José Saramago - Eine Zeit ohne Tod / As Intermitências da Morte

  • „Am darauffolgenden Tag starb niemand.“ Mit diesem Satz beginnt José Saramago sein neuestes Gedankenexperiment. Was wäre, wenn nicht mehr gestorben wird? Die anfängliche Euphorie weicht schon bald den anstehenden Problemen und fordert Politik und Gesellschaft heraus, denn jede Sonnenseite hat auch eine Schattenseite, in diesem Fall sogar mehrere. Die Wirtschaft zeigt sich als erfinderisch, so bemühen sich Bestattungs- und Versicherungsunternehmen um ein neues Standbein, Krankenhäuser und Pflegeheime sind völlig überfordert, von der Politik werden Lösungen gefordert und auch die Kirche hat plötzlich akuten Erklärungsbedarf …


    Nach 7-monatiger Pause kehrt der Tod zurück. Mittels Schreiben an den Fernsehintendanten des Landes verkündet der Tod – in diesem Fall in weiblicher Gestalt namens „die tod“ - zurückzukehren und ab nun die Menschen eine Woche vor dem Ableben in Form eines Briefes auf violettem Papier vorzuwarnen, damit noch sämtliche Angelegenheiten auf Erden erledigt werden können. Doch auch diese Variante stößt die Menschen in Chaos und Angst.


    Gekonnt und gewohnt stilsicher – in verschachtelten Sätzen und ohne Redezeichen - manövriert Saramago den Leser in dieses namenlos bleibende Land ohne Tod, das beliebig jedes Land der sogenannten „zivilisierten Welt“ sein kann und wird nicht müde, seiner ironisch-zynischen, unerbittlichen Kritik an Politik, Bürokratie und an der „zivilisierten“ Gesellschaft insgesamt Luft zu machen und dem Leser einen Spiegel vorzuhalten.


    Eine großartige Idee wurde zu einem großartigen Buch verarbeitet, das zwar etwas schwerfällig zu lesen ist, dessen Lektüre aber unbedingt lohnt!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Wow, das hört sich toll an, vielen Dank für deine Rezension!


    Mich hat schon "Die Stadt der Blinden" total begeistert und dieses Buch ist auf jeden Fall wieder etwas für mich! Diese, wie du es so schön ausgedrückt hast, Gedankenexperimente faszinieren mich einfach und dieses Buch wird definitiv zu meinen nächsten Neuanschaffungen gehören!


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Das Buch hört sich sehr interessant an.
    Allerdings werde ich wohl mit der Struktur Probleme haben.
    Wenn es mir mal über den WEg läuft, wewrfe ich einen Blick hinein, wie es sich Verhält.


    Danke

    Im Leben kann man auf vieles verzichten. Außer auf Katzen und Bücher!


    :study: Der Drachenbeithron von Tad Williams
    :musik: Die Bücherdiebin von Markus Zusak


    mb-db

  • Schön, dass ich euch Lust auf das Buch gemacht habe!



    Allerdings werde ich wohl mit der Struktur Probleme haben.


    Ich nehme an, Du meinst die "saramag'sche Erzählweise". Ich weiß nicht, ob Du schon ein Buch von Saramago gelesen hast, sie ist auf jeden FAll gewöhnungsbedürftig. Er verwendet kaum Satzzeichen, die direkte Rede fließt überhaupt ineinander. Außerdem sind seine Sätze oft ellenlang verschachtelt. Das Lesen erfordert jedenfalls vollste Konzentration.


    @ganeseblumche: ich denke, das Buch könnte Dir gefallen! Saramago spinnt Gedankenfäden und es bleibt dem Leser überlassen, diese weiterzuspinnen. Seine beschriebenen Konsequenzen sind alle nachvollziehbar und logisch, sowohl auf jeden Einzelnen aber vielmehr auf die Gesellschaft. Schonungslos und ohne erhobenen Zeigefinger (aber meist mit ironischen Unterton) zeigt er Schwachstellen und vermeintliche Stärken auf, so manche Gewissensfrage (Sterbehilfe,...) wird in den Raum gestellt und bleibt es dem Leser überlassen, diese (für sich) zu beantworten.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • so manche Gewissensfrage (Sterbehilfe,...) wird in den Raum gestellt und bleibt es dem Leser überlassen, diese (für sich) zu beantworten.


    Dann ist dieses Buch definitiv etwas für mich! :thumright:


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Danke für die Rezi! Nachdem ich die Bücher von Saramago schon diverse Male in der Hand hatte, aber mich irgendwie doch nie dafür entscheiden konnte, hast du mir richtig Lust darauf gemacht, und ich habe jetzt "Eine Zeit ohne Tod" auf meinen Wunschzettel gepackt ;) .
    Ich mag solche ausgefallene Geschichten und Gedankenexperimente. :)

    "Ein Raum ohne Bücher ist wie ein Körper ohne Seele." - Marcus Tullius Cicero
    :study: Tad Williams - Die Hexenholzkrone 2

  • Der Tod hat seine Arbeit eingestellt! Auf den ersten Blick ein Grund zur Freude, wenn plötzlich niemand mehr stirbt - doch es bedeutet auch, dass Menschen, die im Sterben liegen, nicht einfach die Augen schließen dürfen, sondern auf unbestimmte Zeit in diesem Zustand zwischen Leben und Tod gefangen bleiben. Es bedeutet, dass Bestatter und Totengräber arbeitslos werden, dass Krankenhäuser und Altenheime völlig überfüllt sind, dass Überbevölkerung droht, die das Rentensystem an den Rand des Zusammenbruchs bringen wird, dass Familien verzweifelt mit ansehen, wie jemand ohne Hoffnung auf Erlösung auf dem Sterbebett liegt.


    Die Politik ist ratlos, die Presse spekuliert, die Kirche sieht sich mit dem Verlust ihrer Existenzberechtigung konfrontiert, denn ohne Tod kein ewiges Leben. Währenddessen gründen findige Köpfe eine Gruppierung, die Menschen zum Sterben außer Landes bringt, denn dort waltet Gevatter Tod nach wie vor seines Amtes. Daraus entwickelt sich eine mächtige verbrecherische Organisation, die bald das ganze Land im Würgegriff hat, die öffentliche Ordnung, das Leben, wie man es kannte, ist völlig auf den Kopf gestellt.


    Wieder entwickelt Saramago ein faszinierendes "Was wäre wenn"-Szenario, in dem ein ganzes Land durch ein plötzliches Ereignis vollkommen aus der Bahn geworfen wird und sich auf einmal im Angesicht von Gegebenheiten wiederfindet, die eigentlich gar nicht möglich sind. Es gibt kaum echte Protagonisten, nur namenlose Figuren, auf die er hier und da Schlaglichter wirft, bis die Geschichte kippt und bestimmte Gestalten in den Mittelpunkt rücken (doch mehr möchte ich jetzt nicht verraten).


    Sprachlich bietet Saramago wieder sein ganzes typisches Stilarsenal auf: ewig lange Bandwurmsätze, wenig Absätze, keine wörtliche Rede, viele Schauplatzwechsel. Die Übersicht ging trotzdem nie verloren, weil das Geschehen zeitlich linear erzählt wird. Ab und zu schaut er sich selbst beim Schreiben über die Schulter und spricht den Leser direkt an. Doch auch ohne dieses direkte Einbezogenwerden hätte mich das Buch unglaublich gefesselt. Für mich hat sich Saramago hier selbst übertroffen. Packend waren seine Themen schon immer, doch hier schreibt er auch besonders lebendig und flüssig. Großartige Lektüre.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Nach über 3 Monaten habe ich das Buch letzte Woche beendet. Der Schreibstil war für mich ziemlich gewöhnungsbedürftig und anstrengend, deswegen hat es sich sehr gezogen. Oft war ich einfach nicht in der Stimmung oder überhaupt Verfassung der Geschichte zu folgen oder folgen zu wollen. Aber jetzt habe ich es endlich beendet und muss sagen, dass es sich wirklich gelohnt hat. Das Gedankenkonstrukt des Autors hat mich sehr beeindruckt und so bin ich auch ständig abgeschwiffen, indem ich seine Gedanken weitergesponnen habe oder mir weitere Fragen nicht aus dem Kopf wollten. Dann musste ich das Buch erstmal weglegen und die Handlung sacken lassen. Auch das ist ein Grund für die sehr lange Lesezeit. Aber letztendlich hat mich der Autor sehr beeindruckt und ziemlich sprachlos zurückgelassen. Es war sehr anstrengend, aber nicht weniger lohnend! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: :pray:

    Viele Grüße
    Aventurin


    :study:Rebecca Gablé - Hiobs Brüder


    SuB: 92 / Gelesen 2016: 7

  • Ich bin auch ein grosser Fan von Saramago und seinem unverwechselbaren Schreibstil. Seine ellenlangen Sätze und das Einbinden der Dialoge im Satz ohne sonderlichen Anführungszeichen sind zwar gewöhnungsbedürftig, aber führen dann auch zu einem besonderen Leserhythmus.


    Die Ironie, oder eigentlich schon zynische Kritik an Kirche, Versicherungsunternehmen, ja, eigentlich an der ganzen Gesellschaft, hat mir schon Spass gemacht. Es scheint mir eines seiner "lustigsten" Romane zu sein.

    Dennoch muss ich sagen, dass irgendwann der Witz aber auch überstrapaziert wurde. Was anfangs noch ausgefallen und unterhaltsam war, fand ich im letzten Drittel dann mühsam und "ausgelutscht". Zumal gerade im letzten Drittel mit einem "unzustellbaren Brief" dann auch noch eine Komponente hinzukam, mit der ich so gar nichts anfangen konnte.

    Insofern ganz amüsant, wie immer ein begnadeter Schreibstil, aber nach einem starken Anfang fand ich es gegen Ende hin enttäuschend.

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „José Saramago - Eine Zeit ohne Tod/As Intermitências da Morte“ zu „José Saramago - Eine Zeit ohne Tod / As Intermitências da Morte“ geändert.