Jean-Marie Gustave Le Clézio - Revolutionen

  • Nizza in den 1950er Jahren. Der fünfzehnjährige Jean Marro besucht oft seine blinde alte Tante Catherine, die ihm Geschichten von der Insel Mauritius erzählt, dem verlorenen Paradies der Marros. Tante Catherine ist für Jean der Schlüssel zu einer lebendigen Vergangenheit, die Verbindung zu dem Bretonen Jean Eus Marro, der nach der Französischen Revolution an der Kanonade von Valmy teilnahm und später nach Mauritius auswanderte. Jeans Gegenwart ist geprägt vom Algerienkrieg, der Frankreich erschüttert. Er flüchtet nach London, um Medizin zu studieren, zieht ruhelos weiter nach Mexiko, wo er 1968 die Niederschlagung des Volksaufstands erlebt. Politische Revolutionen und private Revolten prägen sein Leben; jede Phase steht im Zeichen einer intensiven Liebesbeziehung. Ruhe findet er erst bei der Algerierin Mariam, mit der er nach Mauritius fährt.
    Revolutionen ist Le Clézios persönlichstes Buch. Nizza, London, Mexiko, Mauritius sind Stationen seines Lebens. Jean Marro ist sein fiktionales Alter Ego. Das Widerspiel der verschiedenen Epochen, die wechselseitige Spiegelung der Charaktere und die klare, poetische Sprache machen den Roman zu einem großen Leseerlebnis.


    Der Umschlagtext weist ja eigentlich schon darauf hin - ein Aspekt des Buches sind die Revolutionen. Gleich ob es jetzt tatsächliche sind, niedergeschlagene oder innerliche. Es wird in der Familiengeschichte der "Marros" umgewälzt - zuerst die französische Revolution, die enttäuscht, denn sie verrät ihre Ideale. In dieser Enttäuschung verharrt auch sein später Nachkomme, auch Jean, der sich 1968 nicht anschließt. Sondern verharrt, abwartet und gewissermaßen sich gegenüber im Unklaren bleibt bei den eigenen Lebenszielen - dennoch prägen ihn die Ereignisse in Mexiko soweit, dass er zumindest sich über sein persönliches Glück (oder zumindest die Linderung des Unglücks) klarer wird. Trotz Passivität, die immer und immer wieder nur Dokumentation und (innere) Stellungnahme zulässt, die aber jegliches Eingreifen verhindert. Eine fatalistische Haltung ist es so aber eben noch nicht, es bleibt eine Art Ohnmacht.
    Besonders populär dürfte ja fast der "multikulturelle" Aspekt des Buches sein - durch die Umwälzungen der Industrialisierung und der Zerstörung ursprünglicherer Wirtschaftskreisläufe, der Revolutionen, des Kolonialismus und der Dekolonialisierung steckt in der Lebensgeschichte von vielen ein Stück Migration. Bei Clezió wirkt das bereichernd - allein durch die Geschichten, die zu erzählen und zu erfahren sind. Tiefer gegriffen geht es weniger um den gegenwärtigen Zustand, sondern um die Sehnsucht nach festen Bezugspunkten, die aus einer (immer) leidvollen Entwurzelung erwächst. Es geht um die Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt und Umgebung in die ihn die kapitalistische (in vielerlei Hinsichten) Gesellschaft zwingt. Unter diesem Aspekt sind die Parallelen der Migration aus der Bretagne (die aufgrund der "vorsätzlich" rückständig gehaltenen Wirtschaft dieser Region eine lange Tradition hat) seiner Familie, die Flucht von Indigenen aus Mexiko in die USA, die Flucht vor Kriegsdienst aus Frankreich, die Verschleppung von Schwarzen als Sklaven nach Mauritius, die Migration aus Algerien nach Frankreich u.a. vergleichbar und ähnlich verständlich. Auch wenn er natürlich - wie selbstverständlich - die Lebensumstände nicht gleichsetzt, sondern sie durch die individuelle Darstellung durchaus differenziert darstellt.
    Auch wenn die industrielle Verwertung der Umwelt das in gewissem Maße überschattet, so bricht nach der fortlaufenden Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Vergangenheit doch der "neue Jean" hervor. Er konfrontiert sich selbst mit der eigenen Herkunft, besucht auf Mauritius, sucht und sucht zu verstehen. Er findet sein Glück in seiner Frau, leistet doch noch Militärdienst (allerdings ohne Krieg) um eben die Ruhe des "bürgerlichen Lebens" (so kann man es verstehen) doch noch zu erreichen.


    Sprachlich gefällt das Buch auch - durch die tagebuchartigen Aufzeichnungen wird es persönlich genug um Schicksale nachvollziehen zu können; noch besser ist nur Jeans "Kristallbuch" mit den "Verlustmeldungen" des Algerienkrieges. Durch diese Distanziertheit wird die Monstrosität des Krieges, die vernichtende aber unbegreifliche Gewalt deutlich. Wie kann man auch ohnmächtiger sein als die Zahlen so wahrzunehmen, zu notieren, nebeneinander zu stellen und zu sammeln? Durchaus eindrucksvoll. Jedenfalls neben den persönlichen Kriegsschilderungen.


    Jean zitterte. Er war sich wohl gerade darüber klar geworden, dass der junge Araber, für den er eben solchen Hass empfunden hatte, niemand anders war als der große dunkelhäutige Typ, dessen Hände im Rücken mit Draht zusammengebunden und dessen Hosentaschen nach außen gekehrt worden waren, derselbe Typ, den der Freund von Kernés an der Leine über den Hang in die Schlucht hinabgezerrt hatte, wo er erschossen wurde.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam