Ralf Rothmann - Hitze

  • Berlin, wenige Jahre nach der Wende, eine Großküche in Kreuzberg, die ihre Kunden in West und Ost mit abgepackter Kost versorgt. Hier, zwischen riesigen Töpfen und Pfannen, begegnen wir dem Hilfskoch Simon DeLoo, einem ehemaligen Kameramann, den der Tod seiner Lebensgefährtin aus allen Zusammenhängen gerissen hat und der nun Essen ausfährt im „gewendeten Berlin“.
    Auf seinen Touren trifft er Lucilla, eine junge Stadtstreicherin aus Polen, und glaubt, die Silhouette seiner früheren Frau wiederzusehen. Er versorgt sie mit deren Kleidung, überläßt ihr die leerstehende Wohnung – doch sie zerreißt sein Illusionsgespinst, entzieht sich ihm, und erst in ihrer Heimat, in der vor Hitze flirrenden Landschaft der Pommerschen Seenplatte, sieht er sie wirklich: ihr Gesicht, in dem es „etwas Helleres gibt als Intelligenz“, ihren Körper, der ihn verwirrt.


    Ein Berliner Großstadtroman. Der Hintergrund spricht dafür – die Kneipen, die Straßen, die Obdachlosen, die Großküche. Und, auch die Vergangenheit lehrte es, so ein Roman braucht dann wohl eine ganze Portion an Ekelhaftigkeiten darin – auch dieser Berlin-Roman hat eine Schlachthofszene; allerdings eine zeitgemäßere. Geschlachtet wird unpersönlicher, elektrischer, motorifizierter als in „Berlin Alexanderplatz“. Der Held ist anders – lustlos, am Leben; sein Verlust scheint immer leise mitzuschwingen – wird aber nicht thematisiert. Nur, als das Andere, die Neue – Lucilla – ins Leben tritt, da wird etwas klarer, was er denn verloren hat. Simon glaubt und hofft, dass er wiedergefunden, was er einst verloren hat. Er reist mit ihr nach Polen, lebt dort mit ihr und, er & wir merken es erst spät, ihrem Mann. Nach einem Höhepunkt voller Hitze, Ekstase und Glück – verendet er. Wird, so erfährt man später aus anderer Sicht, obdachlos und somit zerstört. Er gab alles auf. Und, wenn man noch den Prolog in Erinnerung hat, dann zweifelt man an seinem Weg.


    Durchaus interessant und spannend zu lesen – aber, allzuviele Andeutungen, allzuviel Bestreben sich zu Vergleichen – und dieser Vergleich (geg. Döblins „Berlin Alexanderplatz“) ging verloren.
    Was das Leben angeht, so ist das immer wieder auftretende Lied mit dem Refrain doch bezeichnend:
    „Halte durch, lieber Baum! Es sind nur noch hundert Jahre!“ - soviele (gefühlte?) Jahre bis zum Ende, zur Erlösung.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

  • Ich bin froh, dass hier mal ein "Rothmann" rezensiert wird, den ich als Autor persönlich sehr schätze. Um ehrlich zu sein habe ich, trotz des Lesens von Döblin und Hitze, diese Parallelen nicht erkannt und bin dankbar für die zusätzlichen Informationen. Ich halte Hitze nicht für das beste Werk von Rothmann, bin aber dennoch angetan von seiner irgendwie offenen, schnauzigen, mir irgendwie sehr nahen Sprache.


    Rothmann Interessierten würde ich unbedingt "Milch und Kohle" und wohl auch "Junges Licht" empfehlen!!!

  • Die Episoden, die Rothmann erzählt, lesen sich dank seiner lebhaften und bildreichen Sprache sehr schön, das Treiben in der Großküche, das Ausfahren der Mahlzeiten, der gemeinsame Kneipenbesuch nach Feierabend, der Abstecher in den Obdachlosenunterschlupf, ...
    Aber ich erkenne hinter den Einzelstücken die zusammenfassende Geschichte nicht, die der Klappentext verspricht.
    Simons Frau ist gestorben? Der Leser erfährt nichts darüber, sie könnte ihn genausogut verlassen haben. Einziger Fingerzeig: Ihre Kleider hängen noch im Schrank, so dass der Leser sich diesen Tod zusammenreimen muss. Wie vieles andere auch.


    Ich habe nichts gegen Geschichten, die nicht bis zum letzten Punkt die Handlung ausleuchten; der Leser sollte Freiraum für eigene Ideen und Phantasien haben. Doch in diesem Buch ist mir zu viel angedeutet und zu wenig erzählt, auch wenn das Wenige glänzend ist.


    Von Rothmann würde ich gern andere Bücher lesen, daher freue ich mich über Toms Vorschläge.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Schön, dass der Fred und eine Erinnerung an Rothmann nach über zwei Jahren wieder hochkam! Danke, Marie.


    Ja, hier verzettelt sich der Autor eventuell in den Andeutungen und im Geflirre eines Sommers mit seiner Hitze?


    Ich bleibe aber bei meiner absolut positiven Grundeinstellung Rothmann gegenüber, von dem hier zu wenig die Rede ist. "Milch und Kohle" bleibt einer meiner Lieblingsbücher von den Romanen, auch wenn es nun ein paar Jahre zurückliegt.


    Die beiden Kurzgeschichtenantholgien sind umwerfend!!! "Rehe am Meer" und "Hirsche am Strand" oder so.


    Das letztjährige (?) "Feuer brennt nicht" subt aber noch bei mir...:

  • Oh ja! "Milch und Kohle" ist wirklich sehr empfehlenswert. "Rehe am Meer" subt noch bei mir und "Hitze" sollte ich auch mal lesen. Ich beantrage mehr Lesezeit :study:

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

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  • Ich beantrage mehr Lesezeit


    Da schließe ich mich doch glatt an. :applause: Auf Ralf Rothmann bin ich durch Dich und Tom aufmerksam geworden und habe mir daraufhin "Junges Licht" angeschafft. Bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen, es zu lesen, merke aber schon, dass ich das im nächsten Jahr schleunigst nachholen sollte.


    Gruß
    mofre

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