Thomas Bernhard - Wittgensteins Neffe

  • Vor 20 Jahren starb der „Volksverhetzer“ Thomas Bernhard, dessen im Burgtheater uraufgeführten Stück „Heldenplatz“ einen Skandal verursachte. Die Erzählung „Wittgensteins Neffe“ zählt sicherlich zum persönlichsten Werke des Österreichers.



    Thomas Bernhard beschreibt das Leben und den Sterbensprozess seines besten Freundes Paul Wittgenstein, Neffe des Philosophen Ludwig Wittgenstein und Nachkomme der alten österreichischen Familie gleichen Namens. Zugleich aber ist die Geschichte eine Biographie seiner selbst, eine kritische Abhandlung über Kunst und Kultur in Österreich, aber dennoch bleibt immer das tragische Schicksal des bemerkenswerten Menschen Paul Wittgenstein im Vordergrund.



    Thomas Bernhard, der für seine unverblümte Sprache und seine skandalösen Inhalte bekannt und berüchtigt war, legt mit dieser Erzählung etwas ganz andersartiges vor. Die Sprache ist liebevoll oder wie Marcel Reich-Ranicki sagt „zärtlich“. Auch der Aufbau des Buches und die Beschreibungen verleihen der Traurigkeit und Aussichtlosigkeit der Lage ihr Gesicht. Der Misanthrop Bernhard schildert in subtiler Weise das Leben und das Sterben eines geliebten Menschen wie wenige Autoren es bisher getan haben.



    Dennoch spart auch in diesem Buch der Autor nicht an Kritik. Kritik am österreichischen Gesundheitssystem, an der damaligen medizinischen Behandlung von psychisch Kranken, am Umgang mit Kranken. Auch der Titel als solches kann als Kritik verstanden werden. Paul Wittgenstein, der im Schatten seines Onkels, dem Verfasser des Tractatus logico-philosophicus steht. Die Gesellschaft sieht nur noch den Verrückten in Paul Wittgenstein, den Opernliebhaber, den Neffen Ludwig Wittgensteins, aber das wahre Wesen, das wahre Genie Pauls bleibt ihnen verborgen.



    Dieser Roman sollte Teil seiner Autobiographie in 5 Bänden werden, zu welcher es aber nicht kam. „Wittgenstein Neffe“ wurde als Roman herausgegeben. Die Erzählung passte nicht ins Bild des skandalösen Nestbeschmutzers und blieb, wenn auch von der Literaturkritik gelobt, am Büchermarkt bescheiden.



    Völlig zu Unrecht ist dieses Werk Bernhards eher unbekannt. Es zeigt eine andere Seite des skandalösen Autors, eine Menschliche, eine Anfassbare. Zum ersten Mal wird der Misanthrop selbst zum Menschen in dem er auf tieftraurige Weise das Schicksal eines Freundes beschreibt. Zugleich zeichnet die Erzählung eine Bild Bernhards, das vielen Leser verschleiert blieb. Er beschreibt seine tiefe Enttäuschung nach der Verleihung des „Grillparzer-Preis“, aber auch seine einzigartige Liebe zu seinem „Lebensmenschen“ bzw. seine tiefe Zuneigung zu seinem Freund und Seelenverwandten Paul Wittgenstein.


    Ein zutiefst schockierender und berührender, aber auch leiser Roman eines Klassikers der österreichischen Moderne an dessen Ende Melancholie und Traurigkeit stehen.