalls durch, doch würde ich ja gerne langsamer vorgehen...


    Was die Wahrnehmung anbetrifft, die Du, Literat, ansprichst:



    Stimmt, schon bei den griechischen Philosophen ging es um die "Idee", die hinter den Dingen steht. Aber ich stimme Hermia zu, daß in dem Buch nochmal sehr realistisch dargestellt wird, wie wenig man Sinneseindrücken vertrauen kann und wie fremdgesteuert eigentlich unser Leben sein könnte. Die Möglichkeit, daß es verschiedene Welten mit unterschiedlichen Wahrheiten gib, wird sehr real durch diese virtuelle Welt. Und ich denke, das finden wir wohl alle ziemlich erschreckend - wir wollen doch alle unseren Sinnen verrauen können und unser Leben selbst in der Hand haben.
    Wieso eigentlich erschreckend? Ich weiß nicht, wie weit ihr mit dem Buch seid, ich bin durch. Und den Schluss finde ich sehr gelungen.


    Dass wir unseren Sinneseindrücken nicht (immer) trauen können, ist uns ja allen klar, dazu gibt es viele Versuche, auch lustiger Art... Insofern ( :arrow: Seite 48) ist die Realität im menschlichen Verstand NICHT nur ein Abbild der äußeren Welt, sondern schon eine Verarbeitung, Interpretierung, Analyse. UND andererseits werden Dinge Realität als Abbild aus dem Gedächtnis. In DEM SINNE kann ich die Welt durch meine Gedanken - ich würde sagen: durch mene Haltung - verändern, bzw. ihre Wahrnehmung. Denn zur Wahrnehmung gehört nicht nur der Reiz von außen, sondern auch das Annehmende, Interpretirende von mir.


    Das gilt wohl nicht nur im Cyberspace, sondern wohl auch in der realen Welt!


    Doch müssen wir das negativ sehen? Ist diese "Subjektivierung" der Weltauffassung nicht so sehr ein Zeichen, dass es verschiedene Welten gibt, sondern dass wir uns behutsam und nach unseren Möglichkeiten dem (theoretisch realen, was immer das auch ist) Kern annähern? Ist dann die Unterschiedlichkeit der Auffassungen nicht gerade ein Garant dafür, dass wir frei sind???


    In dem Sinne sollten wir dem Konsens, wie Wahrheit aufzunehmen sei manchmal sehr vorsichtig gegenüberstehen: wir müssen auf eigenen Füssen stehen. Zur selben Zeit denke ich schon, dass es eine objektivere, reale Welt gibt, der wir uns eben annähern... Wir müssen wohl die beiden Weisen miteinander versöhnen?!


    Kleine Bemerkung: es ist schon auffällig, wie Kai-Michael manchmal das Erzählen durchstreut mit fast "philosdophischen" Erklärungen, Zusätzen und Einsprengseln. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das immer mag: manchmal nimmst Du da den Leser zu sehr an die Hand und interpretierst schon. Im Mittelteil der 100er Seiten haben wir dann aber plötzlich mehrere Kapitel mit vor allem Dialogen. Irgendwie gefällt mir das besser als Stil...


    Ich will jetzt noch nicht auf Deinen interessanten Spoiler eingehen!

  • Mein Buch habe ich auch erhalten, vielen lieben Dank dafür :thumleft:


    Ich habe noch nichts in diesem Thread gelesen (nicht, dass ich mir selbst die den Spaß verderbe), und würde gerne erst mal hören, wie weit ihr alle seid, damit schnell zu euch aufschließen kann! :D

    Das Missliche an neuen Büchern ist, dass sie uns hindern, die alten zu lesen.
    J.Joubert

  • Hallo Melli,


    zumindest Literat und ich sind schon ganz durch :uups: , doch Du brauchst ja nicht den ganzen Fred zu lesen, sondern z.B. nach den ersten 50 Seiten die erste Seite des Freds?!


    Viel Spaß beim Lesen!

  • Kai-Michael Böttcher:
    Aus Seite 168 f geht es um das Verhältnis von Dirk und Eva zu ihren Eltern.
    "Während der Pubertät wurde in ihm die Liebe zu seiner Mutter systematisch zersetzt und aufgelöst, bis seine Seele frei und fähig war, auch andere Menschen in sich aufzunehmen."
    Ich bin selbst Mutter eines Sohnes und kann gar nicht so recht beschreiben, was diese Stelle in mir ausgelöst hat. Ich kann nur hoffen, daß unser tolles Verhältnis sich nicht auflöst und zersetzt in der Pubertät. Und das seine Seele, trotz seiner Liebe zu mir Platz hat um noch jemand anderen in sich aufzunehmen. Ich fand die Passage auch unpassend, konnte nicht so recht etwas damit anfangen, also keine Ahnung, was das mit dem Rest der Geschichte zu tun hat. Und sie hat mir Dirk etwas "entfremdet", er war mir nicht mehr so ganz sympathisch.

    Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist. Elias Canetti

  • Kleine Bemerkung: es ist schon auffällig, wie Kai-Michael manchmal das Erzählen durchstreut mit fast "philosophischen" Erklärungen, Zusätzen und Einsprengseln. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das immer mag: manchmal nimmst Du da den Leser zu sehr an die Hand und interpretierst schon. Im Mittelteil der 100er Seiten haben wir dann aber plötzlich mehrere Kapitel mit vor allem Dialogen. Irgendwie gefällt mir das besser als Stil...


    Du hast Recht, einige Sätze die ich geschrieben habe, werden dem Leser mit dem Holzhammer beigebracht. Du sagst "philosophische" Erklärungen dazu, das ehrt mich.


    Ich fand das Schreiben ähnelt dem Ausrollen von Pizzateig. Alle Brocken, die ich in die Handlung gelegt habe, wurden solange gerollt, bis es sich schön angenehm liest. Aber dadurch wird nicht nur Pizzateig flach.
    Als Autor musste ich mich immer wieder entscheiden, ob der Lesefluss oder die Botschaft im Vordergrund stehen sollte. In diesem Sinne wird das Buch dem Ende zu zwar holpriger, hat aber im Gegensatz zum Anfang eine höhere Geschwindigkeit.
    Den Leser nehme ich seit der erste Seite an die Hand, weil er in mein Gedankengebäude kommt. Wenn die Weisheiten als Parole daherkommen, ist es denke ich einfacher darum herum zu Lesen.


    Ich bin Euch auch noch eine Erklärung schuldig, warum Dirk und Eva nicht genauer beschrieben wurden:
    Ich wollte dem Leser maximalen Spielraum lassen, sich selbst in diese Figuren zu denken.
    Unsere Kultur erzieht uns seit 100 Jahren dazu, Verantwortlichkeiten von uns weg zudenken. Wenn wir krank sind, dann ist es die Aufgabe des Arztes, daran etwas zu ändern. Wenn unsere Kinder keine Arbeit finden, hat die schlechte Schule schuld. Und im Beruf wird Verantwortung meist sehr bereitwillig abgegeben. Kaum jemand glaubt an seine persönliche Macht.


    Aus meiner Sicht steht einer der wichtigsten Sätze des Buches auf Seite 52: "Ich denke, und was ich denke, wird Welt." Wenn wir alle mehr an uns glaubten, hätten wir auch keine Bankenkrise (großer Gedankensprung, aber wahr!).


    Unser Leben besteht immer aus "real" und "virtuell".
    Ein Beispiel: Jeder McDonalds Werbespot (kurz vor der Tagesschau) kostet ca. 50.000 Euro.
    Es ziehen also mehr als 50.000 Menschen los und kaufen sich einen Burger, den sie ohne diesen Spot nicht gekauft hätten. (Wäre dies nicht die Wahrheit, würde McDonalds das Geld nicht ausgeben.)
    Aber befragten wir die Menschen am Tresen, welcher Werbespot sie hierher geführt hat, jeder würde die Freiheit des eigenen Denkens beschwören, die auch schon in Euren Beiträgen zitiert wurde.


    Gibt es also eine reale Welt, die uns nicht zu McDonalds führt, und eine virtuelle Fernsehwelt, die unsere Realität verändert?
    Oder: Es gibt eine reale Fernsehwelt, die den Menschen mitteilt was sie essen wollen, und es gibt eine virtuelle (unvorstellbare) Welt, die ohne McDonald auskommt.


    Realität ist eine Frage des Standpunktes!

  • Hallo literat,
    oh je, da habe ich Dir ja etwas angetan ...


    Während in der Geschichte unsere reale Welt an Glanz verliert, wird die zunächst bedrohliche virtuelle Welt zum Paradies.
    Seite 168: "Ihre liebenden Körper verschmelzen in der Abendsonne zu einem großen, engelgleichen Wesen, das im paradiesischen Zustand ohne alle Grenzen von Raum und Zeit, Mann und Frau, Licht und Schatten oder wahr und falsch lebt."


    Es ging mir darum, die bisherigen Gedanken wo wir lieber leben würden aufzubrechen. Ob wir auf der Erde gefangen sind oder in einem Computer leben müssen, ist nun nicht mehr die Frage.
    Ich glaube daran, dass es den weiblichen Aspekt und den männlichen Aspekt gibt, die zusammen "ein Ganzes" ergeben.
    Wenn wir das Paradies leben wollen, dann müssen Jing und Jang wieder zusammen kommen, dann dürften Herz und Verstand nicht auseinander fallen.


    Die Verteilung dieser Aspekte auf Frau und Mann ist aber nicht 1:1, sonst könnte es keine gleichgeschlechtlichen Ehen oder keine allein erziehenden Familien geben.
    Die Mutter- und die Vaterrolle werden in modernen Familien von beiden Partnern oder nur von einem Menschen individuell gelebt. Aber darum geht es nicht im Birkenwald.


    Das in der Urliebe glückliche Kind verlässt das Paradies und wird zum Suchenden. Die Eltern sind hier das Klischee der zerfallenen Einheit, (Herz und Verstand).
    (Biblisch: Mit dem Biss vom Apfel vom Baum der Erkenntnis sind wir raus geflogen.)


    Dirk findet mit Eva die Einheit zurück, das Paradies ist die Liebe.


  • Du hast Recht, einige Sätze die ich geschrieben habe, werden dem Leser mit dem Holzhammer beigebracht. Du sagst "philosophische" Erklärungen dazu, das ehrt mich.
    Ich fand das Schreiben ähnelt dem Ausrollen von Pizzateig. Alle Brocken, die ich in die Handlung gelegt habe, wurden solange gerollt, bis es sich schön angenehm liest. Aber dadurch wird nicht nur Pizzateig flach.
    Als Autor musste ich mich immer wieder entscheiden, ob der Lesefluss oder die Botschaft im Vordergrund stehen sollte. In diesem Sinne wird das Buch dem Ende zu zwar holpriger, hat aber im Gegensatz zum Anfang eine höhere Geschwindigkeit.
    Den Leser nehme ich seit der erste Seite an die Hand, weil er in mein Gedankengebäude kommt. Wenn die Weisheiten als Parole daherkommen, ist es denke ich einfacher darum herum zu Lesen.


    Ja, das ist wirklich ein zielgerichtetes Schreiben. Das kann man ehrlich und freiweg nennen. Aber es kann auch als zu führend empfunden werden: Du willst da eine "Botschaft" rüberbringen...



    Ich bin Euch auch noch eine Erklärung schuldig, warum Dirk und Eva nicht genauer beschrieben wurden:
    Ich wollte dem Leser maximalen Spielraum lassen, sich selbst in diese Figuren zu denken.
    Unsere Kultur erzieht uns seit 100 Jahren dazu, Verantwortlichkeiten von uns weg zudenken...Wenn wir krank sind, dann ist es die Aufgabe des Arztes, daran etwas zu ändern. Wenn unsere Kinder keine Arbeit finden, hat die schlechte Schule schuld. Und im Beruf wird Verantwortung meist sehr bereitwillig abgegeben. Kaum jemand glaubt an seine persönliche Macht.


    Aus meiner Sicht steht einer der wichtigsten Sätze des Buches auf Seite 52: "Ich denke, und was ich denke, wird Welt." Wenn wir alle mehr an uns glaubten, hätten wir auch keine Bankenkrise (großer Gedankensprung, aber wahr!).


    Verantwortlichkeit bedeutet sicher, dass ich Anteil nehme, durch meine Entscheidungen, meine Sicht: doch Realität ist auch gegeben. Ich sehe den/einen Punkt auch: wir beeinflussen Realität diurch unsere Gedanken! Aber - auch in Deinem Buch! - sind Mächte am Werke, die wir NICHT ausgewählt haben. Insofern müssen wir uns mit Gegebenheiten, mit unserer Geworfenheit abfinden, sie akzeptieren. NICHT, um den Hut zu ziehen, sondern um dann nicht in Größenwahn zu verfallen. Es ist gut - glaube ich - dass wir diese Welt zwar mitgestalten, uns aber die Gesetze, das Material etc. nicht unbedingt ausgesucht haben. Das hat rein garnichts Demütigendes an sich!


    Wenn Verantwortung im allgemeinen Sinne auch Handeln bedeutet, wäre zu fragen, ob Dirk und Eva noch Einfluss nehmen. Sie leben zwar in einer Welt, in der sie scheinbar dann mitbestimmen, wo es lang läuft, doch dabei sind sie Marionetten eines Apparates. Ich sehe also ihre Freiheit nicht so positiv... Sie ist illusorisch. Ihre angeschlossenen Köpfe bewegen sich nicht vom Fleck und alles, was passiert, geschieht auf einer Ebene der Gehirnströme. Fassbar, greifbar wird da nichts mehr. Also -um auch hier einen biblischen Begriff zu nehmen - von Inkarnation und der Schönheit DIESER diesseitigen, konkreten Schöpfung bleibt nicht mehr viel übrig.




    Gibt es also eine reale Welt, die uns nicht zu McDonalds führt, und eine virtuelle Fernsehwelt, die unsere Realität verändert?
    Oder: Es gibt eine reale Fernsehwelt, die den Menschen mitteilt was sie essen wollen, und es gibt eine virtuelle (unvorstellbare) Welt, die ohne McDonald auskommt.


    Ich bin mir nicht sicher, Dich hier ganz verstanden zu haben. Ich beantworte für mich diese Fragen:


    Ja, es gibt eine reale Welt, die uns nicht zu Mac Donalds führt. Ich schaue nicht fern und war - glaube ich - vor eineinhalb Jahren mal in einem Mac Donalds...
    Ja, es gibt eine virtuelle Welt, die uns immer mehr verändert und influss nimmt, falls ich ihr auch immer mehr Raum überlasse. Es hängt auch von meinen persönlichen Entscheidungen ab, ob ich mich von der virtuellen Welt überrollen lasse. Kurz: ich entscheide mich, pro Tag nur eine gewisse Zeit im Net zu verbringen.
    Vor allem aber - das ist mir wichtig - suche ich den direkten Kontakt mit der konkreten Welt. Manchem virtuellem Amateur würde ich gerne ein Stück Ton in die Hand drücken. Oder einen Spaziergang mit ihm machen. Oder sich von der Sonne brennen lassen. Oder...


    Ja, es gibt eine Fernsehwelt, die den Menschen mitteilen will, was sie zu tun oder zu lassen haben. Und es gibt Menschen, die das einfach über sich ergehen lassen. Als Opfer?


    Nun, ich wünsche Mac Donald ja nicht den Bankrott, da arbeiten auch Menschen... , doch es gibt eine durchaus vorstellbare Welt, die ohne MacDonald auskommt, oder auskommen könnte.


  • Vielen Dank für Deine Erklärung. In diesem Zusammenhang ist nun verständlich, wieso Du genau hier die Passage zu Dirk's und Eva's Verhältnis zu ihren Eltern eingeflochten hast. Nun verstehe ich Deine Absicht dahinter. Mich hat die Vorstellung erschreckt, daß während dieses Prozesses in der Pubertät, wenn das Kind sich von der Urliebe der Eltern trennt und zum Suchenden wird (was zum Prozess des Erwachsenwerdens, der Abgrenzung dazugehört), daß dann die Liebe zu den Eltern, hier zur Mutter, zersetzt und auflöst und dann erst seine Seele frei für eine neue Liebe, ein neues Paradies ist. Ich denke, jede Mutter, die Dein Buch liest stellt sich die Frage nach den Gründen für diese radikale Ablösung. Wieso verwandelt sich die Urliebe in Gleichgültigkeit, in erstarrte Förmlichkeit, die sich in kalten, emotionslosen, einstudierten Gesten zeigt?



    Das stimmt, das ist zielgerichtetes Schreiben, daß auch eine Botschaft rüberbringen will. Finde ich gut. Ich empfinde es allerdings nicht als zu führend, im Gegenteil ich habe oft gedacht, daß das Buch zu dünn ist für die Masse an "Botschaften", die es enthält. Mir fehlt oft noch etwas die Erklärung, das "Fleisch am Skelett".

    Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist. Elias Canetti

  • So, ich bin nun auch endlich bis Seite 48 gekommen. Mir gefallen die vielen Absätze gut, die lassen dem Leser den Freiraum mal nachzudenken und dann wieder gut in die Geschichte einsteigen.


    Ganz oft habe ich beim lesen gedacht: "Hä? Das passt doch nicht..." und konnte es nicht genau sagen, was da nun nicht stimmt. Z.B. dass Werner und Dirk ganz offensichtlich "Sehnsucht" nacheinander haben, aber als Dirk ihn um eine Verabredung bittet, sagt er ab.


    Aber an dieser Stelle:

    Ein Schlüsselmoment ist wohl der Weggang aus dem Institut, bzw.... bleibt zu sehen, was da denn passiert ist! Schon (oder vorher?) auf :arrow: Seite 22 findet Löb Dirk ja nicht mehr in der alten Wohnung! War da also ein Wegzug??? Oder...?

    war es mir dann klar, dass Dirk schon in der Cyberwelt ist. Vor allem


    Ach, und noch eine Sache, über die ich gestolpert bin: Mir ist nicht so ganz klar, in welchem Jahr die Geschichte spielt. Denn es wird mit Disketten gearbeitet. Irgendwie habe ich das Wort "Diskette" schon so lange nicht gehört :)


    Kai-Michael Böttcher: Die Ähnlichkeit zu dem Film "Matrix" kam mir auch schnell in denn Sinn - wie ärgerlich, dass da einer mit der Idee schneller war als du! Deine Erklärung hat mir mal wieder deutlich gemacht, wie rasend schnell sich die Technik in nur ein paar Jahren weiter entwickelt hat :shock: (und nicht immer unbedingt zum Vorteil der Gesellschaft!)

    Das Missliche an neuen Büchern ist, dass sie uns hindern, die alten zu lesen.
    J.Joubert

  • Mir fehlt oft noch etwas die Erklärung, das "Fleisch am Skelett".


    Ob Du es glaubst, oder nicht: Mir auch.
    Ein Buch zu schreiben bedeutet nicht nur eine Idee kopfmäßig umzusetzen, sondern auch einer inneren Stimme zu folgen. Teilweise war ich beim Schreiben selbst gespannt wie es weitergeht.


    Als "Der Birkenwald" herauskam, gab es noch keinen Barack Obama in den USA, es gab auch noch keine Finanzkrise. Aber für mich gab es schon eine Sinnkrise.
    Das sich immer mehr verdichtende Gefühl, dass wir uns mit der stetigen Verbesserung unserer lebensumstände Umstände, wieder von einem optimalen Punkt fortbewegen. (Eine Tonne Müll kostete mehr, als eine Tonne Weizen!)

    Zitat von Melli2505

    (und nicht immer unbedingt zum Vorteil der Gesellschaft!)

    Genau!


    Die Beschreibung unseres virtuellen Bankensystem auf Seite 196 kam rein aus meinem Gefühl. Heute gibt es gut ausformulierte Analysen in den Zeitungen. Alle kommen irgendwie zu dem Schluss: Wir müssen umdenken!
    Damals standen die Fakten, aus denen man hätte "Fleisch" dichten können, noch gegen das Gefühl.


    "Der Birkenwald" verlangt ein Umdenken, nein besser ein Umfühlen der Welt. Ich konnte deshalb das Vertraute nicht ausschmücken, weil es immer dazu neigt, in genau die Muster zu fallen, die ich aufbrechen wollte!


    Liebe Melli2505,
    in meinem Beitrag vom 25. Mai 2009 habe ich über die Geschichte des Buches geschrieben. Das erste Manuskript ist von 1983. Damals kostete eine 3,5" Diskette DM 9,50 (ich hatte 5 Stück, ein 10er Pack war zu teuer.).
    Ich finde das schöne am "Birkenwald", wie ein Sciencefiction teilweise (ohne umschreiben) altmodisch wurde, nur durchs warten!
    Aber ich habe alle Wählscheiben von den Telefonen weggedichtet! Meine Kinder wissen nämlich gar nicht mehr, dass da einmal etwas zum drehen dran war. Dirk besitzt dafür ein Handy! Also, was Ort und Zeit der Handlung angeht ...
    (es geht aus dem Buch nicht hervor, warum sollte ich hier die Wolke Eurer Phantasie zu einem Betonklotz machen).

  • Ich finde das schöne am "Birkenwald", wie ein Sciencefiction teilweise (ohne umschreiben) altmodisch wurde, nur durchs warten!

    Ja, das erklärts!


    Also, was Ort und Zeit der Handlung angeht ...
    (es geht aus dem Buch nicht hervor, warum sollte ich hier die Wolke Eurer Phantasie zu einem Betonklotz machen).

    Damit kann ich gut leben und weiterlesen. Ich mache mir beim lesen oft Gedanken, in welcher Zeit die Handlung nun spielt und häng mich ein bissel dran auf. Aber SciFi kennt ja quasi keine Zeit.


    Kai-Michael Böttcher: Weißt du noch, wie viel Speicherplatz auf einer Diskette war? Und kennen deine Kinder diese noch? Ich weiß, das ist nun offtopic, aber mich interessiert es doch :lol: Es ist unglaublich. Für meinen ersten 128 MB USB-Stick vor 3 Jahren habe ich noch 30 Euro bezahlt, inzwischen gibts dafür 16GB!!! :shock: Irre.

    Das Missliche an neuen Büchern ist, dass sie uns hindern, die alten zu lesen.
    J.Joubert

  • Weißt du noch, wie viel Speicherplatz auf einer Diskette war?


    Na klar! Meinst Du: 8", 5 1/4" oder 3,5" ? Meinst Du HD und meinst Du Single oder Double Side?
    Meine ersten Programme an einer Univac habe ich auf Lochkarten programmiert. Es war eine Katastrophe wenn der Stapel herunter fiel.
    Als ich meine ersten 8" Disketten bekam, konnte man darauf 128kB speichern. Das war übrigens 1982. In Schreibmaschinenseiten waren das gigantische 27 engbedruckte Blätter. In der Praxis wären das etwa 1m Lochkarten !


    Als ich mit dem Birkenwald anfing, da war eine doppelseitige 3,5" HD Diskette ein unvorstellbar großes Medium: 1,4 MB !


    Ich betreibe ein kleines Museum für Automatisierungstechnik. Dort habe ich ein Modell mit einer Babiepuppe, die von 1GB engbedrucktem Papier umringt ist. Real wären es immerhin 22m !


    Aber wir sollten uns lieber Fragen, warum unser Leben immer streßiger wird, je mehr Erleichterungen wir erfinden?

  • Ich finde das schöne am "Birkenwald", wie ein Sciencefiction teilweise (ohne umschreiben) altmodisch wurde, nur durchs warten!


    ... oder das erschreckende! Du hast es sehr gut auf den Punkt gebracht, wie negativ sich unsere reale Welt durch die fortschreitende Technisierung und Automatisierung verändert , die Menschlichkeit, das Mitgefühl, der Sinn geht den Menschen verloren und es macht sich ein Unbehagen breit. Aber wir können uns doch keine "bessere virtuelle Welt" basteln. Wir können uns in unserer näheren Umgebung die eigene Welt, die eigene Wahrheit schaffen, aber mehr Macht zur Veränderung hat doch keiner. Wir können unser Leben in die Hand nehmen und Verantwortung für uns und unser Handeln übernehmen, aber dadurch werden wir nicht grundsätzliche Dinge in der realen Welt verändern. Wir können dadurch dieses Unbehaben nicht los werden. Gerade jetzt in Zeiten der Wirtschaftskrise und des Zusammenbruchs des virtuellen, globalen Finanzsystems denke ich, spüren viele Leute diese Ohnmacht. Was ist nun die Lösung, zu flüchten, wie Werner in eine virtuelle Welt?


    Zitat

    Aber ich habe alle Wählscheiben von den Telefonen weggedichtet! Meine Kinder wissen nämlich gar nicht mehr, dass da einmal etwas zum drehen dran war. Dirk besitzt dafür ein Handy! Also, was Ort und Zeit der Handlung angeht ...


    Meine Kinder sind auch ganz fasziniert vom Telefon meiner Oma, das hat nämlich eine Drehscheibe und das gibt sie nicht her.

    Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist. Elias Canetti

  • ... , aber mehr Macht zur Veränderung hat doch keiner.


    Warum noch mehr Macht? Jeder muß sich seinem bischen Macht bewußt sein.
    Es ist kein Zusammenbruch der zu bedauern ist, sondern die großartige Veränderung ist in vollem Gange.


    Als ich auf der Leipziger Buchmesse war und als "Mr.Wichtig" dachte, die ganze Welt würde auf mich warten, da war meine Entäuschung groß, wie unbedeutend mein Werk für die Welt ist.
    Erst als ich mich innerlich zurück nehmen konnte, da war es, als ob mit dem Buch ein Samenkorn aufgehen würde.
    Meine erste Haltung war, als wollte das Weizenkorn der ganze Acker sein.


    ... , aber dadurch werden wir nicht grundsätzliche Dinge in der realen Welt verändern.


    Doch! Hast Du auf www.der-birkenwald.de schon meine Geschichten gesehen?
    Ich durfte neulich eine Lesung in Österreich machen, weil eine Frau "Das Bonbon" so toll fand.
    Würde ich erwarten, dass alle Zuhörer wie verwandelt nach Hause gehen, es wäre erstens vermessen und zweitens wäre ich enttäuscht.
    Aber zwei Menschen haben mir ganz liebe und berührte Emails geschrieben.


    Habe die Geduld, auf die anderen Menschen zu warten. Teilweise finde ich die Veränderungen schon bedrohlich schnell !

  • Als ich mit dem Birkenwald anfing, da war eine doppelseitige 3,5" HD Diskette ein unvorstellbar großes Medium: 1,4 MB !

    Ich glaube, die meinte ich! Danke für die Infos, so was lese ich nur zu gerne, um mir mal wieder bewusst zu machen, wo wir heute sind.


    Aber wir sollten uns lieber Fragen, warum unser Leben immer streßiger wird, je mehr Erleichterungen wir erfinden?

    Tja...darüber werde ich mir mal ein paar Gedanken machen :-k Das ist echt gruselig.


    Genau wie gerade in der Geschichte. Ich bin auf Seite 124 wo Dirk und Werner wieder in Kontakt kommen. Es ist echt gruselig darüber nachzudenken, was aus den realen Körpern von Dirk und Eva geworden ist :pale:

    Das Missliche an neuen Büchern ist, dass sie uns hindern, die alten zu lesen.
    J.Joubert

  • Es ist echt gruselig darüber nachzudenken, was aus den realen Körpern von Dirk und Eva geworden ist :pale:

    :pale: :-x :pale: :-x :pale: Ich habe gerade Kai-Michael Böttchers Beitrag vom 26. Mai zu diesem Thema gelesen :-x :pale: :-x

    Das Missliche an neuen Büchern ist, dass sie uns hindern, die alten zu lesen.
    J.Joubert

  • [
    Du hast es sehr gut auf den Punkt gebracht, wie negativ sich unsere reale Welt durch die fortschreitende Technisierung und Automatisierung verändert , die Menschlichkeit, das Mitgefühl, der Sinn geht den Menschen verloren und es macht sich ein Unbehagen breit. Aber wir können uns doch keine "bessere virtuelle Welt" basteln. Wir können uns in unserer näheren Umgebung die eigene Welt, die eigene Wahrheit schaffen, aber mehr Macht zur Veränderung hat doch keiner. Wir können unser Leben in die Hand nehmen und Verantwortung für uns und unser Handeln übernehmen, aber dadurch werden wir nicht grundsätzliche Dinge in der realen Welt verändern. Wir können dadurch dieses Unbehaben nicht los werden. Gerade jetzt in Zeiten der Wirtschaftskrise und des Zusammenbruchs des virtuellen, globalen Finanzsystems denke ich, spüren viele Leute diese Ohnmacht. Was ist nun die Lösung, zu flüchten, wie Werner in eine virtuelle Welt?


    Es gibt wohl stets einander ergänzende, teils widersprechende Bewegungen in der Gesellschaft, und ja auch in jedem einzelnen von uns. Wenn es einerseits beunruhigende Entwicklungen geben sollte, so würde ich nicht immer nur von der anonymen Gesellschaft reden..., und auch nicht nur von den negantiven Entwicklungen.


    Andererseits ist es meines Erachtens utopisch, sich selbst als dahingegen vollkommenen, friedvollen (etc...) Menschen zu betrachten: auch in uns gibt es das Gegensätzliche. Deswegen wären die proizierten Bilder Dirks oder Evas auch nicht nur reine "Sonnenuntergänge über dem Meer"...


    Es geht wohl eher um ein Umdenken und Umspüren (nicht Flucht!), die aber doch schon unterschwellig im Gang sind: immer mehr Menschen sehen doch, dass wir mit einem gewissem Lebensstil gegen die Wand fahren. Und selbst das Erscheinen von eben jenen "negativen" Phänomenen in unserer Gesellschaft, sei es Abhängigkeiten, Leere, Unstabilität von Beziehungen etc..., sind Ausdruck des Unbehagens, das wiederum klar macht, dass der Mensch für was anderes gemacht ist!


  • Es ist kein Zusammenbruch der zu bedauern ist, sondern die großartige Veränderung ist in vollem Gange.


    Habe die Geduld, auf die anderen Menschen zu warten. Teilweise finde ich die Veränderungen schon bedrohlich schnell !


    Ach so siehst Du das ... den Gedanken hatte ich auch schon; ein kaputtes, dem Wesen des Menschen entgegenstehendes System geht unter. Derzeit wird aber eher verzweifelt versucht - durch Milliarden, die in das System gepumpt werden - die bestehenden Verhältnisse am Leben zu erhalten, als den Zusammenbruch als Chance zum Umdenken zu nutzen. Welche Veränderungen findest Du denn bedrohlich schnell?

    Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist. Elias Canetti


  • Andererseits ist es meines Erachtens utopisch, sich selbst als dahingegen vollkommenen, friedvollen (etc...) Menschen zu betrachten: auch in uns gibt es das Gegensätzliche. Deswegen wären die proizierten Bilder Dirks oder Evas auch nicht nur reine "Sonnenuntergänge über dem Meer"...


    Es geht wohl eher um ein Umdenken und Umspüren (nicht Flucht!), die aber doch schon unterschwellig im Gang sind: immer mehr Menschen sehen doch, dass wir mit einem gewissem Lebensstil gegen die Wand fahren. Und selbst das Erscheinen von eben jenen "negativen" Phänomenen in unserer Gesellschaft, sei es Abhängigkeiten, Leere, Unstabilität von Beziehungen etc..., sind Ausdruck des Unbehagens, das wiederum klar macht, dass der Mensch für was anderes gemacht ist!


    Stimmt, in jedem von uns gibt es Gegensätze. Der Unterschied zu Dirk ist allerdings, daß er sich dessen sehr bewußt ist, daß er durch sein Denken, seine Vorstellungen, durch seine projizierten Bilder, seine Umwelt, sein Leben verändert. Und er hat die Gewissheit, daß über seinem Leben ein Schutzengel wacht, der es gut mit ihm meint und im Bedarfsfall Dinge nach seinem Willen verändert. Wie bereits erwähnt, geben ja viele Menschen die Verantwortung für ihr Leben gerne ab.


    Ich hoffe es, daß ein Umdenken in großem Stil im Gange ist!

    Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist. Elias Canetti