Drei längere Erzählungen, in denen verschiedene Personen einem unbekannten Erzähler ihre Lebensgeschichte erzählen, deren wichtigste Phasen in die Zeit der Naziherrschaft, des Krieges und der Nachkriegszeit fallen.
(Klappentext der einzelnen Erzählungen in blau abgesetzt)
In der Titelgeschichte "Mein erster Mörder" wird ein bis dahin unbescholtener Mann wegen Totschlags zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Was haben sein Vater und dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg mit dem Sohn und seiner Tat zu tun?
Der Ich-Erzähler wird vom Mörder und seiner Frau zum Essen eingeladen. Im anschließenden Gespräch erzählt der Mörder, warum er trotz der Verbüßung seiner Haftstrafe immer noch das Gefühl habe, nicht genug bezahlt zu haben. Denn der Mord, für den er sich eigentlich schuldig fühlt, wurde nie gesühnt.
Leopold wächst in der Nachkriegszeit in beengten Wohnverhältnissen in einem Trümmerhaus in Wien auf; neben seinen Eltern wohnt auch die Großtante bei ihnen, die den Vater aufgezogen hat. Durch Andeutungen, deren Bestätigung er im heimlich gelesenenen Tagebuch der Großtante sucht, erfährt er von Kriegsverbrechen an ungarischen Häftlingen, an denen sein Vater beteiligt sein sollte. Der Vater, den Leopold als Schwächling, Feigling und Lügner erlebt, streitet alles ab.
Eine Frau erzählt in "Ein schöner Bastard" die Geschichte ihrer Familie: Ihr Vater war Deutscher, Halbjude, tschechischer Staatsbürger, gläubiger Christ und überzeugter Sozialdemokrat. Der Kampf ums Überleben zwingt die Familie in wechselnden politischen Systemen beständig neue Identitäten auf.
Friedrich, der Vater der erzählenden Frau, muss sich während des Krieges verstecken, weil er Halbjude ist. Nach dem Krieg wird er beinahe von aufgehetzten Tschechen gelyncht. Nach Gründung der Tschechoslowakai als sozialistischem Staat wird er ausgebürgert. Ebenso schlimm trifft es die Tochter, die von einer tschechischen auf eine deutsche, dann wieder auf eine tschechische Schule wechseln muss und jedesmal beweisen, dass sie eine gute Staatsbürgerin im jeweiligen System ist.
Bei allen Versuchen, sich aus prekären und bedrohlichen Situationen zu lavieren, kommt Friedrich vor allem sein Mundwerk immer wieder in die Quere, weil er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg halten kann. Zuletzt lebt er in Wien, wohin er geflohen ist, darf aber nicht mehr in seine (gefühlte) Heimat Prag zurück.
Zwei Freunde, Robert und Karl, flüchten in "Nach dem Endsieg" aus dem Reich der Nationalsozialisten. Nach einer langen Irrfahrt landet Karl in der Fremdenlegion; Robert wird verhaftet und gezwungen, für das Naziregime in den Krieg zu ziehen. Erst viele Jahre später treffen die Freunde einander wieder und stellen fest: Sie haben gegen ihren Willen in gegnerischen Armeen gekämpft.
Diese Geschichte basiert laut Aussagen des Autors auf den Erinnerungen des Wiener Malers Roman Haller, dem das Buch gewidmet ist.
In einem ruhigen Ton erzählt Vertlib diese realistischen Geschichten, die trotz der schicksalhaften Grausamkeiten und trotz des Leidens nie schrecklich oder ausweglos wirken. Die Protagonisten haben sich Mut bewahrt und ihren ganz eigenen Humor, um trotz Elend, Hunger, Verfolgung und Angst nicht aufzugeben. Die staatliche Willkür mit ihrem Rassismus und Nationalismus wird nicht angeklagt, sondern entlarvt sich in ihrer Dummheit, Sinnlosigkeit und Ignoranz selbst durch die individuellen Schicksale einzelner Menschen.
Empfehlenswert für jemanden, der sich für die Zeitgeschichte interessiert. Auch für Romanleser, denn die Geschichten entwickeln sich, streben einem Höhepunkt zu und enden mit einer kleinen Spitze (das Wort "Pointe" wäre missverständlich).
Marie