Herman Melville - Der Schreiber Bartleby / Bartleby, the Scrivener

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Über d. sanftmütig Unverschämte d. Verweigerung (der Gefangennahme) eines traurig.Einsamen.Phänomenal!Großartig gelesen!
  • Kurzmeinung

    SiriNYC
    Kurze eindringliche Erzählung über einen, der am Leben scheitert.
  • Ein Anwalt mit Sitz in der Wall Street erzählt uns die Geschichte eines seiner Angestellten, den er als Kopist beschäftigt hat. Bartleby, so sein Name, zurückhaltend und schweigsam, gilt lange Zeit als sein bester Mitarbeiter. Seine Schreibarbeiten sind eigentlich vorbildlich, wenn da nicht Bartlebys ablehnende Haltung gegen die nachträgliche Korrektur wäre. In sanftem, beinah schon teilnahmslosem Ton, verkündet er wiederholend „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun“. Diese Aussage ist die einzige Reaktion auf des Anwalts Anfragen. Der Anwalt aber ist eben wegen der ruhigen Art des Schreibers unfähig, seine Wut auszudrücken und ignoriert vorerst die Einstellung Barlebys.


    „Bei jedem anderen wäre ich sofort in eine fürchterliche Erregung geraten, hätte auf jedes weitere Wort verzichtet und ihn mit Schimpf und Schande weggejagt. Aber an Bartleby war etwas, was mich nicht nur auf seltsame Weise entwaffnete, sondern mich auch wunderlich berührte und verwirrte.“


    Seltsam ist die Figur des Kopisten, der das Büro nicht mehr verlässt, sich dort einnistet, sogar die Nächte dort verbringt, der kaum isst, wenig schläft, dafür träumend aus dem Fenster blickt, das ihm nur als Ausblick die trostlose Mauer des Nachbarhauses bieten kann. Je weiter die Zeit fortschreitet, desto mehr Aufträge verweigert er, bis er am Ende sogar das Schreiben einstellt. Das Mitleid des Anwalts stößt an seine Grenzen, er fordert ihn auf, sein Büro zu verlassen. Er aber „zieht es vor, es nicht zu tun.“ Wie festgenagelt bleibt er dort sitzen, selbst nach mehreren Aufforderungen des Anwalts.


    „Was soll ich tun? Was müsste ich tun? Was, sagt mein Gewissen, müsste ich mit diesem Menschen oder vielmehr mit diesem Gespenst tun? Ihn loswerden muss ich. Gehen soll er. Aber wie? Du wirst ihn doch nicht hinauswerfen, den armen, bleichen untätigen Menschen – du wirst doch eine solche hilflose Kreatur nicht vor die Tür setzen. Du wirst dich doch nicht durch solch eine Grausamkeit entehren. Nein, das will ich nicht. So etwas kann ich nicht tun. Lieber möchte ich ihn hier leben und sterben lassen und seine sterblichen Reste in die Wand einmauern.“


    Der Anwalt zieht es vor, selbst auszuziehen, sich eine andere Arbeitsstätte zu suchen. Eine Entscheidung mit schicksalhaften Konsequenzen, denn die Nachmieter sind nicht so nachsichtig mit Bartleby und lassen ihn von der Polizei abführen.


    Anfangs war ich verwirrt über diese Figur, da mir seine Handlung oder vielmehr Untätigkeit nicht nachvollziehbar schien. Mit jeder weiteren Seite zeichnet sich dann aber doch ein kraftvolles, metaphorisch dichtes und überaus eindringliches Bild ab. Bartleby als Verweigerer, entsagt der Gesellschaft, der Realität, seinem Leben. Er hat die freie Entscheidung in einer ansonsten geregelten Gesellschaft für sich gefordert und ist letzten Endes daran gescheitert. Erinnert das nicht an Kafka und bspw. seinem "Hungerkünstler" oder Joseph K.?!


    Seine Freiheit endet in einer Sackgasse, das Gefängnis ist allgegenwärtig. Die Mauer vor dem Fenster, die Trennwand zwischen ihm und seinen Kollegen – die Mauer wird sogar vom Namen des Stadtteils getragen: „Wall“ Street. Durch die wiederkehrenden Verweise auf den mechanischen Ablauf des Alltags und seiner roboterhaften Menschen (sie werden z.B. als "Ameisen" bezeichnet, die in einer "Kolonne" ihren Dienst antreten) wird der Gegner - die geregelte und normierte Zivilisation - als übermächtig und omnipräsent dargestellt.
    Volle Punktezahl!


    "Ach, das Glück umwirbt das Licht, und so glauben wir, die Welt sei heiter, aber das Elend hält sich verborgen, und so meinen wir, es gebe keins."

  • Ich musste " Bartleby und "Billy Budd, sailor" von Melville im Studium lesen und habe nie so recht Zugang zu seinen Büchern gefunden. Im Hinblick auf diese Lektüre gilt für mich Bartlebys Motto: "I ´d prefer not to".... :shock:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Freiwillig habe ich mir "Moby Dick" angetan und es war schwere Arbeit für mich, mich da durch zu kämpfen. "Mardi und eine Reise dorthin" hatte ich mir dann später auch noch gekauft und entnervt nach 200 Seiten wieder in die Ecke geworfen. Auch wenn der Plot des Bartleby interessant klingt..... ich bin am Schwanken, ob ich es nicht doch noch einmal mit Melville versuchen will. Bartleby klingt einfach zu interessant. Doch nein, ich werde es doch lieber nicht tun, oder? :-k

    Wenn du einen verhungernden Hund aufliest und machst ihn satt, dann wird er dich nicht beissen. Das ist der Grundunterschied zwischen Hund und Mensch.
    Zitat: Mark Twain

  • Von Herman Melville kannte ich bislang nur „Moby Dick“, ein Mammutwerk, in dem der Ich-Erzähler jede Kleinigkeit bis ins Detail beschreibt und dem Leser alle Zusammenhänge nahe bringen möchte.
    Wie anders ist da „Bartleby, der Schreiber“! Es ist das erste Werk, das Melville direkt nach „Moby Dick“ schrieb, aber nicht vergleichbar; kaum zu glauben, dass beide Romane von der gleichen Person geschrieben wurden. Wer also „Moby Dick“ entnervt abgebrochen hat und dadurch Melville meidet, der sollte ihm mit „Bartleby“ nochmals eine Chance geben!

    Erinnert das nicht an Kafka und bspw. seinem "Hungerkünstler" oder Joseph K.?!

    Der Vergleich mit Kafka ist an dieser Stelle wirklich passend. Bartleby ist ein seltsames Erscheinen im Leben des Ich-Erzählers, dem Vorgesetzten Bartlebys. Wir erfahren nichts über Bartlebys Vorleben, seine Motivation, seine Gedanken. Der Leser erfährt nur das Offensichtliche: Bartlebys merkwürdiges, sich steigerndes Verhalten, Aufträge, höflich aber bestimmt, abzulehnen, dessen Haltung, nichts mehr zu wollen, nichts zu verbessern, keinen Widerstand zu leisten oder sonstwie am Leben teil zu haben. Bartleby steigt ganz konsequent aus dem Leben aus, und eben weil keine Erklärung angeboten wird, fand ich die Erzählung auch so grotesk, absurd. Zudem ist auch sein Arbeitgeber eine merkwürdige Figur, der überraschend viel Verständnis für Bartleby aufbringt, und die übrigen Büroangestellten sind ebenfalls mehrdeutige Figuren, die sich vormittags stets anders verhalten als am nachmittag.
    Für mich ist es eine überraschend beeindruckende Geschichte, die eine Menge Interpretationsmöglichkeiten bietet, aber dennoch leicht und unterhaltsam zu lesen war.


    Das amerikanische Original erschien 1853 unter dem Titel „Bartleby, the scrivener“