José Saramago - Die Stadt der Sehenden/ Ensaio sobre la lucidez

  • Nicht immer kann mich Saramago begeistern, doch mit diesem Roman ist ihm eine vortreffliche "Fortsetzung" zu der Stadt der Blinden gelungen.
    Natürlich lassen sich die zwei Romane unabhängig voneinander lesen, doch vieles entgeht dem Leser, wenn er auf die Lektüre des ersten Werkes verzichtet.
    Nicht nur der Titel, die ganze Geschichte der Stadt der Sehenden ist ein Gegenstück zur Stadt der Blinden.


    Wo im ersten Roman Gewalt herrschte, siegt hier die Menschlichkeit. Saramagos humanistischer Roman hebt das Intellekt der Bürger hervor und entlarvt die Arroganz der "Staatsdiener", sprich der Regierung.
    Jede Seite eine Herausforderung an den Verstand, ein literarischer Genuss gefüllt mit perfekt dosiertem Sarkasmus, klugem Humor und aufrüttelnden Wendungen.
    Fasziniert von Saramagos Sprache, Intelligenz und Ironie, für mich einer der interessantesten zeitgenössischen Romane.


    herzlichst: alixe

    [i][color=#000066][font='Verdana, Helvetica, sans-serif']Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand. [size=8](Erasmus von Rotterdam)

    Einmal editiert, zuletzt von K.-G. Beck-Ewe ()

  • Mensch Schade dass hier noch keine weiteren Meinungen zu diesem Buch zu finden sind. Habe vor einer Weile die Stadt der Blinden gelesen, und als ich entdeckte, dass es eine Art zweiten Teil gibt wurde ich so neugierig, dass ich es schließlich lesen musste.
    Und wieder hat mich Saramago mit seiner Sprache und seinem Schreibstil total in seinen Bann gezogen. Für viele mag seine Art zu schreiben anstrengend wirken, denn er benutzt zwar wörtliche Rede, allerdings ohne diese mit Anführungszeichen oder "sagte er" zu unterstreichen. So ist es oft schwer herauszubekommen wer gerade was sagt. Wenn man sich davon nicht beeinflussen lässt (mir war es oftmals egal wer was sagt, schließlich kommt es letztlich auf den Sinn des Gesagten an), kann man dieses Buch allerdings sehr schnell runterlesen da kaum Absätze gemacht werden. Ewig lange verschachtelte oder einfach von viel wörtlicher Rede zugepflasterte Sätze die wie ein Bach herabfließen - ich fands toll. Als ich auf den ersten Seiten mitbekam in welchen Bann mich diese Schreibart zieht, musste ich richtig grinsen und wurde nur noch schneller mit den Augen. :)


    Aber auch die Handlung lässt nicht zu wünschen übrig, wir treffen alte Bekannte aus der Stadt der Blinden wieder, einige wenige Themen daraus findet man auch in der Stadt der Sehenden wieder, aber ich denke nicht dass es unbedingt nötig ist den Vorgänger zu lesen um das Buch zu verstehen.


    Die Geschichte handelt davon, dass die Menschen einer Stadt bei einer Wahl fast nur leere, weiße Stimmzettel abgeben. Dies erschreckt die Regierung und sie versuchen mit allen Mitteln die Bürger wieder zur Vernunft zu bringen, und versuchen es mit einer zweiten Wahl - die nur noch eindeutiger ausfällt.
    Wie die Regierung darauf reagiert, und wie die Bürger in einer Stadt ohne Regierung und Staatsmacht zurecht kommt erfährt man in diesem Buch.

    "Wie soll auch eine Generation von Männern, die hauptsächlich von Müttern, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen umsorgt und erzogen wurde, Frauen glücklich machen?"
    (Generation Doof)

  • In jener Stadt, die vier Jahre zuvor von einer plötzlichen Blindheitsepidemie heimgesucht wurde, trägt sich erneut ein unerklärliches, aufrüttelndes Ereignis zu: bei einer regulären Parlamentswahl bleibt eine überwältigende Mehrheit von Stimmzetteln leer!


    Die politische Führung ist völlig konsterniert und sieht fassungslos zu, wie die Menschen mit der Situation umgehen bzw. weiterleben, als wäre nichts gewesen. Erste Repressalien sollen die Bürger zur Vernunft bringen, doch sie ergreifen Eigeninitiative und organisieren sich die Straßenreinigung und die Verbrechensaufklärung einfach selbst, als der Staat ihnen diese Dienste nicht mehr zur Verfügung stellt.


    Die Politik glaubt an eine Verschwörung und ermittelt gegen einige Verdächtige, riegelt die Stadt hermetisch ab, nimmt Menschen in Haft und schickt einen gestandenen langjährigen Polizisten auf eine spezielle Mission ...


    Wie schon bei "Die Stadt der Blinden", auf die das Buch immer wieder Bezug nimmt, erstaunt Saramago auch hier wieder mit ellenlangen Sätzen ohne wörtliche Rede, sehr langen Absätzen und außergewöhnlichen Metaphern. Zunächst erschlagen diese Stilmittel den Leser beinahe, durch die ersten 50 Seiten musste ich mich mühsam kämpfen. Die Beschreibung der Wahl an sich empfand ich schon fast als quälend politisch und zäh, doch sobald es um die Folgen der vielen leer gebliebenen Stimmzettel ging, war der Bann gebrochen.


    Saramago schreibt düster, verzweifelt, eine drückende, beängstigende Stimmung lässt sich förmlich greifen - so wie es in dieser Stadt im Belagerungszustand sein muss. Er schildert eine Extremsituation, die nicht nur die Bürger der Landes, sondern auch die intriganten und selbstherrlichen Politiker an ihre Grenzen bringt. Kein Buch zum Wohlfühlen und gemütlichen Eintauchen, sondern ein Stück Literatur, das Konzentration verlangt und irritiert, aufwühlt, Unbehagen verursacht, aber gerade deswegen im Gedächtnis bleibt.

  • Weiß, die Farbe des Lichts, so sagt man, die Farbe der Unschuld, die Farbe der Reinheit - aber auch die Farbe der Trauer und des Todes. In José Saramagos Roman wird die die Nichtfarbe Weiß zum zweiten Mal, nach der Stadt der Blinden, zum Symbol der menschlichen Unzulänglichkeit. Stand die weiße Blindheit noch für das Nichterkennen, die Ignoranz gegenüber der menschlichen Natur, wird Weiß hier zum Zeichen des Widerstands.
    In einer namenlosen Stadt in einem namenlosen Land werden bei einer Landtagswahl ungewöhnlich viele nicht ausgefüllte, eben "weiße", Stimmzettel abgegeben. Die Regierungspartei sieht in der Verweigerung der Bürger einen Aufstand, verlässt die Hauptstadt und verhängt den Ausnahmezustand. Entgegen aller Erwartungen verbleibt das Leben in der von allen Sicherheitskräften und - nach dem Rücktritt des Bürgermeisters - von jeglicher Verwaltung verlassenen Stadt friedlich.


    Es ist eine individuumslose Welt, in die der Beginn von Saramagos Parabel führt - eine anonyme, namenlose Masse, die kollektiv "weiß" wählt, eine ebenso anonyme, wenn auch kleinere Menge von regierungstreuen Wählern, und über allem die namen- und gesichtslose Riesenmaschine, die "Regierung", drohend, wütend, aus Einzelteilen, die nur durch ihre Funktion und ihr Funktionieren gekennzeichnet sind. Was innerhalb der Maschine nicht funktioniert, wird ausgewechselt. Wenn das Volk nicht funktioniert, gilt es das faule Teil zu finden, das den Fehler verursacht.


    In der zweiten Hälfte verändert Saramago die Voraussetzungen: Er führt Individuuen ein. Zunächst kaum bemerkt vom Leser lehnt sich ein Bürgermeister gegen die übergeordnete Macht der Regierungsmaschine auf. Die Auswechslung erfolgt hier noch kurz und schmerzlos. Auftritt, Rücktritt, Abtritt. Auf ein Ersatzteil wird gleich mal verzichtet, die Stadt soll nicht repariert, sie soll auseinandergenommen und dann erst neu zusammengesetzt werden. Zum Auseinandernehmen werden ein Kommissar und zwei Gehilfen in die Stadt geschleust. Die Regierung sucht das faule Teil, der Kommissar soll es finden, vermutet wird es in der Frau des Augenarztes, eine Bekannte aus Die Stadt der Blinden, damals die einzige, die ihr Augenlicht behielt. Wer anders war, wird anders bleiben: Sie steht im Verdacht, den "Aufstand" angezettelt zu haben.
    Saramago lässt den Kommissar nach der Begegnung mit der Frau des Augenarztes aus seiner reinen Funtionalität heraustreten, die Sehende verleiht dem Suchenden eine eigene Perspektive. Damit wachsen seine Zweifel.


    Der Beginn der Geschichte verheißt Erneuerung, deutet auf die Chance, Veränderungen zu ermöglichen, wenn nur genügend Menschen es versuchen. Der Leser hofft: Er hofft auf eine Erfüllung des Titels, auf ein Sehen, auf eine Erkenntnis, klammert sich an die Verheißung, die das Wort "weiß" in seiner positiven Bedeutung mit sich bringt, sieht das sprichwörtliche Licht am Horizont. Die Läuterung des Kommissars schürt die Hoffung einmal mehr. Je "reiner" seine Gestalt, je klarer seine Perspektive, desto lichter, freudiger, leichter die Erwartungen des Lesers.
    Umso schmerzhafter ist der Fall:
    Offen lässt Saramago auch dieses Ende wieder, es wäre keine Parabel aus der Hand des Portugiesen, wäre am Schluss irgendetwas entschieden. Doch davor tritt er dem Leser in den Magen, kräftig, gut gezielt. Kaum zehn Seiten genügen, um die Positionen klarzustellen: Die Welt ist schlecht, alle Aktionen sind sinnlos, gute Absichten haben schlimme Folgen, Weiß ist die Farbe der Trauer und trauern soll der Leser.


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    (leicht überarbeitetes Selbstzitat aus 'nem uralten Blog)