Hansjörg Schertenleib - Das Regenorchester

  • Klappentext:
    " Irland sollte für einen Schweizer Schriftsteller zu einem Fluchtpunkt werden, zu dem Ort, an dem seine Frau und er ihre Liebe lebten. Nun sitzt er betrogen und voller Zweifel in seinem Haus und versucht mit Selbstironie über die Runden zu kommen. Da begegnet ihm Niamh, eine sechzigjährige Irin, die ihn zu sich einlädt, um ihn zum Chronisten ihres Lebens zu machen. Niamh reißt ihn aus seiner Trauer und führt ihm die Wunder des alten, untergegangenen Irland vor Augen. Mit betörend schönen Worten nimmt sie ihn mit auf die Reise zurück zu ihrer vielköpfigen Familie, zu ihrer deutschen Freundin, ihrer traurigen, verlorenen Liebe - und sie zeigt ihm eine andere Seite der Musik, die Musik des Regens, die man nur in Irland hören kann. Bald wird er zu ihrer Vertrauten und kann sich auf ihr letztes großes Geheimnis einlassen, das ihm auch einen Weg in die Zukunft weist...."


    Mich hat die Geschichte von Anfang an in ihren Bann gezogen. Mit unpatetischen aber poetisch-schönen Worten beschreibt Schertenleib irische Landschaft und Stimmungen, so dass ich schon auf den ersten Seiten das Gefühl hatte, dort angekommen zu sein. Die beiden sehr ungleichen Protagonisten, der junge Schweizer Schriftsteller "Sean", tief verunsichert, weil er von seiner Frau verlassen wurde und Niamh, die kurz vor ihrem Ende steht, werden sehr behutsam charakterisiert. Ähnlich wie bei Harold und Maud spielt der Altersunterschied zwischen den beiden bald keine große Rolle mehr, da sie durch die Aufgabe ihren Kummer zu bewältigen, seelenverwandt werden. Anfangs sind die beiden Erzählstränge - die Geschichte von Sean und die Geschichte von Niamh streng getrennt, als Leser hüpft man hin und her, auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zu Beginn erfährt man auch nur wenig von Niamhs Schicksal, sie gibt es nur zögernd preis. Nach und nach verbinden sich die beiden Geschichten immer enger, finden zu einer Synthese und am Ende findet sich ein gemeinsames Lebensmotto:
    Es ist nicht die Zeit, die alle Wunden heilt. Aber die Vergangenheit, die man nicht vergessen kann, macht uns aus. Erinnern, sein Leben kennen, sich verzeihen und nicht neu erfinden, das ist der Weg in eine Zukunft, die wir uns im Kummer gar nicht vorstellen können.


    Das "Regenorchester" ist übrigens eine Sammlung von verschiedenen Gläsern, die Niamh in ihrem Garten aufgestellt hat, um die "Musik" des irischen Regens hörbar zu machen und es spielt am Ende der Geschichte eine besondere Rolle..


    Für mich eine wunderschöne Geschichte, die sehr einfühlsam und ohne jeglichen Kitsch an tiefe Gefühle heranführt. Dabei sind auch die rührenden Szenen unpathetisch geschildert und sie wechseln sich ab mit lustigen Szenen, denn die beiden Hauptdarsteller sind schon sehr originell und Niamh kann durchaus sehr derb sein. Besonders die irischen Redewendungen z.B. "I`m as sick as a plane to Lourdes" etc. hatten es mir angetan! Manche Symbole in der Geschichte bleiben offen und lassen sich nur ansatzweise deuten, z.B. die Bienen die durch Seans Zimmer fliegen, als er Niamhs Geschichte aufschreibt...


    Wäre klasse, wenn jemand mit mir versuchen würde diese Bienen zu deuten, ich habe so eine Ahnung, aber...
    Ein sehr lesenswertes Buch!! Bin gespannt auf euer Urteil! :winken:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Es ist nicht die Zeit, die alle Wunden heilt. Aber die Vergangenheit, die man nicht vergessen kann, macht uns aus. Erinnern, sein Leben kennen, sich verzeihen und nicht neu erfinden, das ist der Weg in eine Zukunft, die wir uns im Kummer gar nicht vorstellen können.


    cheriechen


    Ich war ja schon im >Ich lese gerade-Bereich< auf dieses Buch aufmerksam geworden, und hatte es gleich auf meine Wunschliste gesetzt... :thumleft: Aber ein Autor, der solch einfühlsame Worte findet, der "zwingt" mich ja geradezu, dieses Buch sofort zu bestellen.
    DANKE für die Vorstellung dieses Buches. :D


    Gruss Bonprix :wink:

  • Hallo Bonprix, ich denke die Investition lohnt sich! Das Buch hat mein Herz gewärmt in winterlicher Zeit... :rendeer:
    Hoffe, du hast auch so viel Spaß damit!
    Liebe Grüße und fröhliche Weihnachten :love: :winken: :santa: :bewertung1von5:
    Cheriechen

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Ich habe gerade gelesen, wie der Roman bei Amazon beschrieben wird und muss sagen, alle 3 Rezensionen sind sehr zutreffend... :thumright:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Mir geht es wie Bonprix. Im "Ich lese gerade Bereich" bereits aufgefallen und nun nach deiner sehr schönen Rezension endgültig auf meine Wunschliste gewandert. Danke cheriechen!


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Leon de Winter, Malibu
    :study: Anne Perry, Der Weihnachtsbesuch

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Mir geht es wie Bonprix. Im "Ich lese gerade Bereich" bereits aufgefallen und nun nach deiner sehr schönen Rezension endgültig auf meine Wunschliste gewandert. Danke cheriechen!

    Da geht es uns wohl allen gleich. :wink:
    Danke cheriechen für die schöne Rezi! :thumleft:

    Liebe Lesegrüße
    Eure Süße
    :study::)


    Erinnerungen, die unser Herz berühren, gehen niemals verloren.

  • Bin gespannt auf eure Meinung! Lesen war ja schon immer schön, aber lesen und mit Gleichgesinnten darüber plaudern, das ist gigantisch! :cheers:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Nachdem ihn seine Frau verlassen hat, ist der Schweizer Schriftsteller, der seit langem in Donegal lebt, ziemlich am Ende, auch wenn die Beziehung schon lange nicht mehr intakt war.


    Eine Zufallsbegegnung mit Niamh, einer Frau Anfang 60, holt ihn ein wenig aus seiner Lethargie. Sie weiß, dass er Schriftsteller ist, sie weiß, dass seine Frau auf und davon ist, und sie bittet ihn, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Dies bedeutet häufige Treffen der beiden, und nach und nach entsteht eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden, die man schon fast Liebe nennen könnte, wenn auch nicht im "herkömmlichen" Sinne.


    Es ist mir anfangs etwas schwergefallen, mich in das Buch hineinzufinden, weil ich Schertenleibs Sprache teils als ziemlich gekünstelt und seine Metaphern als ziemlich gewollt empfunden habe. Auch dem Protagonisten bin ich erst nicht wirklich nähergekommen.


    Als Niamh begann, von ihrem Leben zu erzählen, änderte sich meine Wahrnehmung jedoch stark. Ihr Tonfall ist ganz anders als der des Schriftstellers, einfacher, geradliniger, und es hat mich einfach berührt, dieses recht typische irische Frauenleben, geprägt von einer Kindheit mit wenig Geld und vielen Geschwistern, dem Katholizismus der Familie und den Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, so dass auch Niamh und ihre Geschwister größtenteils irgendwann in England gelandet sind, wo sie als Iren zwar als billige Arbeitskräfte gut genug waren, gesellschaftlich aber wenig Anerkennung genossen.


    Eine gewisse Tragik haftet ihrer Geschichte an, doch Niamh ist trotzdem ein sehr lebensbejahender Mensch und war mir mit all ihren Macken sympathisch. Und auch den Schriftsteller mochte ich mit der Zeit immer lieber. Ebenso den Schreibstil - es gab immer weniger schräge Sprachbilder und dafür schöne, einfühlsame Beschreibungen von Menschen, Orten und Begebenheiten. Besonders eine bestimmte wunderbare Szene wird mir wohl noch lange im Gedächtnis bleiben.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Die Geschichte wird von einem Schriftsteller erzählt, der hier als Ich-Erzähler auftritt. Seine Frau hat ihn verlassen, womit er doch zu kämpfen hat. Eines Tages lernt er die ältere Niamh kennen, eine Irin, die ihm ihre Lebensgeschichte erzählt. Wir befinden uns also in zwei Zeitzonen. Einmal im Heute beim Schriftsteller und zurück in Niamhs Jugendzeit. Sie hatte eine relativ gute Kindheit. Die Eltern sorgten immer dafür, dass Essen im Haus war. Es gab also auch Familienväter, die ihr Geld nicht versoffen haben.


    Nach dem Tod eines Bruders kam ihre Mutter nicht mehr mit ihrem Leben zurecht und starb dann auch bald. Niamh ging wegen der Arbeit nach London und verbrachte dort ihre jungen Jahre. Sie lebte anfangs mit ihrer Schwester zusammen, die schon vorher von zuhause auszog. Doch eines Tages verliebte diese sich in einen Schotten und so trennten sich die Wege der Schwestern.


    Ich fand es spannend, die Geschichte mal aus der Perspektive einer Frau zu erleben. Bisher weiß ich nur von Männern oder ganzen Familien, die Irland verlassen haben, um ihr Glück woanders zu versuchen.


    Hansjörg Schertenleib hat einen angenehmen Schreibstil. Und zwischendurch laufen mir richtige Perlen über den Weg, wie zum Beispiel:


    "Auf dem Heimweg hatte mir mein Vater erzählt, wie die Welt zu ihren Seen gekommen war: Vor langer Zeit, als es noch nichts gab, nicht einmal Seen, fasste sich ein Junge in meinem Alter ein Herz und schleuderte mit aller Kraft einen Stein in den Himmel, um ihn in tausendundzwei Scherben zu zersplittern. Diese Scherben fielen auf die Erde nieder und blieben zwischen Tälern, Bergen und Hügeln liegen. Seither spiegelten sie das, was sie früher einmal selbst gewesen waren: Himmel..."


    Klingt das nicht gut?

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 84 von 80 - geschafft :)