als sie mit zwanzig
ein kind erwartete
wurde ihr heirat
befohlen
als sie geheiratet hatte
wurde ihr verzicht
auf alle studienpläne
befohlen
als sie mit dreißig
noch unternehmungslust zeigte
wurde ihr dienst im hause
befohlen
als sie mit vierzig
noch einmal zu leben versuchte
wurde ihr anstand und tugend
befohlen
als sie mit fünfzig
verbraucht und enttäuscht war
zog ihr mann
zu einer jüngeren frau
liebe gemeinde
wir befehlen zu viel
wir gehorchen zu viel
wir leben zu wenig
Ich lese eher selten Gedichte, aber da dieser Gedichtband mich seit einigen Jahren immer wieder fasziniert, möchte ich ihn gerne hier mal vorstellen.
Autor:
Kurt Marti wurde 1921 in Bern geboren und studierte Jura und Theologie in Bern und Basel. Sein literarisches Werk umfasst unter anderem Erzählungen, einen Roman und Gedichte. (frei nach der Biographie im vorgestellten Buch)
Das Thema der Gedichte:
Wie der Titel schon sagt sind in diesem Buch lyrische Leichenreden versammelt, welche aber viel schonungsloser mit dem Tod und der Trauer umgehen, als man es von Reden an Beerdigungen gewohnt ist.
Meine Meinung:
Es ist schwer zu sagen, was mich an diesem dünnen Büchlein am meisten anspricht, ob es die gesellschaftskritischen Texte sind, die mehr als nur aufrütteln, die schlichte und doch so nachdenkliche Sprache oder die Textausschnitte aus Werken anderer, welche den Gedichten immer wieder gegenüber gestellt werden und nochmals eine neue Sicht auf den Inhalt des jeweiligen Gedichtes eröffnen.
Ich kann dieses Büchlein jedenfalls immer wieder aufschlagen und Neues darin entdecken, und deshalb bekommt es von mir.
Wem aufrüttelnde Gedichte zusagen kann ich diese Gedichtesammlung nur wärmstens empfehlen.